Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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wir wol­len den an­ge­neh­men Mor­gen dank­bar­lichst ge­nie­ßen; es ist ge­wiss­lich eine große Freu­de, wenn auch eine große Ver­wir­rung, eine merk­wür­di­ge Kon­fu­si­on. Da ge­hen alle vier Spe­zi­es durch­ein­an­der, dass es ei­nem vor den Au­gen schwimmt; wenn das Exem­pel Kopf und Fuß ha­ben wird, so wol­len wir wei­ter da­von spre­chen.«

      »Es ist wahr«, sprach der Rit­ter, »man weiß nie­mals, wie Petz nach Hau­se kommt. Mein Leut­nant hat mir auch häu­fig ge­nug das Gau­di­um am Wie­der­se­hen raf­fi­niert ver­dor­ben. Na, man wird ja schon se­hen, was man er­le­ben soll, In­spek­tor; – je­den­falls wün­sche ich im­mer wie­der aus vol­lem Her­zen Glück, und ich den­ke, es weiß ein je­der, wie ich es mei­ne.«

      »Ja, das wis­sen wir«, sag­te die Mut­ter Leon­hards, und dann ging der Rit­ter von Bums­dorf, sei­ne Rog­gen­fel­der zu be­se­hen, und über­ließ die Fa­mi­lie Ha­ge­bu­cher ih­rer Auf­re­gung und zit­tern­den Un­ru­he. Der Steue­rin­spek­tor gab es auf, sei­ne Pfei­fe im Bran­de zu er­hal­ten, er setz­te sie fort und trug sei­ne »Ir­ri­ta­ti­on« zu sei­nen Spar­gel­bee­ten, die Mut­ter trug ihr klop­fen­des Herz in das Haus, und Lina mach­te ihr ne­ben sich Platz auf der Trep­pen­stu­fe, und bei­de wa­ren über­zeugt, nie in ih­rem Le­ben auf sol­che Wei­se ge­horcht und so viel, so viel durch­ein­an­der­ge­dacht zu ha­ben. Wir aber, in­dem wir den selt­sa­men Wan­de­rer, des­sen Spur wir in Leip­zig ver­lo­ren und den wir in Bums­dorf wie­der­ge­fun­den ha­ben, um die­ses Lau­schen und Ge­dan­ken­spiel auf der Trep­pe sehr be­nei­den, wen­den uns zu ihm sel­ber.

      Er lag selbst­ver­ständ­lich noch im Bet­te, und man braucht eben nicht gleich­falls aus der Ge­fan­gen­schaft im Tu­mur­kie­lan­de zu­rück­ge­kehrt zu sein, um sich mit Ge­nau­ig­keit in sei­ne Ge­füh­le und Stim­mun­gen ver­set­zen zu kön­nen. Epi­me­ni­des, die sie­ben Brü­der von Ephe­sus, wel­che un­ter der Re­gie­rung des Kai­sers De­ci­us in die Höh­le gin­gen und un­ter der Re­gie­rung des Kai­sers Theo­do­si­us, ein­hun­dert­fünf­und­fünf­zig Jah­re spä­ter, wie­der her­aus­ka­men, und zu­letzt Meis­ter Rip van Winkle ha­ben uns längst be­fä­higt, ihm in al­len sei­nen Emp­fin­dun­gen ge­recht zu wer­den.

      Er lag auf dem Rücken und hat­te bei­de Hän­de un­ter den Hin­ter­kopf ge­scho­ben; er schnarch­te, und Mut­ter und Schwes­ter hör­ten ihn schnar­chen. Jetzt zuck­te er, wie von ei­nem elek­tri­schen Fun­ken ge­trof­fen, und fuhr jäh­lings em­por, mei­nungs­los, halb er­schreckt um sich her­star­rend – mit ei­nem Seuf­zer sank er zu­rück und sah zwei­felnd, ohne sich zu be­we­gen, auf den von der Son­ne durch­strahl­ten Fens­ter­vor­hang. Eine Ah­nung ging ihm auf, wo er sich be­fin­de, und all­mäh­lich, ganz all­mäh­lich wur­de die­se Ah­nung zur si­chers­ten Ge­wiss­heit, und die Furcht, den Dä­mo­nen der Nacht wie­der ein­mal zum Spiel­zeug ge­dient zu ha­ben, ver­schwand nach und nach; die Lip­pen zit­ter­ten, und es ging et­was über das ver­wil­der­te Ge­sicht, über die be­narb­te Stirn, was nichts mehr mit dem Kö­nig­reich Dar-Fur zu tun hat­te. Leon­hard Ha­ge­bu­cher hat­te sich auf­ge­rich­tet und horch­te und rief dann:

      »Mein Gott, da sind ja wie­der ein­mal die Erd­flö­he dem Al­ten über das jun­ge Ge­mü­se ge­ra­ten! Mein Gott, mein Gott!«

      Und dann sank er wie­der zu­rück und leg­te bei­de Hän­de auf das ge­schwärz­te Ge­sicht, und dann – dann hat er ge­weint, trotz­dem dass er ein star­ker Mann und nahe an sechs Fuß hoch war und mehr er­lebt hat­te als das gan­ze Dorf Bums­dorf und die Stadt Nip­pen­burg dazu.

      Ges­tern wa­ren es Abu Tel­fan, die schwar­zen Freun­de mit der Peit­sche aus der Haut des Rhi­no­ze­ros, Mos­ki­tos, Rie­sen­schlan­gen, Kopfab­ha­cken, Bauch­auf­schnei­den, Sumpf­fie­ber, Af­fen- und Galla­ne­ger-Bra­ten. Heu­te hieß es Bums­dorf, El­tern­haus, deut­sches Kaf­fee­bren­nen, deut­scher West­wind – Spat­zen – Schlaf­rock und Pan­tof­feln, das war der Un­ter­schied!

      Drau­ßen auf der Trep­pe flüs­ter­te Lina:

      »Horch, Mama, er regt sich, er ist er­wacht!«

      Und bei­de dum­me Din­ger er­ho­ben sich schwin­delnd und kratz­ten an der Kam­mer­tü­re und rie­fen zwi­schen La­chen und Wei­nen: »Gu­ten Mor­gen, Leon­hard!« Und Leon­hard rief et­was ganz Ähn­li­ches zu­rück, hin­zu­fü­gend, dass er in fünf Mi­nu­ten bei ih­nen sein wer­de. Da­rauf war es, als sei in die­ser ver­flos­se­nen Nacht ein neu­es Volks­lied in ei­nem der Schwal­ben­nes­ter un­ter dem Dachran­de ge­bo­ren wor­den und neh­me jetzt sei­nen Flug in die Welt hin­aus – es war aber nur Fräu­lein Lina Ha­ge­bu­cher, wel­che sin­gend die Trep­pe hin­un­ter- und hin­aus in den Gar­ten sprang und ih­ren Va­ter an den Schö­ßen sei­nes Schlafrocks aus sei­nen Erb­sen­fel­dern her­vor­zog.

      »Er wird so­gleich kom­men, er wird so­gleich hier sein!«

      »Schön!« sprach der Alte, die Bril­le zu­recht­rückend. »Es soll mich wun­dern, wie er bei Ta­ges­licht aus­sieht; ges­tern in der Abend­däm­merung und beim Lam­pen­schein – nun, wir wol­len se­hen.«

      »Das wol­len wir, Papa!« rief Lina und rich­te­te sich mit glän­zen­den Au­gen em­por.

      »Er­wacht, er­wacht, er­wacht!« rief Leon­hard, sei­ne Mut­ter un­ter der Haus­tür in die Arme schlie­ßend und sie küs­send, gra­de un­ter dem al­ten wa­cke­ren Wor­te: Ge­seg­net sei dein Ein­gang und dein Aus­gang.

      Mei­len­weit ins deut­sche Land hin­ein stell­te sich die Um­ge­bung von Bums­dorf auf die Ze­hen, um gleich dem Frei­herrn von Bums­dorf über die He­cken in den Gar­ten des Steue­rin­spek­tors Ha­ge­bu­cher zu gu­cken. Na­tür­lich wur­de der ku­rio­se Fall auf die ver­schie­dens­te Wei­se an­ge­se­hen; denn je nach Al­ter, Ge­schlecht und Stand ist der Ge­sichts­punkt des Men­schen ein an­de­rer, und man schlägt nicht auf eine und die­sel­be Art die Hän­de über dem Kop­fe zu­sam­men. Zu den selt­sams­ten Mün­zen wur­de das Ding aus­ge­prägt und in Um­lauf ge­setzt. In den Ge­richts­stu­ben und in den Wo­chen­stu­ben, auf dem Mark­te und in den Gas­sen, in der Wirts­stu­be und in dem lan­gen Trau­er­zu­ge, wel­cher dem so­eben ver­stor­be­nen, uns je­doch sonst wei­ter nicht in­ter­es­sie­ren­den Nip­pen­bur­ger das Ge­leit zum Kirch­hof gab, wur­de von dem Mann aus dem Tu­mur­kie­lan­de ge­spro­chen. Un­se­re Auf­ga­be aber ist es, vor al­len Din­gen Herrn Leon­hard Ha­ge­bu­cher selbst zu hö­ren und dann erst der Welt das Wort zu ge­ben und den be­hag­li­chen oder un­be­hag­li­chen Ein­druck ih­rer Mei­nung auf den heim­ge­kehr­ten Aben­teu­rer in Be­tracht zu zie­hen.

      Also sprach Leon­hard Ha­ge­bu­cher zu sei­nen El­tern und sei­ner Schwes­ter und »tat be­deu­tend den Mund auf«, wie es in Her­mann und Do­ro­thea ge­schrie­ben steht, wo­bei je­doch noch zu be­mer­ken ist, dass die Er­zäh­lung nicht un­un­ter­bro­chen fort­lief, son­dern, durch al­les, was na­tur­ge­mäß einen sol­chen Be­richt ver­zö­gern und von der gra­den Stra­ße ab­drän­gen muss, auf­ge­hal­ten, nach al­tem Recht des Zu­hö­rers und des Er­zäh­lers selbst im hüp­fen­den Zick­zack vor­schritt und sich durch Tage und Wo­chen rin­gelnd hin­schlepp­te.

      »Sel­ten mag wohl ei­nem Men­schen eine so güns­ti­ge Ge­le­gen­heit, über sei­ne Sün­den und Las­ter nach­zu­den­ken und sie zu be­reu­en, ge­ge­ben wer­den, wie sie mir, ganz und gar ge­gen mei­nen Wil­len, zu­teil ge­wor­den ist, und da ihr mich wie­der in eu­rer Mit­te auf­ge­nom­men habt,


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