Im Namen des Kindes. Martina Leibovici-Muhlberger
Richtige für uns alle entschieden habt – auch wenn ich das jetzt gar nicht so sehen kann – und dass ich euch beide ganz rasend lieb habe und brauche, damit ich mich in dieser schwierigen Zeit zurechtfinden kann und irgendwann dann vielleicht wirklich feststellen kann, dass jetzt alles besser geworden ist.
Dass ich euch jetzt ganz stark brauche und auch Merlin unbedingt bei mir im Bett schlafen muss, ist euch ja klar, denn ihr, Papa und Mama, habt mir ja beide schon gesagt, dass ihr mich ganz toll lieb habt und immer für mich da sein wollt. Auch wenn ihr einander also nicht mehr lieb habt, so habt ihr mich doch noch genauso lieb wie vor der Zeit, als euch das mit der Scheidung eingefallen ist. Nur habt ihr mich eben nicht mehr zusammen lieb, sondern getrennt, jeder für sich.
Das ist schon etwas kompliziert, das müsst ihr doch zugeben. Und das, so glaube ich, muss ich erst erleben, dass das nämlich auch klappt und sich nach richtigem Liebgehabtwerden anfühlt. Aber vielleicht sind ja Kinder auch sehr kompliziert und nicht ganz einfach für ihre Eltern zu verstehen. Ich mach mir nämlich ziemlich Sorgen, ob die ganze Sache mit der Scheidung nicht meine Schuld ist. Papa hat schon oft gesagt, dass ich ihm den letzten Nerv ziehe, und oft habt ihr wegen mir gestritten, weil ihr euch nicht einigen konntet, was richtig für mich ist.
Auf der anderen Seite habe ich echt Angst, dass ihr gar nicht sehen könnt, wie sehr ich euch beide brauche und mit jedem von euch zusammen sein will. Frederick hat mir erzählt, dass er seinen Papa jetzt fast nicht mehr sieht, seit seine Eltern geschieden sind, und seine Mutter dauernd über ihn schimpft. Das macht Frederick ganz stark traurig, und manchmal macht er sich jetzt in die Hose. Seine Mutter hat gemeint, dass sein Vater an allem schuld sei und sie Frederick mit ihm nicht mehr zusammenlassen werde. Sie hat seinen Vater auch einen »Idioten« genannt, obwohl Frederick solche Worte nicht sagen darf, ohne dass seine Mutter auf ihn sehr böse wird. Frederick tut das ganz stark in seinem Herzen weh; er liebt doch seinen Vater genauso stark wie seine Mutter – aber er hat aufgehört, das zu sagen.
Ich möchte nicht, dass es mir wie Frederick ergeht. Ich fürchte, dass Mamas und Papas manchmal ihre Interessen – das ist doch das Wort für die Dinge, von denen die Erwachsenen überzeugt sind, dass sie richtig sind – und die Bedürfnisse ihrer Kinder nicht auseinander halten können. So als wäre das ein und dasselbe – aber das habe ich ja schon zu erklären versucht, dass das gar nicht so ist.
Damit das nicht geschieht, dass Mamas oder Papas meinen, der andere wäre »nicht gut« für das Kind, weil sie so gekränkt voneinander sind – Konfluenz nennen sie das in der Fachsprache -, ist dieser Text geschrieben worden. Hier erzählen wir Kinder, zum Teil in unseren eigenen Worten, wie wir erleben, was mit uns geschieht, und was wir brauchen. Zum Teil erzählen wir es so, wie wir es sagen würden, wenn wir schon Worte hätten. Denn die Jüngsten von uns können sich nur über ihr Verhalten ausdrücken.
Den aggressiven Alexander werdet ihr treffen, dem seine Eltern vermitteln wollten, dass ihre Scheidung super sei, und die dabei die ganze Zeit totale Schuldgefühle haben. Wie soll denn da ein Kind nicht verwirrt werden und das dann noch ernst nehmen?
Dann sind da noch Julia, die immer so vernünftig war und dabei ganz dick geworden ist, Georg, der gemeint hat mit Beten seine Eltern wieder zusammenzubringen, und der dann später, als sie nach der Scheidung noch immer ganz irre gestritten haben, aufhören wollte an den lieben Gott zu glauben. Thomas, der das dann auch getan hat, Bettina, die etwas ganz Schlimmes gemacht hat, und Miriam, die ganz klein ist, aber ihren Papa ganz toll lieb hat, weil ihre Eltern das super eingefädelt haben. Und Manuela, Dominique und noch viele andere mehr, deren Geschichte in der einen oder anderen Form vorkommt.
Schließlich kommen noch ein paar richtige Erwachsene vor, wie Roman, dessen Mutter einfach davongelaufen ist, oder Claudia, die auch eine ziemlich komplizierte Geschichte erlebt hat, obwohl bei ihr äußerlich immer alles so gut ausgesehen hat. Sie erzählen heute als Erwachsene, wie sie als Kinder die Scheidung ihrer Eltern erlebt haben, und sie meinen, dass es sehr wichtig ist, bei einer Scheidung zu bedenken, wie es Kindern dabei geht, was sie wirklich brauchen und wie Kinder beide Eltern behalten können. Sie wollen nämlich, dass es für andere Kinder besser klappt als bei ihnen und sie dann nicht als Erwachsene noch immer in ihren eigenen Überzeugungen davon beeinträchtigt sind oder eine Therapie machen müssen.
Dieser Text, liebe Mama, lieber Papa, soll euch also mit unseren Kinderaugen durch eure Scheidung führen, damit ihr unseren Blickwinkel besser verstehen lernt. Beginnend damit, wie ihr es uns sagt, und bis dorthin führend, wo wir eine Patchworkfamilie werden könnten. Wenn ihr euch auf den Boden setzt, bekommt die Welt ja auch eine ganz andere Perspektive und es fallen euch andere Dinge auf, als wenn ihr von oben nach unten blickt. Mama hat zum Beispiel das Kaugummi, das ich unter den Küchentisch geklebt habe, auf diese Art gefunden – und Papa meine große blaue Murmel, die unter die Couch gerollt war.
So ähnlich ist dieser Text gemeint. Darum ist er auch nicht in dieser wissenschaftlichen Sprache abgefasst, aber natürlich doch in einer Erwachsenensprache, damit er euch in eurem Verständnis entgegenkommt. Wirklich wichtig sind die Stellen, wo die Kinder zu Wort kommen. Lest weniger mit dem Kopf als mit dem Herzen, auch wenn euch das seltsam vorkommen mag. Wenn ihr das so macht, bin ich ganz sicher, dass ihr verstehen werdet, dass Papa unbedingt mein allerliebster Drachenbau-Papa bleiben muss und Mama meine allerwichtigste Zu-Bett-geh-Geschichten-Mama, und dass ich euch beide ganz lieb habe und brauche und ihr einen Weg finden müsst, um einander als Eltern zu respektieren und das, wie ihr Erwachsenen sagen würdet, »kooperativ« zu leben.
1.
»Was, du bist noch nicht geschieden?«
Warum wir als Gesellschaft hier angekommen sind
Warum finden sich Menschen eigentlich und gießen dann auch noch diese Beziehungen in die Form einer Ehe? Was ist der ursächliche, begründende Driver für die Paarbeziehung?
Die Liebe natürlich, das weiß doch jedes Kind, wird die leicht genervte Antwort eines jeden auf diese unnötig anmutende Frage sein. Die Liebe als existenzbegründendes Ingrediens eines Paares steht außer Zweifel, ja bekleidet sogar den Status der Ausschließlichkeit, denn wer aus anderen Motiven denn der reinen Liebe eine Beziehung oder gar eine Ehe eingeht, gilt landläufig als moralisch äußerst zweifelhafter Charakter.
Diese Ideologie trägt heute den Wesenszug einer unantastbaren Kulturvariablen, ist tief in unserem gängigen Selbstverständnis verankert und wird mit allen Stilmitteln der Kunst von Hollywood bis Bollywood zum Teil bis in die Groteske hinein bedient.
So selbstverständlich, ja »natürlich« uns dieses auf der romantischen Anziehung zwischen zwei Menschen beruhende Konzept heute erscheint, so vergleichsweise neu ist es, betrachtet man den Gesamtzeitraum, seit unsere Spezies die Paarbildung erfunden hat.
Das will allerdings nicht sagen, dass Liebe zwischen Mann und Frau früher nicht existiert hätte, die Weltliteratur ist voll von berührenden wie tragischen Liebespaaren, deren Geschichten uns noch heute anzurühren wissen. Hier soll nur verdeutlicht werden, dass ursprünglich anderen Faktoren als der Liebe der Rang einer ursächlichen Begründung für eine dauerhafte Beziehung zwischen Mann und Frau zukam.
Geheiratet wurde lange Zeit, ausgehend vom festgesteckten gesellschaftlichen Segment, dem man durch die Geburt angehörte, nach Rang- und Positionsüberlegungen und wirtschaftlicher Günstigkeit. Geliebt wurde unter Umständen woanders.
Die Ehe war »Funktionsmittel« des Auftrags »wachset und vermehret euch«. Achtung und Respekt der Ehegatten voreinander, einhergehend mit einer klaren Rollenbefüllung und Rollenaufteilung, Ausdruck einer »positiven Betriebskultur« auf diesem Weg und Liebe zwischen den Eheleuten, waren zwar für den Alltag förderlich, aber nicht notwendig – und schon gar nicht ehebegründend. Aus Liebe allein zu heiraten, wäre absurd gewesen und hat, auch hiervon gibt die Weltliteratur eindrucksvoll Zeugnis ab, sofort besorgte Eltern und Abwehr auf den Plan gerufen. Für eine Welt, in der der Einzelne sein Selbstbild zum überwiegenden Teil aus der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft und nicht in erster Linie aus sich selber schöpft, in der der Geburtsrang der jeweiligen Gesellschaftsschicht und zum Beispiel die Zugehörigkeit zu einer speziellen Handwerkerzunft Selbstgefühl und Identität des Menschen bestimmen