MATTHEW CORBETT und die Königin der Verdammten (Band 2). Robert Mccammon
dass Ihr Madams Identität und Vorgeschichte aufdeckt, ohne Mr. Primm dazu heranzuziehen.«
Matthew und Greathouse tauschten einen Blick aus. Ihre unausgesprochene Frage war: Ist das zu schaffen?
»Da ist noch etwas, das Euch vielleicht interessieren wird.« Ramsendell ging an den Tisch, auf dem der Ohrenkneifer lag. Er nahm die Zeitung und hielt sie hoch, sodass die Besucher sie sehen konnten. »Wie ich schon sagte, Madam mag es, wenn ihr jemand vorliest. Wenn ich aus der Bibel oder einem der anderen Bücher vorlese, nickt sie manchmal oder gibt einen leisen Ton von sich, den ich für Zustimmung halte. Freitag nach dem Abendessen habe ich ihr aus dieser Zeitung vorgelesen. Und zum ersten Mal hat sie ein Wort wiederholt, das ich gesagt habe.«
»Ein Wort? Welches?«, fragte Greathouse.
»Es war ein Name, um ganz genau zu sein.« Ramsendell legte den Finger auf einen Artikel in der Zeitung. »Deverick.«
Matthew enthielt sich eines Kommentars.
»Ich habe ihr den Artikel noch mal vorgelesen, aber es kam keine Reaktion mehr«, sagte Ramsendell. »Das heißt, keine verbale. Im Licht der Lampen konnte ich sehen, dass Madam weinte. Habt Ihr jemals einen Menschen weinen sehen, der dabei kein Geräusch macht, Sirs? Oder der dabei nicht den Gesichtsausdruck verändert? Und doch liefen ihr die Tränen über die Wangen. Sie hat auf den Namen mit Gefühl reagiert – und das ist außerordentlich bemerkenswert, denn in den vier Jahren, die sie schon hier lebt, haben wir sie nie irgendein Gefühl äußern sehen.«
Matthew starrte das Profil der Frau an. Sie saß völlig bewegungslos da; nicht einmal ihre Lippen bewegten sich und verrieten ihre geheimen Gedanken.
»Ich habe ihr den Artikel noch mehrmals vorgelesen und nichts ist passiert. Ich habe ihr den Namen genannt und nur einen Seufzer oder ein Verlagern ihrer Haltung geerntet. Aber mir ist Eure Anzeige aufgefallen und ich habe angefangen, mich zu fragen, ob Ihr uns helfen könnt. Denn hier handelt es sich wahrlich um ein Problem, das eine Lösung braucht. Curtis und ich haben darüber gesprochen, Samstag bin ich nach New York geritten und gestern zurückgekommen.«
»Die Erwähnung eines einzigen Namens bedeutet nichts«, widersprach Greathouse. »Ich bin ganz sicher kein Fachmann, aber warum sollte ihr der Name etwas bedeuten, wenn sie nicht ganz richtig im Kopf ist?«
»Es geht darum, dass sie einen Versuch gemacht hat.« Hulzen riss ein weiteres Streichholz an, um seine erloschene Pfeife neu anzuzünden. Sein Gesicht wurde in orangefarbenes Licht getaucht. »Wir sind davon überzeugt, dass ihr der Name vertraut ist und dass sie auf ihre Weise versucht, uns etwas mitzuteilen.«
Jetzt begann Greathouse sich zu ärgern. »Mit Verlaub, aber wenn diese Überzeugung Polsterung für eine Matratze wäre, würdet Ihr auf einem Brett schlafen.«
Matthew beschloss, etwas zu tun, um einen Streit zu verhindern. Er kniete sich neben die Frau, sah ihr Profil an, das so regungslos wie ein Gemälde war, und sagte leise: »Pennford Deverick.«
Flackerte etwas in ihrem Auge auf? Spannte der Mund sich leicht an, sodass sich eine Falte im Mundwinkel fast unmerklich vertiefte?
»Pennford Deverick«, wiederholte er.
Die beiden Ärzte und Hudson Greathouse beobachteten ihn stumm.
Matthew nahm an Madam keine Reaktion wahr, und doch … umklammerte ihre linke Hand die Armlehne mit ein wenig mehr Druck?
Er lehnte sich näher zu ihr heran. »Pennford Deverick ist tot.«
Plötzlich drehte sie geschmeidig den Kopf und Matthew sah ihr ins Gesicht. Die abrupte Art der Bewegung hatte ihn nach Luft schnappen und zusammenzucken lassen, aber er zwang sich, die Ruhe zu bewahren.
»Junger Mann«, sagte sie mit klarer, fester Stimme, und obwohl ihre Mimik sich vom Betrachten der Glühwürmchen nicht verändert hatte, lag in ihrem Ton etwas Hartes wie Verärgerung. »Ist die Antwort des Königs inzwischen eingetroffen?«
»Die … Antwort des Königs?«
»Das war meine Frage. Wenn Ihr bitte antworten würdet?«
Matthew sah hilfesuchend zu den Ärzten hoch, aber sie sagten nichts und boten ihm keinerlei Beistand. Hulzen paffte weiter an seiner Pfeife. Matthew beschlich das Gefühl, dass sie diese Frage schon gehört hatten. »Nein, Madam«, antwortete er nervös.
»Kommt mich holen, wenn sie eintrifft«, sagte sie und wandte ihr Gesicht wieder dem Fenster zu. Matthew spürte, wie sie sich von ihm entfernte, obwohl sich ihre körperliche Position um keinen Millimeter verschob. Ein paar Sekunden später war sie wie in weiter Ferne.
»Deshalb wird sie die Königin genannt«, sagte Ramsendell. »Diese Frage stellt sie mehrmals jede Woche. Eines Tages hat sie Charles gefragt, ob die Antwort des Königs eingetroffen ist, und er hat den anderen davon erzählt.«
Matthew machte einen neuerlichen Versuch. »Madam, welche Frage habt Ihr dem König denn gestellt?«
Sie reagierte nicht.
Matthew erhob sich. Er betrachtete immer noch grüblerisch ihr Gesicht, das nun so starr wie das einer Statue war. »Habt Ihr ihr jemals gesagt, dass die Antwort gekommen ist?«
»Ja«, sagte Hulzen. »Nur als Experiment. Sie schien darauf zu warten, dass ich irgendetwas tat. Als ich nicht so handelte, wie sie es zu erwarten schien, ist sie wieder in ihren Traumzustand verfallen.«
»Traumzustand«, brummelte Greathouse flüsternd.
Während Matthew die Königin der Verdammten anstarrte, wurde er sich mit einem Mal bewusst, dass er wiederum von vier anderen Augenpaaren scharf beobachtet wurde. Er wandte sich von der alten Dame ab. Sein Blick fiel auf etwas, das das gelbe Lampenlicht nahe dem Fenster an der gegenüberliegenden Wand beleuchtete.
Sein Mund wurde trocken.
Mit Mühe fragte er: »Was ist das da?«
»Oh.« Ramsendell schwenkte die Hand. »Ihre Masken.«
Matthew ging bereits am Sessel der Königin, an Greathouse und den beiden Ärzten vorbei auf die vier an der Wand hängenden Masken zu. Er war zuvor so auf die alte Dame konzentriert gewesen, dass sie ihm nicht aufgefallen waren. Zwei der Masken waren in einfachem Weiß gehalten, eine war rot mit schwarzen Rauten auf den Wangen und die vierte war schwarz mit roten Rauten um die Augenlöcher herum.
»Die sind mit ihr eingetroffen«, sagte Ramsendell. »Ich glaube, dass sie vielleicht aus Italien sind.«
»Zweifelsohne«, murmelte Matthew. Er dachte an das, was Ashton McCaggers ihm gesagt hatte: In der italienischen Kultur werden Karnevalsmasken manchmal mit farbigen Rauten oder Dreiecken über den Augen verziert. Insbesondere die Harlekinmasken von …
»Venedig«, sagte Matthew und schaute zur anderen Seite des Zimmers auf das bläuliche Gemälde, das die Stadt der Kanäle zeigte. »Vielleicht ist sie irgendwann einmal dort gewesen.« Er sprach hauptsächlich zu sich selbst. Wieder betrachtete er das Maskenquartett. Dann das Gesicht der Frau. Und dann den Ohrenkneifer, den Ramsendell noch immer in der Hand hielt.
Es war fast, als würde Matthew die Distanz zwischen diesen Dingen so unbeirrt wie ein Landvermesser berechnen. Nicht in Metern, sondern was der zwischen ihnen liegende Abstand bedeutete: Das ruhige Gesicht der Königin, die Masken an der Wand, die Zeitung – und hin und her und her und hin. Von Deverick zu den Masken, dachte er. Oder von Deverick zum Maskenschnitzer?
»Was ist?«, fragte Greathouse, der Matthews Aufregung spürte.
Matthew fuhr mit dem Finger über die roten Rauten, die um die Augen der schwarzen Maske gemalt waren. Ja, sie waren ähnlich wie die Wunden der Maskenschnitzer-Opfer – ähnlich oder identisch? Er drehte sich wieder um und musterte die Königin, versuchte zu begreifen, was da gerade in seinem Kopf Gestalt annahm: Dass sie, eine traurige und doch beeindruckende Person, genau in der Mitte dieser unbekannten Geometrie zwischen Pennford Deverick und seinem Mörder in ihrem Sessel saß.
Zwei Dinge ließen sein