Gesammelte Werke. Isolde Kurz
in die Welt. Noch immer wusste ich von nichts; erst auf der Eisenbahn zwischen Hamburg und Berlin erfuhr ich aus Gesprächen der Mitreisenden, was vorging. Berlin fieberte schon. Ich erlebte dort den begeisterten Empfang des Königs, das Eintreffen der französischen Kriegserklärung, all die unvergesslichen weltgeschichtlichen Augenblicke. Der Norden Deutschlands stand da wie ein Mann. Die Gegner von Sechsundsechzig versöhnten sich; der entthronte Herzog von Nassau bot dem König von Preußen seinen Degen an. Auch die alten Achtundvierziger vergaßen ihren Groll. Ein Jugendfreund meines Vaters, der mich liebte wie einen Sohn, kabelte aus Boston seinen Glückwunsch, dass ich die Erfüllung des deutschen Traumes aus der Nähe schauen dürfe. Ende Juli war ich in München, wo ein Freund und Landsmann mich erwartete. Dort gingen die Wogen fast noch höher als in Berlin; schon am 16. hatte der junge König zum Zeichen der Bundestreue die Mobilmachung befohlen und den ganzen Süden Deutschlands in einem Sturm der Begeisterung mitgerissen. Der Norden kämpfte, weil er musste, denn er war der Angegriffene, der Süden kämpfte aus Herzensdrang als Bruder mit, die Freiwilligkeit des Opfers erhöhte seine Freudigkeit. Die wenigen Stimmen der Neinsager gingen im brausenden Orkan des Volkswillens unter. So sollte jetzt vor meinen Augen das Große werden, das durch Jahrhunderte Ersehnte, Niegewesene, das einige Deutschland! Als ich dann die ersten Truppenschübe mitansah, wäre ich, obwohl Bürger eines anderen Staates, am liebsten mitmarschiert, so fuhr mir das in die Glieder. Der Sohn des Achtundvierzigers war in mir erwacht, der das Land seiner Väter erschaffen helfen wollte, und zugleich der kleine Abenteurer, der einstmals seine noch schwachen Knochen gegen die Sklavenstaaten eingesetzt hatte.
In Kriegszeiten sind besondere Wellen in der Luft, deren Schwingungen den davon Ergriffenen seltsam verwandeln, dass er dem Kaltgebliebenen unverständlich wird und seinerseits auf diesen als auf ein Wesen niederer Ordnung heruntersieht. Bei romanischen Völkern führt dieser Zustand zu blindwütiger Tollheit, die einmal entfesselt nicht mehr zur Ruhe kommt, den Germanen ergreift er nur vorübergehend, aber er ist unwiderstehlich, solange er dauert. Ist es eine göttliche Neubeseelung, ein »Stirb und Werde« oder ein Rückfall ins Dämonisch-Naturhafte? Nur der Dichter kann es in Worte fassen, dieses Sichhingebenmüssen um jeden Preis, das Verglühenwollen auf dem Scheiterhaufen, Sichauflösen ins Ganze, Nichtsmehrseinwollen als auftauchende Wellenkrone im bewegten Ozean. »Das wunderbare Sehnen dem Abgrund zu«, nennt es der Seher unter Deutschlands Dichtern.
Auch ich sehnte mich so in jenen Tagen, und wenn ich heute in kühlgewordener Luft dieses Gefühl nicht mehr nachfühle, so möchte ich es nicht um alles in meiner Erinnerung missen; mein Leben wäre um eine große Menschheitserfahrung ärmer. Mein Landsmann ließ sich von der Welle fortreißen und bot sich dem bayrischen Heer als Kriegsteilnehmer an; ich kämpfte dabei einen schweren Kampf. Aber gewissenhaft, wie es dem Durchschnittsmenschen zukommt, gedachte ich meiner Verpflichtungen gegen meine Braut und hielt am Schreibtisch aus, indem ich dem »Herald« eine Reihe von Stimmungsberichten schrieb, worin das Erlebte weiterzitterte.
Als ich fertig war, überkam mich mit einemmal die bisher zurückgedrängte Sorge um die Stuttgarter Freunde. Gleich nach meiner Ankunft in Berlin hatte ich eine Zeile an Gustav geschrieben, aber keine Antwort erhalten. Ich vermutete, dass ihn mein Schreiben schon nicht mehr erreicht habe, da er sich beim ersten Kriegslärm bei seinem Truppenteil gemeldet haben musste. Aber von Selma erwartete ich eine Nachricht, und ihr Schweigen wurde mir, je länger es dauerte, desto unheimlicher. Was musste die leidenschaftliche Frau, die keine Macht auf Erden anerkannte als ihre Liebe, beim Abmarsch gelitten haben, und wie trug sie es jetzt? Gewiss befand sie sich in einem verzweifelten Zustand und hatte niemand, der sich ihrer annahm, denn um Gustavs willen war sie ihrer ganzen Umgebung entfremdet. Ich war ihr vereidigter Ritter und musste, dass der Freund sie mir scheidend empfohlen hätte, wäre ich zugegen gewesen. Die Briefbeförderung war infolge der Truppendurchzüge sehr verlangsamt, also setzte ich mich auf die Bahn und fuhr selbst nach Stuttgart, wo ich Selma bestimmt vermuten musste. Denn was sollte sie noch allein in der Schweiz, während ihr Gatte gewiss schon über der französischen Grenze stand! Die kleine Reise nahm zwei volle Tage in Anspruch, ich lag bald in Augsburg, bald in Günzburg, bald in Ulm fest, um die Soldatenzüge vorüberzulassen. Und überall dasselbe Bild: Militärwagen mit Eichenlaub bekränzt, Eltern, die von ihren Söhnen, Mädchen, die von ihren Liebsten Abschied nahmen, Mützen und Tücherschwenken, »Deutschland über Alles« und stillfließende Tränen. Als ich auf den von Marschtritten und Rädergerassel dröhnenden Straßen in die stille Vorstadt kam, stutzte ich schon von weitem. Die Gartenwohnung des Dichters träumte mit ihren grünen geschlossenen Läden im tiefsten Sommerfrieden. Die böhmische Köchin öffnete. Auf meine Frage nach der gnädigen Frau antwortete sie, die gnädige Frau sei noch immer in der Schweiz. Genau konnte sie mir aber den Aufenthalt nicht nennen, sie hatte den Auftrag, alle Postsendungen nach Heiden aufzugeben, von wo sie durch einen Boten abgeholt würden.
Und der Herr?
Der Herr ist bei ihr.
Das ist doch nicht möglich. Ist er denn krank?
Darüber konnte das Mädchen keine Auskunft geben. Sie wusste nur, dass die Herrschaft jedenfalls noch längere Zeit fortbleiben würde, weil sie erst gestern einen vergessenen Gegenstand ihnen habe nachschicken müssen.
Wenn Gustav nicht abmarschiert war und Selma noch auf eine längere Abwesenheit rechnete, so musste er krank sein und sie in hilfloser Lage. Wozu war ich ihr Freund? Unter Schwierigkeiten aller Art erreichte ich den Bodensee und fuhr nach Heiden über. Dort auf der Post ermittelte ich erst ihren Wohnsitz und wanderte dann, nachdem ich die Lage des Gehöfts erfragt hatte, zu Fuß den steilen Waldweg hinauf. Nach anderthalb Stunden kräftigen Steigens hatte ich den Hof erreicht, der, von unten nicht sichtbar, halb in eine Senke geduckt und durch hohe Bäume verborgen lag. Das erste, was ich sah, war Selma. Sie stand im weißen Kleide unter einem Baum, die Hände ineinandergekrampft, und starrte unbeweglich wie ein Steinbild in die Landschaft hinaus. Als sie meinen Schritt hörte, fuhr sie auf wie ein gescheuchtes Tier. Ich rief sie mit Namen, da erkannte sie mich und flog mit einem unterdrückten Schrei auf mich zu, erfasste heftig meine Hände und wäre vor mir auf die Knie gestürzt, wenn ich sie nicht gehalten hätte.
Ich fragte nach Gustav, sie deutete nach dem Haus und legte mit flehendem Ausdruck den Finger auf den Mund.
Er arbeitet und darf nicht gestört werden, flüsterte sie, indem sie mich heftig weiter weg unter die Bäume zog.
Ich