DAS RÄTSEL SALOMONS. Daphne Niko
»Das erklär ich dir später.«
In dieser Nacht sah die Qaryat-al-Fau Ausgrabung wie eine Geisterstadt aus. Ihre kalten Steine nahmen die silberne Färbung des zunehmenden Mondes an, der über der Hochebene des Tuwaiq Escarpments aufging. Die dachlosen Kammern lagen dem forschenden Mondlicht offen wie Bienenstöcke, die lange schon ihres Zwecks beraubt waren, nicht aber ihrer Würde. Am Tag ähnelte der Komplex mit seinen Wällen und Türmen und steinumrandeten Grenzen der Sandburg eines Kindes, die von den langen Fingern einer strafenden Sonne in einer vertrockneten Landschaft zum Erstarren gebracht worden war.
In Nächten wie diesen war Sarah gern für sich allein und malte sich das Leben der Bewohner al-Faus in alten Zeiten aus. Vor ihrem geistigen Auge sah sie ihre Gewohnheiten – ihr tägliches Schlendern über den Marktplatz, um Öl für ihre Lampen und Gewürze für ihre Eintöpfe zu kaufen, die Pflege ihrer Herden auf entfernt liegenden Weiden, die von den Flüssen der Antike genährt wurden, ihre lebhaften Verhandlungen mit den Himjaren und Sabäern und anderen Stämmen, die nordwärts gen Mesopotamien reisten.
Es war September, und da die Temperaturen etwas erträglicher wurden, war das Projekt wieder in vollem Gange. Zu dieser Jahreszeit arbeitete die Crew am Suq und den beiden Begräbnisstätten außerhalb der Stadtgrenzen, wo sie neue Überreste prächtiger Wandarbeiten freilegten, die während des Anbruchs der christlichen Zeitrechnung von Grabkünstlern in rotem Eisenerz auf mittlerweile abblätternden Gips gemalt worden waren.
In dieser Nacht dachte sie allerdings nicht wie gewöhnlich über die Ausgrabung nach. Sie lag auf der Seite, auf den rechten Ellbogen gestützt, auf einem alten Kelim, der vorm Lagerfeuer ausgebreitet war. Ein Schal aus weißem Flor war um ihre Schultern gewickelt, um die Kälte der Nacht abzuwehren. Sie nahm das Bandana ab, das ihren Kopf bedeckte, sodass ihre Lockenmähne wild um ihr Gesicht fiel. Gedankenverloren starrte sie in den Bauch der sterbenden Flammen; ihre ganze Aufmerksamkeit galt einzig der Papyrusrolle.
»Ein Riyal für deine Gedanken.«
Daniels Stimme riss sie aus ihren Überlegungen und sie setzte sich mit einem Ruck auf.
»Sorry, Liebes«, sagte er mit einem näselnden Singsang. »Ich wollte dich nicht erschrecken.«
Sie winkte seine Entschuldigung ab. »Unsinn. Komm. Leiste mir Gesellschaft.«
Daniel schürte das Feuer, um es zu neuem Leben zu erwecken, und setzte sich neben sie. Mit stillem Abstand zwischen ihnen starrten beide in die Flammen.
Er sprach zuerst. »Du hast heute Abend kaum zwei Worte gesagt. Jetzt aber mal raus mit der Sprache.«
Sie schenkte ihm ein halbes Lächeln. »Ich glaube, du weißt, worüber ich nachdenke.«
»Ich weiß. Es beschäftigt mich auch.«
»Denkst du wirklich, dass der Text von einem Ägypter geschrieben wurde?«
»Es ist eine Theorie, das ist alles. Warum? Hast du eine bessere?«
»Ich glaube nur einfach nicht, dass wir die Möglichkeit ausschließen sollten, dass er aus dem Euphrat-Tal oder vielleicht sogar der Negev stammt. Es wurden kanaanitische und israelitische Ostraka mit hieratischen Schriftzeichen gefunden.«
»Stimmt. Aber Mariah hat recht. Die Schrifttradition des antiken Nahen Ostens war kein Vergleich zu der Ägyptens. Ich habe keinen Grund, ihre Worte anzuzweifeln.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich bin nicht so überzeugt von ihr, wie du es bist.«
Er warf ihr einen überraschten Blick zu. Sein Gesicht – unrasiert und von langen, dunklen Haarwogen eingerahmt – wirkte im Feuerschein beinahe primitiv. »Mariah ist auf unserer Seite, Sarah. Sie ist Mitglied des Kollegiums unserer Partneruniversität. Wenn sie etwas wüsste, dass für unseren Fall relevant wäre, dann würde sie es uns sagen.«
Sarah erwähnte ihre weiteren Vorbehalte nicht, aber Mariah hatte etwas an sich, dem sie nicht traute. Vielleicht war es eine emotionale Reaktion auf Mariahs herablassende Haltung ihr gegenüber. Sie riss sich zusammen und nahm sich vor, vorerst das Beste von der israelischen Professorin anzunehmen. Abgesehen davon traute Daniel ihr offensichtlich, und seine Instinkte waren selten fehlgeleitet.
Sarah hatte begonnen, Daniel weit mehr zu vertrauen, als sie das je erwartet hätte. Als sie sich vor etwas über einem Jahr in Aksum, Äthiopien, kennengelernt hatten, hatte er wie ein wichtigtuerischer Amerikaner mit künstlichem Südstaatenakzent und einer überlebensgroß aufgeblasenen Persönlichkeit gewirkt. Zu jener Zeit war sie ihm gegenüber verhalten gewesen, hatte seine Absichten nicht durchschaut. Doch systematisch hatte er alle ihre Schranken durchbrochen.
Sie erinnerte sich an den exakten Augenblick, in dem sie alle Zweifel hatte fahren lassen. Sie waren allein im Sämen-Gebirge gewesen, wo ein Auftragsmörder sie während ihrer umstrittenen Beschäftigung mit Äthiopiens zehntem Heiligen hingekarrt und zum Sterben zurückgelassen hatte. Nach ein paar Tagen des Überlebenskampfes in der trostlosen Wildnis war sie an der Ruhr erkrankt und konnte nicht weiterlaufen.
»Geh ohne mich«, hatte sie ihm gesagt und es auch so gemeint.
»Selbst wenn ich deine Leiche hier raustragen muss, werde ich nicht ohne dich gehen«, hatte er gesagt. »Ich lasse dich nicht zurück.«
Er war nicht nur bei ihr geblieben: Er hatte ihren kranken Körper über abschüssige Felswände und zerklüftete Bergzüge getragen, wo ein einzelner Fehltritt einen Sturz in eine jähe Schlucht bedeutet hätte. Seine Handlungen sprachen eine deutliche Sprache: Wir stehen das gemeinsam durch. Und genau so war es seitdem gewesen.
Als er sie eingeladen hatte, an seiner Expedition in Saudi-Arabien teilzunehmen, konnte sie nicht ablehnen. Nach allem, was sie in Äthiopien und danach erlebt hatten, hatte sie begonnen, ihn als verwandten Geist und wahren Partner zu betrachten. Und sofern sie sich die Regungen in der Tiefe ihres Herzens zugestand, sehnte sie sich nach seiner Nähe.
»Du hast recht, Danny. Warum sollte sie uns etwas vorenthalten?« Sie richtete die Frage ebenso an sich selbst wie an ihn. »Ich kaufe ihr ihre Theorie ab – fürs Erste.«
Er zeigte ein strahlendes Lächeln. »Das klingt schon besser.« Er stand auf und bot ihr seine Hand an. »Na los, hauen wir uns aufs Ohr. Wir haben einen langen Tag vor uns.«
Am nächsten Morgen arbeitete Sarah mit einer kleinen Mannschaft an einer der Grabstellen an den äußeren Stadtgrenzen. Eine trockene, saunaartige Hitze hatte sich über das Tal gelegt, während die Sonne zum Zenit gewandert war. Zu dieser Tageszeit fiel nicht ein einzelner Schatten auf die endlosen Sandweiten. In diesem gnadenlosen Gelände gab es meilenweit keine Spur von etwas Grünem. Die einzigen Lebewesen waren die Skorpione und Skarabäen, und sogar die versteckten sich tief unter der versengten Oberfläche.
Sarah trug ein Langarmshirt und eine Cargohose, beide in wüstenbraun, und einen Hut mit breiter Krempe über dem Bandana, das um ihren Kopf geschlungen war. Es war zu heiß für so viele Kleidungsstücke, aber Haut zu zeigen war im ländlichen Saudi-Arabien ein schwerwiegendes Vergehen. Ihre Arbeiter waren Landbewohner oder Stammesmitglieder, die fest in den Regeln ihrer patriarchischen Gesellschaft verwurzelt waren. Es hatte mehrere Monate gedauert und jede Menge Diplomatie erfordert, bis sie sie dazu gebracht hatte, Anweisungen von ihr, der einzigen Frau der Expedition, anzunehmen, geschweige denn sie zu respektieren.
Die schwarzhaarigen, braunhäutigen Männer, die Seite an Seite mit Sarah arbeiteten, tratschten harmlos über sie. Einer der Männer deutete auf sie und flüsterte einem anderen etwas zu. Dieser brach in ein schallendes Gelächter aus, das tabakfleckige Zähne enthüllte. Sie schüttelte lächelnd den Kopf, zufrieden, dass die Männer sie so weit akzeptiert hatten, um sich über sie zu amüsieren.
Daniels weißer, stets staubbedeckter Land Rover näherte sich mit gehörigem Lärm. Daniel stieg aus und sagte etwas auf Arabisch zu den Männern, was eine weitere Runde schallenden Gelächters auslöste.
Sie ging zu ihm hin. »Lachen sie über dein Arabisch?«
»Nein«, sagte er. »Ich hab ihnen nur erzählt, dass ich dich für deinen täglichen Hamam-Termin in die