Gesammelte Werke: Romane & Erzählungen. August Sperl

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Portner hatte bis hierher dem kleinen Manne fest ins Antlitz gesehen. Jetzt aber wurden seine Blicke unsicher, und endlich senkte er die Lider. Der Prädikant fuhr fort:

      »Möge das einst jeder unter uns am Ende seines Lebens von sich sagen können; dann wird er in Frieden einschlafen dürfen, und läge er auch auf einem glühenden Roste. Was ist denn das Ganze, das uns allen seit langer Zeit so viel Unruhe macht? Ein schweres Schicksal. Es giebt zweierlei Schicksale: Menschenschicksale, die kommen müssen als Folge einer Verschuldung – und diese sind die schwersten; Gottesschicksale, deren Absicht wir nur ahnen können – und diese sind leicht, wenn wir sie mit den richtigen Augen ansehen. Betet, daß ihr unschuldig leiden dürfet – soweit ein armes Menschenkind von Unschuld sprechen kann!«

      Hansjörg Portners Gedanken glitten wieder ab, und das Stimmlein des Prädikanten klang wie aus der Ferne an sein Ohr. Der Mann da droben hatte freilich keine andre Wahl, er mußte gehen; sonst hätte er sich selber ins Gesicht geschlagen. – Wie? Er mußte gehen? Hatte man ihm nicht eine gute Versorgung angeboten, wenn er sich zum Abfall entschlösse? Ja, Portner wußte das genau. Wenn er nun doch bliebe? Er hatte acht Kinder! Portner machte ein bitteres Gesicht: in solchem Falle würde er ihn verachten. Aber gleich zuckte er zusammen. Verachten? Das war ein hartes Wort. – Ja, der Pfaffe, der seiner eignen Lehre um äußerer Wohlfahrt willen den Fluch gab, war ihm verächtlich. – Und der andre, der Edelmann, der um äußerer Wohlfahrt willen mit seinem Gewissen paktierte –? Hansjörg Portner sah mit einem Ruck zur Kanzel empor und scheuchte die lästigen Gedanken von sich. Und nun hörte er auch wieder, was der Mann da droben sprach:

      »Ja, wir sind alle schwer verschuldet und können's niemals bezahlen, was wir schuldig sind. Aber ängstet euch nicht, es ist ein Brief vorhanden, in dem uns Gott, der Menschen Gläubiger, die Schuld erläßt. Wir dürfen nur hingehen und um den Brief bitten; jedem wird er gegeben. Und wo ist er denn zu holen, dieser Brief? Im Evangelium. Und wie lautet er?

      »›Ich, der ewige, barmherzige Gott und Vater, urkunde und bekenne hiermit, daß, nachdem ihr armen Menschen mir eine große und unabgeglichene Summa seid schuldig worden, weswegen ihr in den Schuldturm hättet sollen geworfen werden, so habe ich mich euer erbarmt und meinen lieben Sohn euch armen Sündern zu gut in die Welt gesandt, der für alle eure Schulden gebüßt und bezahlt hat, indem er am Kreuz eines verfluchten Todes gestorben. Solches sehe ich in Gnaden an und will euch hiermit von eurer Schuld frei, quitt und ledig gesprochen haben, wenn ihr euch leiten lasset von meinem heiligen Geiste, euch im Glauben anklammert an die dargebotene Gnadenhand und der Sünde den Fluch gebt.‹

      »Höret: Dies ist die Summa des Evangeliums und gleichsam Gottes Quittung und Handschrift. An diesen Brief hat Gott angehängt seine zwei Siegel, die Taufe und das Abendmahl. Wir aber können trotzen auf solchen Brief und solche Siegel und für uns und unsre gläubigen Erben gewiß sein, daß wir in ewige Zeit nicht wieder an unsre Schuld sollen gemahnt werden.«

      Hansjörg Portner sah auf die Gemeinde, und es schlugen nur noch einzelne Worte an sein Ohr: »bewahren – nicht rauben – auch keine andre Urkunde aufdringen lassen mit eingesetzten falschen Bürgen –«. Und er überschlug in seinen Gedanken, wer wohl von all den hundert und hundert um des Glaubens willen das Vaterland an den Schuhsohlen mit sich nehmen würde? Und während der Prädikant seine Abschiedsrede mit »Amen« schloß, murmelte Portner vor sich hin: ›Keiner!‹

      ›Keiner!‹ murmelte er, als er über den Kirchenplatz dem Herrenhause zuging und die demütigen Grüße der Häusler und Hammerknechte mit freundlichem Nicken erwiderte. Und warum keiner? Weil sie zum Gehorsam geboren waren, zum blinden Gehorsam. Er stand stille und sann: Wer hatte sie denn zu Knechten gemacht, Hansjörg Portner von und zu Theuern? Sein Blick fiel auf den finsteren, alten Bau, der über die Strohdächer der Hütten emporragte. Thorheit, die Portner waren von jeher gut gewesen mit den kleinen Leuten! Ja, was heißt gut? Sie hatten die Leute im besten Falle mit Güte geknechtet. Jetzt waren sie Knechte, und jetzt würden sie handeln, wie sie's gelernt hatten – knechtisch. Aber seltsam, warum erschien ihm denn die Kniebeuge, die er selber vorhatte, auf einmal so knechtisch, so verächtlich?

      Abend war's, und in der alten Wohnstube des Herrenhauses brannte das Licht. Hansjörg Portner spielte mit dem Bruder Schach; Frau Anna Felicitas verhandelte flüsternd mit zwei Mägdlein, Kindern des Prädikanten.

      »Ich lasse der Frau Mutter vielmals danken für das Büchlein,« sagte sie. »Aber nun setzt euch noch ein wenig zu uns her!«

      »Wir müssen gleich wieder heim, hat die Frau Mutter befohlen,« antwortete das größere Kind.

      »Dann will ich euch nicht abhalten. Aber sieh, Martha, hier habe ich schöne Aepfel, halte dein Schürzlein auf!«

      Sie legte die Aepfel sorgsam in die Schürze des Kindes, während Klein-Lisbeth mit wichtiger Miene sagte: »Du, Frau Portnerin, weißt du schon? Ich weiß was!«

      »Was denn, Lisbeth?«

      »Du, Frau Portnerin, wir kommen fort!«

      Da sagte Martha: »Viel schönen Dank, Frau Portner. Ach was, Liese! Weißt du, Frau Portner, du mußt's ihr nit übelnehmen, sie ist noch 'n bissel klein. Weißt d', Frau Portner, es wär' ja ganz lustig, daß wir fortkommen, aber weißt d', unsre Frau Mutter weint so viel, und der Herr Vater macht so 'n ernstes Gesicht, und weißt d', Frau Portnerin, da ist's nit lustig, daß wir fortkommen.«

      Frau Anna Felicitas erwiderte nichts. Sie hob das dreijährige Lieselein auf den Arm und herzte es, derweil sie mit der freien Hand den Scheitel der Sechsjährigen streichelte. Dann setzte sie das Kind behutsam auf den Boden und öffnete die Thüre. Und es klang wie Schluchzen, als sie sagte: »Nun geht brav heim, und grüßt auch den Herrn Vater und die Frau Mutter vielmals!«

      Ernsthaft nahm Klein-Martha das Schwesterlein an der Hand und ging hinaus. Die Portnerin geleitete sie an die Stiege. Die Thüre der Wohnstube stand offen.

      Hansjörg Portner achtete nicht mehr auf das Spiel. Er hatte die Faust aufs Knie gestemmt und lauschte den Schrittlein der Kinder.

      »Gute Nacht, Frau Portnerin!« sagten zwei feine Stimmen. Dann begann die Wanderung über die Treppe: Ein festeres Schrittlein, ein zaghaftes, schleifendes, wieder ein festeres, wieder ein zaghaftes. Die Schrittlein verklangen, und die Portnerin kam zurück.

      Hansjörg Portner sprang auf, ging ans Fenster und starrte hinaus in die Dunkelheit.

      »Die armen Würmlein!« seufzte Frau Anna Felicitas.

      Die Brüder schwiegen.

      Dann, nach langer Zeit, sagte Hansjörg Portner, als spräche er zu sich selbst: »Ein Held ist er!«

      »Wer?« fragte Georg.

      »Wer? Der kleine Prädikant! Wer sonst?«

      Beim Vizedom.

       Inhaltsverzeichnis

      Er war stattlich anzusehen in dem schwarzen, mit silbernen Knöpfen besetzten Atlaswamse, und seine Schwägerin, die mit dem Kindlein aus dem Arme nahe dem warmen Kachelofen saß, meinte lachend: »Wenn du die Beine auch noch so spreizest und auch noch so zornig auf und nieder gehst mit deinen klirrenden Sporen, Hansjörg, und wenn du auch noch so 'n grimmiges Gesicht schneidest, ein hübscher Knabe bist du doch.«

      »Das ist mir einerlei, Frau Schwägerin,« rief Portner, nahm den schwarzen, perlschnurumhangenen Hut vom Tische und blies über die Straußfedern, daß sie sich zitternd sträubten. »Der Herr Vizedom pfeift, und der Landsasse tanzt. Und da soll ich ein lustiges Gesicht schneiden?«

      »Auf unsre Gesichter kommt's nicht an; aber unsern Mann müssen wir stellen, sonst gehen die Zeitläufte ohne uns weiter,« sagte der edle Burghüter von Rieden, der neben Frau Anna Felicitas am Ofen stand. »Bist du bereit?«

      »Ich bin's,« antwortete Hansjörg. »Und meinen Mann stelle ich so gut wie einer; aber gerade weil ich das will, setze ich auch das Gesicht eines Mannes auf, Herr Vetter.«

      »Was


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