Im Namen des Kindes. Martina Leibovici-Muhlberger

Im Namen des Kindes - Martina  Leibovici-Muhlberger


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Berufsleben, sitzt mir da gegenüber. Von Kollegen und Freunden wird Claudia hoch geschätzt. Sie ist einfühlsam, belastbar, zuverlässig und hat stets einen aufmunternden Scherz, auch unter höchster Arbeitsanforderung, parat. Sie ist mehr als eine faire Kollegin – und eine Prachtfrau, wenn man die gängigen optischen Maßstäbe anlegen will, noch dazu.

      Dass um Claudia also eine Schar junger Männer zirkuliert, ist für jeden nahe liegend, und dass sich da scheinbar nie etwas Längeres entwickelt, verorten die meisten darin, dass eine Frau wie Claudia eben die Qual der Wahl hat. Keiner ihrer Kollegen oder Freunde würde den Grund vermuten, warum Claudia mich zur Therapie aufsucht: Claudia gelingt es nicht, eine stabile Beziehung zu einem Mann aufzubauen.

      Anfangs läuft es immer sehr gut, ein Feuerwerk an Sinnlichkeit und Euphorie begleitet die ersten Wochen, doch schon bald stellen sich – aus, wie ihr bewusst ist, nichtigen Gründen – härteste Zweifel an der Beziehung und ein nagendes Misstrauen dem Partner gegenüber ein. In der Folge fühlt sie sich zu unkontrollierten, scharfen Auseinandersetzungen angetrieben und bespitzelt ihre Partner in dieser sehr frühen Beziehungsphase, um sich so »Gewissheit« zu verschaffen.

       »Solange mir ein Typ egal ist, gibt es überhaupt kein Problem für mich«, beschreibt sie das sich immer wiederholende Muster, »aber in dem Moment, in dem ich realisiere, dass er mir etwas bedeutet, legt sich ein Schalter um. Ich bin dann wie besessen von dem Gedanken, dass er mich betrügen könnte, muss ständig an ihn denken und mir die schrecklichsten Dinge vorstellen ...«

      Kein Wunder also, dass Claudia, von ihren Ängsten gequält, meint, sich wider ihr besseres Wissen beständig »Klarheit« verschaffen zu müssen, damit allerdings gleichzeitig der noch jungen Beziehung das Grab schaufelt.

      Claudia ist mit ihrer Mutter, einer sehr verhärmten und verbitterten Frau, wie sie sie beschreibt, aufgewachsen. Die Ehe der Eltern wurde geschieden, als Claudia acht Jahre alt war. Dem vorausgegangen war eine intensive Periode elterlichen Konflikts. Claudia kann sich nicht erinnern, ihre Eltern anders als in feindlicher Anspannung zueinander erlebt zu haben. Der Vater hatte die Mutter mehrere Male betrogen. Als besonders unangenehm erinnert Claudia Szenen, in denen ihre Mutter sie antreten ließ, um dann den Vater vor ihr wegen seiner Verfehlungen zu beschimpfen. In diesen erzwungenen Situationen von Zeugenschaft habe sie sich völlig orientierungslos gefühlt und gewünscht, sich verstecken zu können.

      Nach der Scheidung, die Claudias Vater schließlich anstrebte, gestaltet sich die Beziehung zu ihrem Vater, mit dem sie sehr warme, liebevolle Erinnerungen aus ihrer frühen Kindheit verbinden, äußerst belastet. Wenn sie zur Mutter heimkommt, wird sie hochnotpeinlich befragt, wobei alles, was sie von gemeinsamen Erlebnissen mit dem Vater erzählt, abgewertet wird. Claudias Vater heiratet ein paar Jahre später ein zweites Mal, Claudias Mutter baut ein sehr zurückgezogenes, auf die Betreuung ihrer Tochter ausgerichtetes Leben auf.

      »Mama hat nie mehr jemanden an sich herangelassen«, beschreibt Claudia die Situation des Zusammenlebens mit ihrer Mutter. »Da war so eine grundsätzliche Schwere, es gab nur sie und mich, und alles war immer irgendwie negativ, egal, ob es das Wetter war, die Nachbarn oder was so in der Welt passierte«, ist das atmosphärische Stimmungsbild nach der Scheidung der Eltern.

      Claudia, deren weiterer Kontakt zu ihrem Vater nach seiner neuerlichen Eheschließung von der Mutter erfolgreich unterlaufen wird, versucht in dieser symbiotischen Konstruktion über hervorragende Schulleistungen der Mutter Freude zu bereiten. Sie durchläuft eine unspektakuläre Pubertät und hat kaum Interesse, von der Seite ihrer Mutter zu weichen, um sich dann mit Studienbeginn, »in die Realität geworfen«, wie sie es nennt, wiederzufinden. Trotz massiver Schuldgefühle der Mutter gegenüber, die die Verselbstständigung der Tochter nun intensiv bekämpft, ihr nachspioniert und sie mit Vorwürfen überschüttet, gelingt es ihr, wenn auch von einem nachfolgenden jahrelangen Bruch mit der Mutter begleitet, ihre Unabhängigkeit zu erlangen.

      Nicht verwunderlich, dass in diese Periode auch ihre neuerliche Kontaktaufnahme mit dem Vater fällt, und ebenfalls nicht verwunderlich, dass sie von der Begegnung mit ihm enttäuscht ist. »Irgendwie konnte ich ihm nicht verzeihen, dass er nicht um den Kontakt zu mir gekämpft hat, als meine Mutter sein Besuchsrecht unterlaufen hat. Sie hat da ja wahrscheinlich auch ganz recht damit, dass er unzuverlässig ist«, fasst sie es zusammen.

      Roman kann anfänglich nur in Begleitung seine Therapietermine wahrnehmen. Gehäufte Panikattacken, Schlaflosigkeit, Zwangsgedanken, ein allgemeines Gefühl, dem Leben nicht mehr gewachsen zu sein, und zunehmend aufkeimende Sinnlosigkeit haben den 37-jährigen Spritzgusstechniker, der bei allen im Unternehmen als Fels in der Brandung gegolten hat und ob seines enormen Engagements als Betriebsrat von jedem geschätzt wird, in den letzten drei Monaten bedrohlich ausgehöhlt.

      Jetzt ist er seit drei Wochen mit der Diagnose Burn-out im Krankenstand, doch sein Zustand hat sich seitdem nicht gebessert. Als einzig positiven Aspekt, den er mit einem verunglückten Grinsen anbringt, führt er die Tatsache an, keine Frau und Familie zu haben, die er erhalten müsste. »Wenigstens in dieser Richtung kein zusätzlicher Druck«, meint er.

      In der Exploration der dem akuten Ereignis vorausgegangenen Lebensperiode benennt er drei Ereignisse, die ihm, wie er es ausdrückt, »den Rest gegeben haben«. Angefangen habe es mit dem Diebstahl seines Autos und der von ihm erlebten Tatenlosigkeit der Polizei vor knapp neun Monaten. Danach wäre eine Rauferei mit drei Betrunkenen in einem Tanzlokal, in die er schuldlos verstrickt wurde, gekommen – und die Tatsache, zu einer Polizeieinvernahme vorgeladen zu werden, in der er sich schlecht behandelt fühlte. Das Fass zum Überlaufen habe dann noch ein Einbruchsversuch in seiner Wohnung gebracht. Der Dieb richtete beträchtlichen Sachschaden an, wurde aber scheinbar gestört und ließ die bereits für den Abtransport zusammengestellten Wertgegenstände zurück, nicht ohne noch zuvor eine Flasche Cola über die elektronischen Geräte zu gießen und diese damit zu zerstören.

      Zugegeben, eine unangenehme Häufung von herausfordernden Lebenssituationen, Situationen, in denen dem Gerechtigkeitssinn die lange Nase gedreht wird. Aber Grund für einen totalen Zusammenbruch, wie ihn Roman erlebte? Und Roman spricht in seiner Darstellung von drei Ereignissen, die ihm »den Rest« gegeben hätten, was auf eine vorbestehende Dis-Balance unter seiner scheinbar so gefügten Lebenskruste hinweist.

      Roman ist der Älteste von drei Geschwistern. Seine Mutter verließ die Familie Knall auf Fall, als er neun Jahre alt war – ließ ihn und die beiden jüngeren Schwestern beim Vater zurück. Das Verschwinden der Mutter erinnert er als den Tag, an dem er von der Schule heimkam und das Haus seltsam leer erlebte. Erst abends klärte der Vater die Kinder über den Sachverhalt auf und darüber, dass die Mutter zu ihrer Schwester nach Sydney gezogen wäre und nicht mehr zurückkommen würde.

       »Damals ist etwas in mir zerrissen«, beschreibt er die Situation, »ich fühlte mich total starr, völlig orientierungslos, als würde die Magnetnadel eines Kompasses wie wild kreisen, ohne ihre richtige Position zu finden – und gleichzeitig begann ich mir den Kopf zu zermartern, was ich falsch gemacht haben könnte. Ich war kein besonders interessierter Schüler und lernte eher schwer, und ich habe öfter mal meine kleinen Schwestern geneckt.«

       Romans Vater schweigt wie vorher in der Ehe auch jetzt. Roman kann sich nicht erinnern, seine Eltern je in einer Auseinandersetzung erlebt zu haben. »Es war, als wäre meine Mutter gestorben und als existierte ein unausgesprochenes Tabu, darüber zu sprechen.«

      Ein neuer Lebensalltag etabliert sich. Eine Nachbarin wird vom Vater bezahlt, um zu kochen und die Wäsche zu übernehmen. Der Vater zieht sich jenseits seiner beruflichen Tätigkeit zunehmend in ein stilles Trinkertum zurück, das ihn nach Romans Empfinden unerreichbar macht. Roman wird zum Hauptansprechpartner seiner kleinen Schwestern, einer, der ihren Kinderalltag organisiert, für ihre Fragen und Probleme zuständig ist, sie später in der Pubertät zuführen versucht – ständig belastet mit dem Gefühl, es nicht gut genug zu machen. Erfühlt sich ohnmächtig, allein und ausgeliefert. Nach außen imponiert die Familie als unauffällig. Der Vater erleidet Mitte 50 einen schweren Schlaganfall


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