SEELENHANDEL. Kealan Patrick Burke
und für einen Moment kann ich den echten Jungen sehen, den, der tief drinnen in dem Anzug versteckt ist, den Jungen, der auf seine Manieren Acht gab, wenn seine Tante zu Besuch kam, der vorm Essen ein Tischgebet gesprochen und gebibbert hat, als er sein erstes Date hatte. Ein typisch amerikanischer Junge, der auf seinem Lebensweg überfahren und seiner Träume beraubt worden ist, daraufhin mit ein paar ausgewählten Drogen, einer Knarre und einer Nutte zusammengeflickt und wieder losgeschickt worden ist. Nur um hierher zu finden, wo sein Möchtegern-Scharfrichter versucht, ihm gut zuzureden.
»Was für’n Pack von komischen Typen haben wir uns hier denn aufgesackt, Carla?«
Die Frau am Boden antwortet nicht, aber ich nehme das kaum wahr, da ich jetzt ihren Namen weiß und der tanzt in grellem Neonlicht vor meinen Augen, verspottet mich. Ich hatte ihn nicht wissen sollen. Ich will ihn nicht wissen, aber da ich ihn nun kenne, werden ihre Geister Namen haben.
Wintry dreht sich mit schweißnassem Kopf auf seinem Stuhl um und steht auf. Der Ausdruck auf seinem Gesicht ist schwer lesbar, aber seine große Nase bläht sich an der Spitze wie die eines im Angriff begriffenen Stiers.
»He, Moment.« Der Junge ist sichtlich eingeschüchtert. »Hocken Sie sich sofort wieder hin, großer Mann, oder ich muss Sie abknallen.«
Wintry bewegt sich nicht, aber sein Blick richtet sich auf das hingefallene Mädchen.
»Was machst du denn?« fragt Flo und greift nach seinem Ärmel. »Setz dich hin.«
Doch Wintry setzt sich nicht. Er schaut zu mir rüber und nickt, so als wäre das ein Zeichen für irgendwas, als ob er meint, ich sei clever genug, um seine großen braunen Augen zu lesen – oder vielleicht denkt er, dass er mir seinen Plan schon telepathisch mitgeteilt hat. Was auch immer, mir bleibt nicht genügend Zeit, es zu analysieren, da Wintry sich bereits in Bewegung gesetzt hat und an mir vorbeigeht, wobei seine Jacke ein reißendes Geräusch macht, als sie meine ausgestreckten Finger streift. Sie riecht nach Kiefernharz und Rauch.
»Warte …«
Mein Einspruch wird von Flos panischem Schrei übertönt. »Wintry, nein!«
Wintry geht weiter.
Der Junge versteift sich. »He, ich hab gesagt, setz dich hin, Mann.«
»Verdammt noch mal«, bringt Gracie hervor. »Tu, was er sagt.«
Der Junge zielt mit der Waffe auf den Brustkorb des großen Mannes, leckt sich die Lippen.
Wintry geht weiter, aber er steuert nicht den Jungen an. Er geht auf das Mädchen zu, und das muss der Junge doch sehen. Sicher wird er verstehen, was der schwarze Mann vorhat, verstehen, was ich nicht konnte, und …
Es kracht, als sei Donner unter der Tür durchgeschlüpft, Licht explodiert und Wintry hört auf weiterzugehen.
Flo schreit; ihre Hände fliegen zu ihrem Gesicht wie eine Maske aus Fingern.
Das Mädchen auf dem Boden wimmert und schaut hoch. Ihr Gesicht ist ein Gewirr von gezackten, blutigen Schrammen. Der Regen hat ihr Mascara zu waschbärähnlichen Ringen unter den glasigen Augen verwischt. Ihr Lippenstift verläuft quer über die Wange. Sie sieht uns einen nach dem andern an, als ob sie erst jetzt gemerkt hat, dass wir hier sind.
Meine Ohren klingeln.
Ich warte darauf, dass Wintry nach unten guckt, um sich den Schaden anzusehen, so wie es die Leute im Film immer tun, bevor sie zugeben, eine tödliche Wunde zu haben und zu Boden fallen. Wintry wird einen Riesenknall machen, wenn er fällt. Meine Gedanken überschlagen sich, suchen nach etwas, das ich sagen oder tun kann, aber der Schuss hätte ebenso gut durch mein Gehirn gehen können.
»Wintry …«, schluchzt Flo.
Aber als der Rauch sich schließlich verzieht, der wie Bodennebel zwischen dem großen schwarzen Mann im Parka und dem Pärchen bei der Tür wabert, ist es der Junge, der nach hinten taumelt und mit dem Rücken gegen die Tür in eine Sitzposition fällt. Auf seinem Gesicht zeichnen sich Schock und Verwirrung ab; auf seinem Hemd erblüht eine rote Blume.
»Na, na«, sagt der Reverend.
Ich höre, wie Flo der Atem in der Kehle stockt.
Rauch schwebt weiterhin unter Kyles Tisch hervor. Der Bengel kam heute Abend her um jemanden zu erschießen, aber die Kugel mit meinem Namen drauf steckt nun im Bauch des Mannes, den ich hätte umbringen sollen. Ich werde damit warten, über diese Ironie des Schicksals nachzudenken. Jetzt ist nicht genügend Zeit.
Stille hängt schwer im Raum. Endlich finde ich die Sprache wieder. »Wintry, mach schon.« Er geht weiter, hält bei dem Mädchen an, obwohl seine Augen auf dem verwundeten Jungen ruhen und dem Revolver, den er noch immer in der Hand hat.
Mit einer ungewöhnlich lebendigen Bewegung tritt Kadaver aus dem Schatten hervor. Er sieht grimmig aus, sein schwarzer Plastikregenmantel wirbelt um ihn herum. Seine Hüfte versetzt den Tisch ins Wackeln; eine weitere Münze fällt von ihrem Turm. Außer Wintry und dem Mädchen ist er am nächsten an dem Jungen dran und weiß es. Er eilt an seine Seite, beugt sich runter und schaut den Jungen mitleidig an, bevor er ihm die Waffe wegnimmt. Der Junge wehrt sich nicht. Weil das kleine Mikrofon, das Kadaver gegen das Metallkästchen in seiner Kehle pressen muss, um gehört zu werden, noch hinten auf seinem Tisch ist, keucht er seine Worte, aber niemand außer ihm und dem Jungen hören sie. Der Junge starrt den alten Mann an als glaubte er, der Tod persönlich sei erschienen, um ihn abzuholen, und antwortet: »Brody. James Brody.«
Und damit ist mein Albtraum komplett.
»Shit«, murmele ich und presse Daumen und Zeigefinger gegen meine Augen.
Etwas kracht und alle springen auf, haben sich erschreckt, fragen sich zweifellos, welche Katastrophe jetzt über uns hereingefallen ist: Vielleicht ist das Unwetter, die Hand Gottes, gekommen, um uns einen nach dem andern heimzusuchen, ganz so, wie wir es verdient haben. Aber es ist nichts derartig Dramatisches. Es ist Flo, die mit dem Arm quer über die Theke ausgeholt und diverse Gläser und Flaschen zu Boden krachen gelassen hat.
»Was zu Teufel?« Cobb steht auf, sieht an sich und auf die zerschmetterten Überreste seines Budweiser herunter, aber ich weiß, was sie tut und lobe sie im Stillen dafür.
»Bring sie her«, ruft sie Wintry zu, und er hebt das Mädchen hoch, als ob sie nicht schwerer als ein leerer Sack ist.
Kyle starrt immer noch Brody an, der in der Ecke nach Luft schnappt, als ob er Blei in der Lunge hat. Wenn das der Fall wäre, müsste er schon tot sein, denke ich, aber es ist schwierig, die Reaktion eines Mannes richtig einzuschätzen, dessen Körper von einer Bleikugel beleidigt worden ist.
Kadaver, der immer noch bei Brody ist, schaut über seine Schulter zu mir und formt mit den Lippen die Worte: »Braucht Hilfe.«
Ich weiß, dass er Hilfe braucht, aber die Anwesenheit des Reverend ist wie ein zusätzlicher Schatten an meiner Seite, der mich an die Sinnlosigkeit unseres Tuns erinnert. Ob wir nun diese beiden jungen Pechvögel wieder zusammenflicken oder nicht, sie werden trotzdem sterben, bevor die Nacht vorbei ist. Doch Cobb hilft jetzt Flo und sieht wie der seltsamste Krankenpfleger der Welt aus, als sie ausgefranste Geschirrtücher über die Theke breiten. Gracie redet in beruhigendem Tonfall auf das Mädchen ein. Ich kann jetzt sehen, dass sie eine breite Schnittwunde über der Brust hat und noch eine irgendwo im Gewirr ihrer Haare, von wo Ströme von Blut ihren Nacken hinunterlaufen. Als Wintry das Mädchen auf die Theke legt und dann umkehrt, um ihren Freund zu holen, nimmt Flo ihre Hand. Außer Kyle, von dem ich annehme, dass er selbst unter Schock steht, dem Reverend und mir helfen alle, obwohl jeder von uns in die furchtbare Wahrheit eingeweiht ist; eine Wahrheit, die wir nicht wissen sollten.
Diese jungen Menschen haben keine Chance.
Aber das scheint im Moment nicht wichtig zu sein. Immerhin sind sie hier, obwohl sie nicht hier sein sollten, und die Autoschlüssel, die Schlüssel zu ihrem Schicksal, sind noch in meiner Tasche.
Also mache ich das Einzige, das noch zu tun bleibt. Ich gehe zu Kyle.
Ein paar Schritte von seinem Tisch entfernt halte ich an,