DAS RÄTSEL SALOMONS. Daphne Niko
zog sie ihren Arm fort. Die winzigen, haarigen Beine eines Lebewesens, das sie nicht identifizieren konnte, krabbelten weiter auf ihre Schulter zu. Sie setzte sich auf und schnippte es fort, wobei ihr sein harter Panzer auffiel. Noch mehr Beine waren auf ihrem Rücken, und sie versuchte, die Eindringlinge von ihrem Nachthemd abzuschütteln.
Sie warf die Decke ab und sprang aus dem Bett. Ein weiterer harter Panzer zersprang unter ihrem Fuß. Aufs Geratewohl tastete sie nach ihrer Taschenlampe auf dem Nachttisch und schaltete sie ein. Ihre Augen weiteten sich vor Schreck, als sie den Lichtstrahl durch das Zimmer bewegte. Skarabäen mit schwarzen Köpfen und rot gestreiften Rücken krochen über das Bett und den Boden. Es mussten Hunderte sein.
Sie krabbelten ihre Beine schneller hinauf, als sie sie wegfegen konnte. Ihr Herz galoppierte, vom Adrenalin angespornt. Sie stürzte zur Tür. Obwohl sie sie nicht verschlossen hatte, ließ sie sich nicht öffnen. Mit zusammengebissenen Zähnen zog sie fest am Türknauf. Er rührte sich nicht. Sie hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, warum er blockiert war; sie musste hier raus.
Das Fenster.
Als sie über den käferübersäten Boden eilte, zerquetschte sie mehrere der Insekten mit ihren nackten Füßen. Sie schlug das Fliegengitter heraus, stützte sich am Fenstersims ab und schob ihren Körper durch die quadratische Öffnung, die kaum mehr als sechzig Zentimeter maß. Kopfüber fiel sie zu Boden und bremste den Sturz mit ihren Händen.
Noch immer krabbelten ihr Skarabäen über Arme, Beine und Kopf. Mit spasmischen Bewegungen schnippte sie die restlichen Kreaturen von ihrem Körper. Barfuß rannte sie über den kühlen Untergrund aus gehärtetem Sand und zerbröckeltem Kalkstein, während die Sonne am lavendelfarbenen Horizont aufzugehen begann.
Sie rannte, bis sie ihre Furcht abgeschüttelt und die Fassung wieder errungen hatte. Von der Stille der Morgendämmerung beruhigt hielt sie an und kam zu Atem. Mit noch immer rasendem Herzschlag stützte sie sich auf ihre Knie und blickte zu ihrer Hütte zurück.
Sie erkannte böse Absichten, wenn sie sie sah. Jemand hatte ihr eine Nachricht zukommen lassen.
Kapitel 4
Spätmorgens am nächsten Tag brannte die Sonne heißer, als Sarah es seit ihrer Ankunft erlebt hatte. Im Tal rührte sich nichts. Ohne die kleinste Brise legte sich die Hitze wie ein Samtumhang um sie. Ein Flirren verzerrte das Kalksteingebirge östlich der Ausgrabung; die Felsen schienen mit den sandigen Ausdehnungen des Leeren Viertels zu verschmelzen. Der Thermometerstand überraschte Sarah nicht. Die Lufttemperatur betrug siebenundvierzig Grad, vier Grad mehr als noch vor einer halben Stunde.
Sie betreute die Ausgrabung des Suqs, wo sie mit der Crew daran arbeitete, einen weiteren Hügel zu ergraben, der wahrscheinlich einen Erweiterungsbau oder eine Lagerstätte beherbergte. Um die Artefakte zu schützen, die möglicherweise darin verborgen waren, musste alles per Hand geschehen. Sie meißelten und kratzten am ausgehärteten Sandhügel und verursachten Staubwolken, die in der stehenden Luft zurückblieben wie die Nachwirkung einer Explosion.
Die Männer, die Turbane um ihre Gesichter gewickelt hatten, um den Dunst abzuwehren, waren stiller als gewöhnlich. An einem typischen Tag teilten sie unablässig Geschichten und Witze, um die Zeit schneller vergehen zu lassen. Ein Teil davon war ihrer Kultur zuzuschreiben, ein anderer ihrem Bemühen, sich von den Arbeitsbedingungen abzulenken. Heute wurde das bedeutungslose Gerede vom rhythmischen Tap-tap-tap der Meißel ersetzt.
Sarah hatte sich so sehr an das dauernde Gemurmel gewöhnt, dass sie es vermisste. Die relative Stille, in Kombination mit der drückenden Hitze, dem Staubschleier und ihrem eigenen Schlafmangel, ließen ihre Lider schwer werden. Sie nahm einen Schluck aus ihrer Wasserflasche und war angenehm überrascht, dass der Inhalt noch immer kühl war. Sie goss ein wenig Wasser über ihre Hände und spritzte es sich ins Gesicht, und für ein paar Sekunden genoss sie das Gefühl, ehe die Flüssigkeit zu einem feinen Nebel verdunstete, der von der unersättlichen Hitze aufgesogen wurde.
Sie stand auf und ging zur Forschungshütte hinüber, einem provisorischen Gebäude mit drei Wänden, die ein rostiges Blechdach stützten, um einige Daten in ihren Laptop einzugeben. Sie dachte, der Schatten und der Ortswechsel würden ihr helfen, ihrer Müdigkeit zu entkommen, aber das taten sie nicht. Erschöpft von der Intensität der letzten Tage, die ihre Begegnung mit den Skarabäen vor Sonnenaufgang noch verschlimmert hatte, setzte sie sich auf den Lehmboden und lehnte sich gegen die Lehmwand, die sich an ihrem schweißdurchtränkten Rücken kühl anfühlte. Sie schloss die Augen.
Im metaphysischen Raum zwischen Wachsein und Schlummer kamen und gingen die Bilder unkontrolliert. Sie sah Hände, vielleicht ihre eigenen, mit schwarzen Schmutzhalbmonden unter den Fingernägeln Sand von einer Tonscherbe wischen und ein in türkisfarbener Glasur eingelassenes Relief aus traubenbehangenen Weinreben zum Vorschein bringen. Das Bild löste sich zu einem türkisfarbenen Wasserloch auf, aus dem schwarze Skarabäen aufstiegen, die einer nach dem anderen das Nass verließen und eine einzelne Linie im rissigen, ausgedörrten Sand formten, wie ein in den Krieg ziehendes Heer. Sie kamen näher … und näher … und näher. Ihre harten Panzer knackten und hallten wider wie Stimmen aus einer fernen Welt. Sie glaubte, sie mit einem arabischen Akzent nach ihr rufen zu hören – »Miss Sarah … Miss Sarah …« – und sie schreckte aus dem Schlaf hoch.
»Miss Sarah.«
Sie zog ihre übergroße schwarze Fliegersonnenbrille ab. Mit müden, brennenden Augen erwiderte sie den Blick einer der Männer aus ihrer Crew, Abdullah. Der untersetzte Araber stand in der Tür der Hütte und wartete auf die Erlaubnis, eintreten zu dürfen. Sein Kopf war von einem weißen Turban eingehüllt, aber sein fleischiges, tabakfarbenes Gesicht war entblößt. Sarah bemerkte den besorgten Ausdruck in seinen Ebenholzaugen, die sie von unterhalb einer pechschwarzen Monobraue anstarrten.
Sie stand auf. »Was ist los, Abdullah?«
»Die Männer. Es geht ihnen nicht gut.«
»Was meinen Sie?«
»Muhammad und Haydar sind …« Er gestikulierte, um den Akt des Erbrechens anzudeuten; er war zu höflich, um das Wort laut auszusprechen. »Und die anderen … nicht sehr gut.«
Sarah verließ die Hütte und sah zur Ausgrabung. Die Arbeit war beinahe zum Erliegen gekommen und die meisten Männer lagen entweder auf den Steinen oder saßen mit gesenkten Köpfen da.
Beunruhigt wandte sie sich an Abdullah. »Ist es die Hitze?«
Er zuckte mit den Schultern. »Nicht zu heiß«, sagte er, sich der Untertreibung nicht bewusst. »Vielleicht haben schlechtes Essen.«
Sarah ging kein Risiko ein. »Lassen Sie uns alle in den Bus schaffen. Wir werden ins Camp zurückfahren und sie untersuchen lassen. Schnell.«
Im Camp begleitete Sarah ihre Crew zur Krankenstation, wo sich schon Mitarbeiter mit ähnlichen Symptomen drängten. Etwa ein Dutzend Männer saßen auf dem Boden. Ihre braunen Gesichter waren von grauer Blässe ausgewaschen. Heftige Brechgeräusche drangen hinter dem Vorhang hervor, der die Klinik vom rudimentären Waschraum trennte.
Sie ging zu Nasser, dem Sanitäter. »Haben Sie Dr. Madigan gesehen?«
Röte stieg in seine milchkaffeefarbenen Wangen und er senkte seinen Blick. Er ignorierte ihre Frage und beschäftigte sich damit, Medikamentenflaschen aus einem Aufbewahrungsschrank zu holen. Sarah wusste, dass er sie gehört, aber sich gegen eine Antwort entschieden hatte. Sie verstand seine Haltung als passiv-aggressiv, eine unausgesprochene Nichtachtung ihrer Person, allein weil sie eine Frau war. Sie hatte drei Möglichkeiten: Ihn ignorieren und fortgehen, ihn konfrontieren und ihre Autorität durchsetzen, oder seinem Ego schmeicheln, indem sie seine Wichtigkeit hervorhob. Sie wählte Letzteres.
»Doktor …«, sie sprach Nasser mit einem Ehrentitel an, obwohl er nur ein Krankenpfleger war, »… ich weiß, dass Sie sehr beschäftigt sind, aber ich muss Dr. Madigan finden. Sofort. Haben Sie ihn gesehen?«
Ohne aufzusehen, gestikulierte er in Richtung der Kantine und widmete sich weiter seiner Arbeit.
Sarah