Erich Mühsam: Verse eines Kämpfers (151 Gedichte in einem Band). Erich Muhsam
1912
Nein, ich will nicht eher zu Grabe,
eh ich nicht auch die letzten Sprossen
irdischen Glückes erstiegen habe,
eh ich das Leben nicht ganz genossen;
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eh ich nicht alle Frauen umschlungen,
die mich durch meine Träume begleiten,
eh ich nicht alle Lieder gesungen,
die sich in meinem Herzen bereiten;
eh ich nicht alle Werke gestaltet,
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die sich dem schaffenden Geiste entbinden,
eh ich der Führerpflicht nicht gewaltet,
daß die Menschen ihr Wegziel finden;
eh ich nicht fröhliche Augen sehe,
die von Erhebung und Stolz verjüngt sind,
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eh ich nicht über Äcker gehe,
die statt mit Tränen mit Freude gedüngt sind.
Nimmt der Erlöser dann und Vernichter
von meinen Tagen die lastenden Ketten,
sollt ihr den seligsten Menschen und Dichter
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tief in befreites Erdreich betten.
Kalender 1912
Januar:
Das Jahr beginnt um Mitternacht,
wenn Luft und Land vor Kälte kracht.
Der Mensch grüßt froh den Neujahrstag
und ahnt doch nicht, was kommen mag.
Februar:
Der Sturm zerbricht den kahlen Ast.
Auf tobendem Meere birst der Mast.
Eis treibt zum Meer, Schnee stürzt zu Tal.
Die Menschen feiern Karneval.
März:
Die Welt erwacht aus Wintersnot.
Wild kämpft das Leben mit dem Tod.
Im Freiheitssehnen schwillt das Herz.
Der Mensch erfleht sein Heil vom März.
April:
Heut Regen, Wind und Hagelschlag
und morgen strahlender Sonnentag.
Der Menschheit Schicksal muß geschehn
Durch Kreuzigung und Auferstehn.
Mai:
Zur Paarung drängt’s die Kreatur
und neuer Samen schwängert die Flur.
Verkündend schwebt der heilige Geist
zum Menschen, der dies Liebe heißt.
Juni:
Das Licht der langen Tage glänzt
auf grüne Lande bunt bekränzt.
Im warmen Sonnenschein gerät,
was für den Herrn der Knecht gesät.
Juli:
Die Luft liegt glühend überm Land.
Dumpf gähnt der Himmel Sonnenbrand.
Die Berge und die Wasser ruhn, –
der Mensch muß seine Arbeit tun.
August:
Gewölk reißt donnernd und zündend entzwei.
Gelähmte Lüfte atmen frei.
Sternschnuppen fahren den Himmel entlang.
Der Herr der Erde nur seufzt im Zwang.
September:
Der Boden saugt neuen Regen ein.
Die Saat trägt Früchte. Es reift der Wein.
Was weise Allmacht den Menschen gab,
der Reiche nimmt es dem Armen ab.
Oktober:
Der Herbst folgt der Natur Gebot.
Die Blätter färben sich gelb und rot.
Die Vögel fliegen mittagwärts.
Den Menschen faßt ein Abschiedsschmerz.
November:
Der Sturm entlaubt den Wald und gellt.
Das Meer braust auf, das Schiff zerschellt.
Den Armen beugt die Sorgenlast,
der Hunger kommt bei ihm zu Gast.
Dezember:
Die Erde kleidet sich in Schnee.
Die ganze Welt ist kalt und weh.
Vor Gott sind alle Menschen gleich.
Sie träumen vom ewigen Friedensreich.
Kalender 1913
Januar:
Der Reiche klappt den Pelz empor,
und mollig glüht das Ofenrohr.
Der Arme klebt, daß er nicht frier’,
sein Fenster zu mit Packpapier.
Februar:
Im Fasching schaut der reiche Mann
sich gern ein armes Mädchen an.
Wie zärtlich oft die Liebe war,
wird im November offenbar.
März:
Im Jahre achtundvierzig schien
die neue Zeit heraufzuziehn.
Ihr, meine Zeitgenossen, wißt,
daß heut noch nicht mal Vormärz ist.
April:
Wer Diplomate werden will,
nehm sich ein Muster am April.
Aus heiterm Blau bricht der Orkan,
und niemand hat’s nachher getan.
Mai:
Der Revoluzzer fühlt sich stark.
Der Reichen Vorschrift ist ihm Quark.
Er feiert stolz den ersten Mai.
(Doch fragt er erst die Polizei.)
Juni:
Mit Weib und Kind in die Natur
zur Heilungs-, Stärkungs-, Badekur.
Doch wer da wandert bettelarm,
Den fleppt der würdige Gendarm.
Juli:
Wie so ein Schwimmbad doch erfrischt,
wenn’s glühend heiß vom Himmel zischt!
Dem Vaterland dient der Soldat,
kloppt