Im Namen des Kindes. Martina Leibovici-Muhlberger

Im Namen des Kindes - Martina  Leibovici-Muhlberger


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in diesem Gesellschaftsentwurf störend, ja könnte sogar gefährliche Unruhe und Aufmischung einer als »gottgewollten Ordnung« erlebten Gesellschaftskonstruktion bedeuten.

      Dies ändert sich erst, als das Ich und damit eine mehr individualisierte Selbstwahrnehmung des Einzelnen in den Vordergrund zu treten vermag. Der einzelne Mensch beginnt sein Selbstbild und damit einen verbindlichen Verhaltenskodex zunehmend nicht mehr aus seiner Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Schicht oder Berufsgruppenzugehörigkeit zu beziehen, sondern aus der eigenen Individualität. Das eigene Sein speist sich aus der Quelle der Ich-Wahrnehmung und die damit verbundenen Lebensentscheidungen werden nicht mehr im Spiegel vordefinierter, verbindlicher Verhaltensnormen von Bezugsgruppen getätigt, sondern finden Begründung im eigenen Wollen und im Spiegel der Selbstevaluation der persönlichen Möglichkeiten. Damit betritt auch die Liebe schön langsam, beginnend in intellektuellen Kreisen, in damals revolutionärer Form als allein beziehungsbegründend die Ehebühne. Das romantische Ideal greift um sich und hat bis heute ungebrochene Gültigkeit.

      Aber wo stehen wir als Gesellschaft heute wirklich? Institutionen wie auch die Ehe müssen nüchtern betrachtet als gesellschaftliche Antworten auf spezifische Problemstellungen gesehen werden, wie das der bedeutende Soziologe Niklas Luhmann schon vor mehreren Jahrzehnten erstmals schlüssig ausgeführt hat.6 Die Ehe hat damit im strengen Sinn eine Transformation von einer wirtschaftlichen Besicherungseinheit (als Lösung für das wirtschaftliche Überleben des Einzelnen und Erhöhung des Aufzuchterfolgs für Nachkommen) hin zu einer die emotionalen Bedürfnisse der beiden Partner besichernden Einheit (emotionale Bestätigung durch ein sicher verfügbares Gegenüber) vollzogen.

      Wie steht es heute, angesichts derartig hoher Scheidungsraten allerdings damit? Vermag die Ehe die in sie gesetzten Erwartungen noch zu erfüllen? Der Wunsch nach einer dauerhaften Verbindung, vertieft man sich zum Beispiel in die letzte Jugend-Wertestudie,7 findet sich auch bei der jungen Generation heute wieder. Ehe und Familie haben hohen Sehnsuchtswert.

      Und dennoch hat sich einiges geändert. Hinterfragt man genauer, wie auch wir dies in einer von unserem Institut geleiteten Umfrage unter jungen Menschen gerade vergangenes Jahr wieder getan haben,8 so wird auffällig, dass zwar der Wunsch nach Ehe und Familie ungebrochen besteht, ja vielleicht als »Naturvariable« angesehen werden kann, dass aber der Glaube an eine Realisierung als dauerhaftes Beziehungsmodell deutliche Einbußen zu verzeichnen hat. Zu viel Enttäuschung des romantischen Ideals kursiert in der Umgebung und füllt die Seiten von Lebenstagebüchern.

      Parallel und kontrovers wirkend zu dieser eher pessimistischen Sicht betreffend Dauerhaftigkeit des angestrebten Beziehungsmodells existiert eine fast traumhaft anmutende inhaltliche Befüllung des romantischen Ideals. Es mutet an, als wäre in einer zunehmend fragmentierten Welt, die dem Einzelnen zwar noch nie dagewesene Freiheit in der Entwicklung eines hochindividualisierten Selbstentwurfs zubilligt, ihm aber andererseits damit einhergehend auch die volle Wahlverantwortung für das Gelingen aufbürdet, die Zweierbeziehung der letzte, einzige Rückzugsort, an dem man Geborgenheit tanken und Selbstbestätigung über den Beziehungspartner bzw. die Beziehungspartnerin erlangen kann. Die das Paar verbindende Liebe schafft ein Erleben von persönlicher Totalität, einer eigenen, das individuelle Paar begründenden Realität, einer Insel im Meer von umgebender Unsicherheit.

      Denn »nix is fix« in einer von pluralistischen Wertevorstellungen bevölkerten und von traditionellen Normen zunehmend entkleideten Gesellschaft. Der Einzelmensch als höchst individuelles Wesen muss sich ständig selbst definieren und begründen. Bezugsgruppen und Arbeitsplätze wechseln, ja sogar die eigene Stammfamilie bietet, oftmals bereits durch Scheidung in der Elterngeneration ihrerseits aufgesplittert und durch hohe Mobilitätsansprüche bisweilen auch unmittelbar schlecht erreichbar, kein stabiles Fundament mehr. Es scheint so, als wäre die Paarbeziehung der letzte Zufluchtsort für die Beglaubigung der eigenen Individualität.

      Damit einhergehend ist jene inhaltliche Erwartungsüberfrachtung zu sehen, die mir auch dieses Jahr anlässlich eines Seminars mit jungen High Potentials zum Thema »Beziehungen der Zukunft«, das ich gemeinsam mit der deutschen Soziologieprofessorin Cornelia Koppetsch in Alpbach halten durfte, entgegenschlug.9 Partnerschaft soll heute nicht nur unsere wirtschaftlichen Interessen und Wünsche nach Sicherheit und Wohlstand erfüllen können, sondern auch unsere emotionalen nach Zuwendung, Geborgenheit, Treue, Verständnis, Freundschaft – und so weiter, denn der Katalog der Ansprüche ist lang.

      Mit unserem Traumpartner bzw. unserer Traumpartnerin wollen wir täglich neuen aufregenden Sex und tolle Reisen erleben, und außerdem unsere Hobbys leben können; er bzw. sie soll in seinen bzw. ihren politischen Ansichten so ticken wie wir, von denselben Menschen fasziniert sein und sich für dieselben Filme begeistern wie wir. Außerdem natürlich gestylt und nicht zu weit vom Attraktivitätsideal entfernt sein, wenn man es sich aussuchen kann. Kurzum, er bzw. sie soll ein Gegenüber sein, das alle unsere Sehnsüchte und Wünsche zu erfüllen versteht und beständig, am besten 24 Stunden am Tag, mit einem strahlenden Lächeln bereit ist, allumfassende Liebe zu mir und meine Einzigartigkeit zu bestätigen; er bzw. sie soll mich also glücklich machen.

      Bei näherer Betrachtung erweist sich dieses Konzept allerdings als sehr störanfällig, und abgesehen von der »Honeymoon Time« als wenig alltagstauglich. Da hilft es nicht, wenn mühselig Erspartes in überdimensionale, von »Wedding Plannern« zu Staatsempfängen hochstilisierte Hochzeitsfeste gesteckt wird, um den »schönsten Tag im Leben« zum unvergesslichen Moment im Sinne erfolgreichen Eventmanagements zu machen. Die Enttäuschung ist bitter, wenn im Zuge der Realanforderungen diese eigentlich hinter allem stehende Sehnsucht nach Aufmerksamkeit vom Gegenüber nicht mehr ausreichend erfüllt wird, und es nimmt nicht Wunder, dass dies häufig mit dem Auftreten von Kindern in der Paarbeziehung seinen Anfang nimmt. Aus jahrzehntelanger Praxis kenne ich die Klagen und Anwürfe in der Aufarbeitung der nachfolgenden, als unausweichlich erlebten Beziehungsaufkündigung:

      »Er hat mich mit dem Kind überhaupt nur mehr alleine gelassen.«

      »Er hat einfach sein eigenes Leben weitergelebt.«

      »Sie hat nur mehr das Kind gesehen und für mich keine Energie gehabt.«

      »Wir haben keinen aufregenden Sex mehr gehabt.«

      »Meine Interessen waren überhaupt nicht mehr wichtig.«

      »Ich fühlte mich total betrogen; ich habe es mir ganz anders vorgestellt, Familie zu sein.«

      Die Liste der Enttäuschungen ist beliebig lang fortsetzbar, der Weg von Entfremdung, »Entliebung«, Bitterkeit, dem Gefühl, betrogen worden zu sein, Abwendung und nachfolgender Neuorientierung ist vorgezeichnet, wenngleich er unterschiedliche persönliche Geschichten schreibt.

      Gemeinsam ist allen der Sturz vom Olymp in den Hades, die Enttäuschung durch einen vormals zum Ideal stilisierten Menschen. Den wenigsten Menschen ist es, dank des zuvor skizzierten gesellschaftlichen Zerrbilds der Ehe, das beziehungs- und damit auch erwartungsbegründend wirkt, ohne entsprechende bewusste Auseinandersetzung möglich, die Überfrachtung und die damit verbundenen Stolpersteine für das tägliche Beziehungsleben zu erkennen.

      »Wir waren wie zwei untrainierte übergewichtige Seiltänzer, die man hinauf in die Zirkuskuppel geschickt hat, um einen Salto zu wagen. Unser Blick war vernebelt. Unser Absturz war programmiert. Jeder von uns hat den anderen als den Verantwortlichen für das eigene Glück gesehen, und als wir enttäuscht wurden, wollten wir unsere Kränkung aneinander rächen. Der Obsorgekrieg um unsere Kinder war das Spielfeld«, so drückte es einer meiner Klienten in später Selbsterkenntnis einmal aus.

      Das Scheitern des so sträflich überfrachteten romantischen Ideals führt in manchen Fällen – dort, wo das Ich besondere Bedürftigkeiten umfasst und zum Teil sogar existenzielle Abstützung im Gegenüber sucht – zu besonderer Bitterkeit, denn im persönlichen Erleben der Betroffenen handelt es sich um eine tief erlebte Entwertung. So wird es auch verständlich, dass gerade in diesen Fällen erbitterte Obsorgekriege oft den letzten zähen und jahrelangen Akt im Kampf um die Aufmerksamkeit und darum, Recht zu haben, bilden, um der tiefen narzisstischen Kränkung, die mit diesem Verlust des Lebensplans einhergeht, Raum zu bieten. Der vormals als ideal erlebte Partner bzw. die Partnerin


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