Mami Staffel 6 – Familienroman. Claudia Torwegge
nicht nach. Zornig stieg sie in ihren Wagen und brauste davon, während ihr Opfer kopfschüttelnd die Konditorei betrat.
Dort erlöste ihn kaltes Wasser und ein Glas Cocnac von den schlimmsten Qualen. Der Ärmste schimpfte noch auf die rücksichtslose Megäre, die ihn beinahe amputiert und reichlich ramponiert hatte, als Nathalie längst ihren Wagen in die stille Seitenstraße lenkte, in der sie seit fünfzehn Jahren mit ihrer Familie lebte.
*
Regina Klee wohnte direkt nebenan und freute sich immer, wenn sie auf Stephanie, den jüngsten Sproß der Familie Reinke, aufpassen durfte. Da den Klees selbst Kindersegen bisher versagt geblieben war, besaß Regina noch diesen unerschütterlichen Glauben, daß alle Kinder nett, süß und liebenswert sind. Davon konnte sie auch Steffis manchmal beachtlichen Dickkopf nicht abbringen.
»War sie artig?« wollte Nathalie wissen, als sie ins Wohnzimmer kam, in dem Steffi ihre gesamte Legokollektion ausgebreitet hatte.
Die Kleine sah nur kurz von ihren Bauarbeiten auf, lächelte ihrer Mutter zu und widmete sich dann wieder ihrem Spiel.
»Sehr artig«, behauptete Regina überzeugt. »Wir haben Milchreis gegessen und dann haben wir einen schönen Turm gebaut, nicht wahr, Steffi?«
Die Kleine nickte, ohne ihr Spiel zu unterbrechen.
»Und wie war’s bei dir?« wollte Regina nun ihrerseits von Nathalie wissen.
Allein die Art, wie Nathalie bei dieser Frage das Gesicht verzog und die Fäuste ballte, war schon Antwort genug.
»Hast du dir schon mal gewünscht, daß jemanden der Blitz trifft?« erkundigte sich Nathalie mit leiser Stimme, um Steffi nicht auf sich oder vielmehr auf das Gespräch aufmerksam zu machen.
»Ich verstehe«, nickte Regina hastig. »War diese – du weißt schon wer – dabei?«
»Paps neue Fleundin«, meldete sich Steffi aus dem Untergrund. Zweimal die Woche besuchte Nathalie mit ihr eine Logopädin, da Stephanie einfach kein »R« sprechen konnte, aber bisher wurden alle sprachpädagogischen Anstrengungen von wenig Erfolg gekrönt. »Sie ist doof.«
»Ja, sie war dabei«, seufzte Nathalie. Die Erinnerung an dieses Treffen jagte ihren Blutdruck erneut in die Höhe. »Ich erzähle dir alles nachher. Jetzt brauche ich erst einmal einen Kaffee. Einen Kaffee und mindestens fünf Zigaretten, damit ich wieder auf Normal Null komme.«
»Legina sagt, Lauchen macht klank«, meldete sich Steffi erneut. »Walum lauchst du, Mama?«
»Weil deine Mama unvernünftig ist, jawohl«, erwiderte Nathalie wahrheitsgemäß. »Und weil deine Mama heute ganz furchtbar schlechte Laune hat. Also solltest du sie nicht dauernd irgendwas fragen, sonst wird ihre Laune vielleicht noch schlechter.«
»Walum hast du schlechte Laune?«
»Weil –« Nathalie seufzte. »Ach, das erzähle ich dir ein anderes Mal. Jetzt räum mal deine Steine weg und dann sieh nach, was Sandra macht. Sag ihr, daß ich Punkt drei Uhr mit ihr losgehen möchte.«
»Wohin?« Steffi war im besten Fragealter.
»Zum Optiker«, seufzte Nathalie, der die Unterhaltung mehr und mehr auf die Nerven ging. »Du weißt doch, daß sie eine Brille braucht. Heute bin ich genau in der richtigen Stimmung für einen solchen Kauf.«
»Glaubst du?« mischte sich Regina skeptisch ein.
»Ja, das glaube ich«, beharrte Nathalie auf ihrem Vorsatz und scheuchte Steffi aus dem Zimmer.
Doch den Frauen blieb keine Zeit, sich über die Ereignisse im Café Wagner zu unterhalten, denn kaum hatte Steffi die Treppe ins Obergschoß erklommen, da erhob sich oben ein mittelschwere Sturm, der mit Türenschlagen und hysterischem Gekreische Einzug hielt. Gleich darauf stolperten schwere Doggers die Treppenstufen herunter.
»Nein, Mama, das darfst du mir nicht antun!« Sandra Reinke erschien total aufgelöst im Wohnzimmer. »Ich will keine Brille, hörst du! Wenn ich so ein Ding aufsetzen muß, gehe ich nie mehr auf die Straße. Ich schließe mich den ganzen Tag in mein Zimmer ein und komme nie wieder heraus.«
Nathalie musterte ihre Tochter mit einem langen, abschätzenden Blick. Als sie sprach, ließ ihr Ton keinen Widerspruch mehr zu.
»Wir diskutueren jetzt seit drei Wochen über dieses Thema. Du bist blind wie ein Maulwurf, das wissen wir inzwischen beide, nicht wahr? Und heute wird endlich etwas dagegen getan. Ich kann mir leider keinen Blindenhund für dich leisten.«
»Aber eine Brille macht mich unmöglich!« kreischte Sandra, obwohl sie der Ton ihrer Mutter hätte warnen müssen. »Keine Castingagentur nimmt mich mit so einem Ding auf der Nase. Du vernichtest meine Karriere, wenn du mich zwingst, damit herumzulaufen.«
Nathalie stemmte die Fäuste in die Seiten.
»Paß auf!« forderte sie barsch. »Ich habe heute sehr, sehr schlechte Laune. Und du weißt, wenn ich schlechte Laune habe, lasse ich nicht mit mir handeln. Also hör’ auf, mich anzuschreien, und finde dich mit deinem grausamen Schicksal ab. Heute bekommst du eine Brille. Und du wirst sie tragen. Ende der Diskussion.«
Sandra schossen die Tränen in die Augen. Sie war ein hübsches Mädchen, mit langen, honigblonden Haaren, die sie im Nacken mit einem roten Band zusammengebunden hatte.
Gerade vierzehn Jahre alt, steckte sie mitten in diesem schrecklichen Alter, in dem man nie weiß, was man nun eigentlich ist. Gehörte man schon zu den Großen? War man noch ein Kind? Die ganze behütete, herrliche Zauberwelt, in der man bisher gelebt hatte, war plötzlich aus den Fugen geraten, und ein Traum nach dem anderen wurde einem geraubt. Wie gesagt, keine leichte Zeit!
Irgendwann war es Nathalie aufgefallen, daß Sandras Nase beim Lesen buchstäblich an den Buchseiten klebte. Die anschließende Untersuchung beim Augenarzt hatte dann ergeben, daß das Mädchen extrem kurzsichtig war und dringend eine Sehhilfe benötigte.
Das gefiel Sandra natürlich überhaupt nicht. Seit drei Wochen versuchte sie nun, den Gang zum Optiker zu vermeiden, aber so wie es aussah, schien heute der Tag X gekommen zu sein, an dem die Brille nicht mehr zu umgehen war.
Sandra wollte es noch nicht ganz wahrhaben.
»Ich ziehe das Ding nicht auf!« verkündete sie bockig, wobei die ersten Tränen in ihren schönen, bernsteinfarbenen Augen glitzerten. »Da kannst du dich auf den Kopf stellen und mit den Füßen wackeln. Sobald ich dieses Haus verlasse, ziehe ich das häßliche Ding ab und werfe es in den nächsten Gully.«
»Dann bekommst du eine neue und verzichtest für den Rest deines Teenagerlebens auf Taschengeld«, lautete Nathalies Antwort. Sie ging in die Küche, um die Kaffeemaschine in Gang zu setzen. Sandras zorniges Aufheulen folgte ihr.
»Eine Brille ist doch kein Weltuntergang«, versuchte Regina die Nachbarstochter von den Vorzügen einer Sehhilfe zu überzeugen. »Schau doch mal, du wirst viel besser sehen und mußt dich nicht…«
»Laß mich in Ruhe!« kreischte Sandra und raste die Treppe hinauf. Das letzte, das Regina und Nathalie von ihr hörten, war ein zorniges Kreischen und dann das Zuschlagen ihrer Zimmertür.
»Oje!« Regine kam dann in die Küche und sah besorgt zu, wie Nathalie Kaffeepulver in den Filter häufte.
»Vielleicht solltest du heute doch besser auf den Gang zum Optiker verzichten«, versuchte Regina, ihre Freundin von dem Vorhaben abzubringen. »Das ist heute nicht dein Tag, fürchte ich. Du hast dich schrecklich über Werner geärgert und willst jetzt Dampf ablassen. Das ist okay, aber du solltest dafür nicht deine Kinder mißbrauchen.«
Nathalie fuhr so abrupt herum, das Regina erschrocken zurücksprang.
»Ich habe mir heute wirklich genügend Unsinn anhören müssen!« fuhr Nathalie die Nachbarin unbeherrscht an. »Jetzt komm du mir nicht auch noch mit Vorwürfen und weiß ich was für seltsame Umschreibungen und Ausreden. Alles, was ich will, daß meine Tochter ohne Blindenbinde und Stock über die Straße gehen kann. Wenn du das als Mißbrauch oder Willkür auslegen möchtest, dann