Im Namen des Kindes. Martina Leibovici-Muhlberger
extrem langen nachgeburtlichen Reifungsphase. Diese Entwicklung wiederum musste eine langfristige soziale Bindung, die Zuordnung eines bestimmten Weibchens zu einem bestimmten Männchen für lange Zeit, nach sich ziehen, da diese enorm betreuungsintensive, lange Periode nicht von der Mutter alleine bewerkstelligt werden kann. Das Paar und erste Bindung wurden erfunden und unser Siegeszug der Besiedelung begann. Zuerst ganz langsam, dann immer schneller. Man könnte hier, in dieser ersten langfristigen Verbindlichkeit, die Wurzel einer rudimentären Ehe sehen und auch den Beginn von Haltungen wie Verantwortungsbereitschaft, Kontinuität, Verbindlichkeit, Zuverlässigkeit, Anteilnahme, Unterstützung, Verteilungsgerechtigkeit im engeren Rahmen – die Ursprungskeime all dessen, was wir heute vielleicht unter Grundethik verstehen und was im Zusammenhang mit einem über die engen Grenzen des eigenen physischen Ego hinausreichenden Verhalten steht.
Wenn man so in die tiefsten Schichten unserer grauen Vorväter evolutionspsychologisch zurücktaucht, vermittelt dies vielleicht auf diese Art auch völlig ideologiefrei, nämlich rein auf seiner puren Entwicklungs- und Seinsgeschichte begründet, dass ein langfristiges, unverrückbares, bedingungsloses Bekenntnis zueinander eine sehr ursprüngliche, tiefe, überlebensbesichernde, gesellschaftsbesichernde und zukunftsbesichernde Funktion in sich trug.
Wie nimmt sich nun die Perspektive unseres Kindes in diesem Gemälde aus? Unser Kind liegt mit seinem unreifen kleinen Gehirn an der Brust seiner Mutter, ist im Tragetuch verstaut, wird von seinem Vater begutachtet, spielerisch geneckt oder unter seinem eigenen vergnügten Krähen in die Höhe gehalten. Dabei lernt es.
Lernen ist das, was ein Gehirn einfach nicht lassen kann. Dafür ist es gebaut. Ein in seiner vollen Funktionsfähigkeit handlungsanleitender, regelgenerierender und Orientierung spendender Apparat saugt einfach jedes mögliche Informationsbruchstück aus seiner Umgebung wie ein Staubsauger auf – und – wird dadurch geformt. Auch hierbei hat die Natur wiederum ihre Genialität bewiesen, indem gerade dieser Mechanismus eine ideale Anpassung an die jeweilige Umgebung und damit bestmögliche Gerüstetheit für die damit verbundenen zu erwartenden Anforderungen bietet. Ich brauche eben ein unterschiedliches Verhaltensrepertoire, um mich später in den Favelas von Rio oder in den Hamptons gut einfügen zu können.
Bricht man diese Lerneinheiten des jungen Kindes auf ihre »mikroskopischen Bestandteile« herunter, so geht es dabei um reziproke, koregulierte, affektive Kommunikationseinheiten zwischen dem Kind und seinen Bezugspersonen. Wir sprechen hier von einem beständigen kommunikativen Fluss, der sich aus der Betreuung und Beschäftigung mit dem Kind ergibt und zwischen den betreuenden Erwachsenen und dem Kind, das alles andere als passiv dabei ist, hin und her (also reziprok) läuft. Wir wissen, dass bereits junge Säuglinge diesen Kommunikationsfluss ihrerseits initiieren, mitbestimmen und mitformen (koregulieren).
Diese beschriebenen Kommunikationsprozesse, die die wesentlichen Input-Geber für die dem jungen Gehirn »aufgespielten Grundprogramme« sind, verlaufen in einer Grundmatrix von emotionaler Färbung, Stimmung und Befindlichkeit. Beide Eltern sind dabei von besonderer Bedeutung für das Kind. Sie spenden Sicherheit, Orientierung, Identität und spezifische Information, wenngleich sie das in unterschiedlicher, auch von ihrer Geschlechtsidentität mitbestimmter Form tun. Zwei unterschiedliche Quellen mit gleichwichtigen Beiträgen für den Fluss des Lebens.
Seiner Urfunktion entsprechend versorgt der Vater sein die Nachkommen stillendes Weibchen mit ausreichend Nahrung und schützt es vor möglichen Feinden in der so gefährlichen Savanne. Ein vermeintlich drohend erlebter Vaterverlust durch die Scheidung der Eltern bedeutet für das Kind ein tiefes Unsicherheitsgefühl und Beängstigung. Mag auch durch die Trennung der Eltern keine unmittelbare Bedrohung des existenziellen Überlebens des Kindes bestehen, so löst diese in einer sehr archaischen Schicht, wie dies in der täglichen Praxis erlebbar wird, doch enorme Angst und Gefühle von Schutzlosigkeit aus.
Die moderne Psychologie hat die gleichwertige, wenngleich ungleichartige Bedeutung beider Elternteile für das Kind für die Entwicklung eines stabilen Geflechts an Bindungen und Beziehungen und somit einer stabilen, ins Leben positiv eingebetteten Identität in den letzten Jahrzehnten deutlich gemacht. Die historisch bedingte einseitige Überbetonung der Bedeutung der Mutter für das Kind ist somit argumentativ mit intellektueller Redlichkeit nicht mehr aufrechtzuerhalten.
Erfreulicherweise und angeleitet durch die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte reflektieren Männer in einer Art von emanzipatorischem Prozess zunehmend ihr tradiertes Rollenbild früherer Generationen. Neue Entwürfe männlicher Identität, die einen veränderten Zugang zur Väterlichkeit in ihrem Gepäck mitführen, sind aufgetaucht, und ein mehr paritätisches Geschlechtsrollenmodell im Hinblick auf die Betreuung für die in der Beziehung geborenen Kinder. Dies wird von der Öffentlichkeit im gesellschaftlichen Dialog begrüßt, wenngleich die Umsetzung jungen Vätern strukturell oft nicht wirklich leicht gemacht wird.
Der Beziehungsvater, der selbstständig und zuverlässig Zeitsegmente mit seinem drei Monate alten Sohn zu betreuen vermag, dem man nicht sagen muss, welche Windelgröße gerade angesagt ist und der selbstständig notwendige Impftermine in Evidenz hält, ist, im Unterschied zum reinen, sich für das wirtschaftliche Wohlergehen seiner Familie zuständig fühlenden Versorgervater, der seinen Sohn mit sechs Jahren zum ersten Mal zum Fußballspiel mitnimmt, in. Gerade diese Beziehungsväter setzen, als kontinuierlich und intensiv in die Betreuung ihrer bereits sehr jungen Kinder einbezogene Bezugspersonen, wertvolle Bindungsangebote an ihre Kinder.
Umso befremdlicher erscheint es, wenn dann im Zuge von Scheidung und Obsorge-/Kontaktregelung diese gegebene Lebenssituation des Kindes außer Acht gelassen wird und der Vater sich für das bisherige wie zukünftige Gedeihen des jungen Kindes zu einem inferioren Wasserträger degradiert wiederfindet. Diese Entsorgung der Väter, die sie in den Rang von Zahlstellen verweisen möchte, stärkt kein Mutterrecht, sondern missachtet in erster Linie Kinderrechte und reduziert die Chancen der betroffenen Kinder auf eine unbeschädigte Zukunftsgestaltung.
Da im »Kampf ums Kind« ein heftiger, mehr von narzisstischen denn sachlichen Begründungen geleiteter Ideologienkrieg der Geschlechter tobt, gilt es, an dieser Stelle kritisch anzumerken, dass keinem der Geschlechter eine a priori bessere Eignung zukommt. Der Blickwinkel der Bedürfnislage und Lernsituation für das Kind favorisiert eindeutig beide Elternteile gemeinsam als »best option« – und im jeweiligen Einzelfall sind das persönliche Engagement und die vorhandene erzieherische Kompetenz für die situationsbeste Lösungsfindung als Bezugsmaß anzuwenden. Es geht, so sehr es manchmal den Anschein hat, dass dies vergessen wird, nicht um Männerrechte oder Frauenrechte, sondern um Kinderrechte.
Kinder wollen beide Eltern – schon aus evolutionsbiologischen Gründen
* Die Paarbildung ermöglichte es, dass mit dem kontinuierlichen aufrechten Gang der volle evolutionsbiologische Vorteil entfaltet werden konnte.
* Eine lange postnatale Phase intensiver Betreuung der Nachkommen ergab sich als notwendige Konsequenz des aufrechten Gangs und einer beschränkten Beckendurchgangsöffnung für die Geburt von Nachkommen.
* Die Arbeitsteiligkeit und Notwendigkeit beider Elternteile in der Betreuung der Nachkommen führt beim Kind zu einem grundsätzlichen Bindungswunsch zu beiden Elternteilen.
* Das Kind bezieht von beiden Elternteilen während seiner Kindheit wesentliche identitäts- und selbstbildbegründende Einflüsse. Diese sind unterschiedlich, jedoch gleichwertig.
* Eine Trennung/Scheidung des Elternpaares läuft den Interessen und Beziehungsbedürfnissen des Kindes für ein unbeeinträchtigtes Aufwachsen primär entgegen und löst Verlustangst aus.
* Ist die Trennung/Scheidung des Elternpaares bedingt durch unüberwindbare Konfliktspannung und Entfremdung unausweichlich, so liegt es im entwicklungspsychologischen Interesse des Kindes, zu beiden Elternteilen einen gleichmäßigen und unbehinderten Zugang zu entwickeln – die Entwicklung einer kooperativen statt gemeinsamen Elternschaft.
3.
Die Trennung/Scheidung der Eltern – Ein lebenslanges Trauma?
Claudia hat erst vor Kurzem ihren 30. Geburtstag gefeiert. Eine