MATTHEW CORBETT und die Königin der Verdammten (Band 2). Robert Mccammon
mussten warten.
Denn jetzt passierte alles sehr schnell: Es begann mit einem schwarzen, verwischten Fleck, den Matthew als eine Katze erkannte, die von der andern Seite des Broad Way unter dem Wagen hindurchlief.
Einer der beiden wilden Hunde folgte der Katze mit fast gleicher Geschwindigkeit. Blutdürstig bellend sauste der Köter dem Pferd fast unter den Hufen durch, woraufhin das Pferd in seinem Geschirr vorwärtssprang und den Wagen trotz der angezogenen Bremse um fünf Zentimeter nach vorn riss. Das reichte, um das am Halsband des zweiten Hundes befestigte Seilende unter dem rechten Hinterrad festzuklemmen, als der hinter seinem Kumpel herrannte – und plötzlich bellte und geiferte der im Seil verhedderte Hund den Stier Brutus an.
Matthew meinte, Berry »Oh« sagen zu hören, aber vielleicht kam das Geräusch auch nur von dem Bauern, als er wie eine Wassermelone durch die Luft segelte. Denn Brutus sprang mit allen Vieren in die Höhe – woraufhin sich der gesamte hintere Teil des Wagens hob, der gelbe Hund befreit darunter herausschoss und um sein miserables Leben rannte. Brutus vermochte eine derartige Beleidigung allerdings nicht so leicht zu vergeben oder zu vergessen: Als der Wagen wieder zu Boden krachte, schüttelte der Stier wild den Kopf – und auf einmal splitterte und brach die Holzplanke mit dem Metallhaken, an dem Brutus' Nasenringseil befestigt war.
»Großer Gott!«, brüllte Grigsby, stolperte nach hinten gegen Matthew und brachte sie beide fast zu Fall. Der Stier hatte sich verletzt und blutete aus den Nasenlöchern. Wie ein monströser Kreisel begann er kaum einen Meter von der Stelle, an der Matthew, Grigsby und das Mädchen sich so dünn wie möglich machten, herumzuspringen und sich um die eigene Achse zu drehen. Aus Angst vor dem erdbebenartig zuckenden Fleischberg blieben sie wie versteinert stehen. Die Erde bebte, das Pferd wieherte und warf sich ins Geschirr, und der Bauer, dessen rechtes Bein am Knie seltsam verbogen war, kroch über die Straße. Brutus sprang und drehte sich und das Seil mit der zersplitterten Planke und dem Metallhaken pfiff über Matthews Kopf hinweg.
Nachdem Brutus wieder auf allen vieren gelandet war, wobei unter seinen Hufen Staubwolken hervorquollen, versteifte er sich plötzlich und senkte den Kopf, als wollte er angreifen. Für einen Sekundenbruchteil konnte Matthew im Schaufenster der Töpferei den gespiegelten Kopf des Stiers sehen – und dann brüllte Brutus wütend auf und die Glasscheibe war ein Ding der Vergangenheit. Denn mit einem gewaltigen Klirren rannte der Stier mitten durchs Fenster und auch einen guten Teil der Hauswand.
»Raus! Raus da!«, schrie Matthew in das klaffende Loch hinein, durch das Brutus in die Töpferei gelangt war. Aber in all dem Lärm konnte niemand etwas verstehen. Die Geräusche der Zerstörung dort drinnen waren so katastrophal, als sei Armageddon nach New York gekommen, um jede Tasse, jeden Teller und Kerzenhalter, den Hiram Stokelys Hände geschaffen hatten, zu zerstören. Die nur noch an einem Scharnier baumelnde Tür löste sich mit einem Mal komplett aus der Angel. Stokely kam mit perlweißem Gesicht über seinem schneeweißen Bart aus dem zum Untergang verurteilten Geschäft gerannt, Cecily dicht auf den Fersen. Das Schwein bewegte sich so schnell, dass Matthew glaubte, selbst ein Windhund würde Mühe haben, Schritt zu halten.
Das Unglück lockte aus den umliegenden Geschäften und Häusern eine Menschenmenge an. Irgendwer packte das verängstigte Pferd am Zügel und ein paar andere Samariter rannten dem verletzten Bauern zur Hilfe. Matthew war nicht danach zumute, irgendwo zu helfen, denn jedes Scheppern, das durch das Loch und den Trümmerhaufen drang, der einst das Schaufenster gewesen war, fuhr ihm durch Mark und Bein. Jetzt hörte er Holz krachen, als würden Knochen brechen: Brutus hatte einen der Stützpfosten attackiert, die unterhalb der Dachstube montiert waren. Er sah das Dach zittern. Schindeln schossen wie Schachtelmännchen in die Höhe.
Patience Stokely kam händewringend aus ihrem Haus hinter der Töpferei gelaufen. Als sie ihren Gatten entdeckte, warf sie die Arme um ihn und vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter, um die Vernichtung ihrer Zukunft nicht mit ansehen zu müssen. Hiram wirkte stoisch oder wie unter Schock, was genau, ließ sich schwer sagen, und Cecily rannte im Kreis, als wollte sie sich in den Schwanz beißen.
Aus hundert Ritzen der Hauswand, wo die Zapfennägel zersprangen, quoll Staub. Und immer noch hörte Matthew den Lärm von Zerstörung, da Brutus' Wut sich nicht gelegt hatte. Irgendwo in dem Chaos hörte er zum zweiten Mal massives Holz brechen – ein weiterer Stützpfosten, erkannte er, und als er das Dach wie einen von Albträumen geschüttelten alten Mann erzittern sah, wurde ihm klar, dass die Zimmerdecke des einen der Fußboden des anderen war.
Nach einer Serie explosionsartigen Krachens wurde es still. Irgendein wagemutiger Leichtfuß versuchte, durch das Loch in die Töpferei zu schauen, wurde aber von der Staubwolke zurückgedrängt.
Die Stille zog sich in die Länge. Leises Klirren von Glas klimperte wie süße Musik, aber es war ein entsetzliches Konzert gewesen.
Und dann erschien Brutus in der klaffenden Lücke, grau wie ein Geist. Wie ein Hund zwängte er sich heraus. Männer brüllten, Frauen kreischten und die Menschenmenge wogte zurück, um der Bestie des Brad Way Platz zu machen. Brutus stand auf der Straße und schaute sich um, als fragte er sich, was der Grund für diesen Aufstand war. Ein paar ungewöhnlich mutige oder ungewöhnlich dumme Männer schlichen sich von beiden Seiten an ihn heran und bekamen das Nasenringseil zu fassen. Brutus reagierte mit so etwas wie Schulterzucken und kleine blanke Keramikscherben rutschten von seinen Flanken.
Matthew atmete erleichtert auf. Den Stokelys war nichts passiert – das war das Wichtigste.
»Gott sei Dank, es ist vorbei!«, sagte Marmaduke Grigsby neben Matthew.
Ein Geräusch wie das Rülpsen eines Riesen erklang, gefolgt von dem unheilverkündenden Lärm hundert zerbrechender Bretter. Das Dach schien in die Höhe zu steigen und ein paar Sekunden lang zu schweben; dann sah Matthew erschüttert, wie es einem zerdrückten Kuchen gleich in sich zusammenfiel. Aus dem Gebäude tönte Chaos und innerhalb von Sekunden rollte eine Wind- und Staubwelle wie Londoner Nebel über den Broad Way und verwandelte jeden Mann, jede Frau, jedes Kind und Tier in der Menge in eine graugepuderte Vogelscheuche.
Matthew war halb blind. Um ihn herum stolperten hustende Menschen. Matthew spürte, wie ihm die Augen zu tränen begannen. Er dachte, dass dieses Ereignis es mit Sicherheit auf die erste Seite des nächsten Ohrenkneifers schaffen würde: Nicht jeden Tag wurde ein ganzes Gebäude von einem wild gewordenen Stier abgerissen. Er ging durch die Staubwolke auf das Loch zu, wo einstmals das Fenster gewesen war, und konnte bis zu den verdrehten Dachsparren hochschauen, denn es gab keine Zimmerdecke und keine Dachstube mehr. Im Schutt entdeckte er ein paar Dinge, bei deren Anblick sich seine Kehle zusammenzog; hier ein zerbrochenes Bett, dort der Teil einer Kleidertruhe … und ja, dort drüben die Überreste eines Bücherregals, in das der Name Rodrigo de Pallares und das Datum Octubre 1690 eingebrannt gewesen waren.
Er taumelte vor dem schrecklichen Anblick zurück, und als er sich umdrehte, sah er durch die treibende Staubwolke, dass ihn das Mädchen beobachtete.
Sie musste entweder ihren Hut abgenommen oder ihn verloren haben. Die langen roten Locken, die zuvor darunter festgesteckt gewesen waren, hingen ihr nun über die Schultern. Obwohl sie so staubbedeckt wie alle anderen war, schien sie davon nicht berührt zu sein. Sie sagte nichts, bemerkte aber vielleicht den Schmerz in seinem Blick – denn auch sie sah betrübt drein, als nähme sie an seiner Traurigkeit, sein Zuhause verloren zu haben, teil. Sie hatte eine fein geformte Nase und ein festes Kinn, das bei einem nicht so großgewachsenen Mädchen vielleicht zu breit oder zu ausgeprägt gewirkt hätte, aber sie war weder klein noch zierlich. Sie sah ihn nur traurig an. Der Staub hing zwischen ihnen in der Luft. Matthew machte einen Schritt nach vorn und merkte, wie ihm die Sinne zu schwinden drohten. Er setzte sich – oder vielmehr, er sank auf die Straße, und im selben Moment wurde er sich bewusst, dass ihm noch ein weiteres weibliches Wesen Aufmerksamkeit schenkte.
Cecily saß unweit auf den Hinterbacken und betrachtete ihn mit leicht schiefgelegtem Kopf. Ihre Ohren zuckten. Glänzten die kleinen Schweinsäuglein? Konnte ein Schwein grinsen und mit dem Grinsen sagen: Ich hab’s dir doch gesagt?
»Ja«, antwortete Matthew und erinnerte sich daran, wie sie ihn immer mit der Schnauze an die Knie gestoßen hatte.
Das Unglück, das Cecily