Gesammelte Werke. Franziska Gräfin zu Reventlow
und trocken war, fanden sie, daß nun etwas Neues kommen müsse. Anfang April, an einem warmen, lichten Tage, durchstreiften sie den ganzen Garten, diese unerschöpfliche Märchenwelt von Abhängen, Gebüschen und halbverwachsenen Wegen, wo man immer wieder etwas entdeckte: Plätze, wo sie noch nie gewesen waren, Pflanzen, die sie nicht kannten, Ameisenhaufen, Vogelnester und so vieles andere. Besonders war es der breite Schloßgraben, der sie anzog, mit seinem geheimnisvollen, grünen Wasser, auf dem sonderbare große Spinnen wie auf Schlittschuhen hinglitten. An den Abhängen blühten schon die weißen Sternblumen und die Weidenzweige hingen tief herunter. Zuletzt kamen sie in die verwilderte Schlucht, die zwischen Garten und Koppel lag, mit einem schmalen Fußweg mitten durch und ein paar krummen Holunderbäumen.
Geerd ging wie immer zwischen den beiden andern, die sich so ähnlich sahen, daß man sie in gleichen Kleidern fast für Zwillinge halten konnte. Trotz der zwei Jahre, die zwischen ihnen lagen, waren sie fast gleich groß, beide mit kurzem, blondem Haar und den scharfen Olestjerneschen Familienzügen. Ellen war im Lauf der Jahre kräftig und gesund geworden und stolz darauf, daß sie es mit jedem gleichaltrigen Jungen aufnehmen konnte. Es war Bundestag heute, und sie ratschlagten gewaltige Pläne, gingen ernst prüfend umher und maßen die Schlucht mit den Augen. Dann wurde Geerd das Wort zuerteilt, und er schwang sich in einen Baum, um seiner Rede mehr Nachdruck zu verleihen:
»Bundesgenossen, hier wollen wir unser Reich gründen – unser Königtum –, von hier aus soll es wachsen, sich ausbreiten und die Nebenreiche verschlingen, wo jetzt noch unsere Feindin, die grimme Fürstin Anna Juliane, herrscht. Wir wollen sie entthronen und uns zinsbar machen.«
Die beiden andern stimmten ein furchtbares Kriegsgeheul an und schwangen ihre hölzernen Speere.
Von früh bis spät waren sie jetzt draußen an der Arbeit, rammten Pfähle in die Erde, schleppten Tannenzweige und Moos herbei und bauten Hütten. Mit vieler Mühe hatten sie sich die Erlaubnis errungen. Die Mutter wollte erst nichts davon wissen, aber Detlev hörte nicht auf, sie zu bestürmen, und schließlich erfuhr der Vater von der Sache und kam ihnen zu Hilfe. Er nahm sogar lebhaftes Interesse daran und ging selbst mit hinaus, um ihnen die Grenzen ihres Gebietes anzuweisen.
Das Königreich wuchs nun rasch empor, es wurden Straßen gelegt, Felder und Bauplätze abgemessen. Auf dem freien Platz in der Mitte erhob sich eine große Hütte aus Brettern und Backsteinen, das war der Tempel, denn sie hatten sich heimlich vom Christentum losgesagt und eine neue Religion erdacht. Im Tempel stand die Bundeslade, in der geraubte Schätze verborgen wurden, und ein unförmlicher Götze aus Holz, den hatten sie selbst in vielen mühsamen Stunden geschnitzt und angemalt. Er hieß der Mohu und wurde mit Opfern, Gesängen und wilden Tänzen gefeiert.
Vier Wochen lang hatten sie unermüdlich geschafft, da kam plötzlich ein Blitz aus heiterem Himmel – Ellen und Detlev wurden eines Morgens zu Mama gerufen: im Wohnzimmer saß eine blasse Dame mit schwarzem, glattem Haar. Die Geschwister sahen sich erschrocken an, das konnte nur die neue Gouvernante sein, an die sie schon längst nicht mehr geglaubt hatten. Sie mußten ihr guten Tag sagen und erfuhren, daß sie Cläre Huhn hieß; darüber wären sie beinah ins Lachen geraten und vermieden ängstlich, sich anzusehen. Fräulein Huhn war sehr freundlich und hatte feuchtkalte Hände.
»Nicht wahr, wir wollen jetzt recht fleißig zusammen sein? Ihr müßt mich aber auch etwas lieb haben und mich du nennen.«
Dann wurden sie wieder entlassen. Zum Draußenarbeiten hatten sie heute die Lust verloren, und als Geerd am Nachmittag kam, fand er die beiden melancholisch neben einer angefangenen Hütte sitzen. Ellen war verzweifelt: nun sollte das Jammerleben wieder anfangen – Stunden – Schelte – Nachsitzen, und hinter all diesen Schrecknissen stand Mama und die Ecke im Wohnzimmer, wo sie stricken mußte. Geerd versuchte sie mit Bonbons zu trösten, und allmählich wurde der Schmerz etwas milder. Dann schlug er einen Trauergottesdienst vor, – alle drei rauften sich die Haare und schlugen sich an die Brust, während sie den Mohu umtanzten und seinen Fluch auf Cläre Huhn herabriefen. Sie sollte ihm zu Ehren geschlachtet und verbrannt werden, wenn er seinen treuen Dienern zu Hilfe kam. Danach lag jeder vor seiner Hütte, und sie pflogen Rat, was jetzt zu tun sei. Alle drei waren in kriegerischer Stimmung und verlangten danach, sich auszutoben. Detlev kroch vorsichtig den Abhang hinauf, um zu sehen, ob nicht etwa wieder die Dorfkinder zum Blumenpflücken in die Koppel eingebrochen wären. Und richtig, da war eine ganze Rotte, raufte Feldblumen und trat das Gras nieder. Nun erhoben sich auch die beiden andern, sie schlichen geduckt am Wall entlang und umzingelten den Feind. Bald war eine wütende Prügelei im Gang, die Bundesgenossen trugen trotz ihrer geringen Zahl den Sieg davon und machten ein paar Gefangene, die übrigen entflohen unter zornigen Drohreden. Nun hielten sie Gericht: den Mädchen banden sie mit Taschentüchern die Augen zu und stürzten sie vom Wall herab. Ein Junge, der sich heftig zur Wehr setzte, sollte mit in ihre Stadt geschleppt werden. Sie warfen ihn nieder, zogen ihn an Armen und Beinen über das Gras hin zu den Hütten, wo er dann noch ein paarmal hin- und hergeschwenkt und in einen großen Brennesselbusch geworfen wurde. Damit war ihr Blutdurst gestillt, und der Gerichtete durfte mit ziemlich zerrissenen Kleidern heimgehen, während das Geschwisterpaar mit seinem Freunde frohlockend den Mohu umtanzte.
Nach diesem stolzen Tage fing das Schulleben für Ellen und Detlev wieder an. Es war wenigstens ein Glück, daß die neue Lehrerin nicht im Hause wohnte und nur zu den Stunden kam. Die Kinder wußten bald, daß mit ihr nicht so leicht fertig zu werden war wie mit der früheren, die sie jetzt in der Erinnerung mit einem förmlichen Nimbus umgaben.
Die Mutter hatte eingehend mit ihr über Ellen gesprochen, und das Fräulein nahm sich vor, das unmögliche Kind mit gütiger Strenge zu zähmen. Dadurch hatte sie von vornherein verloren; Ellen wand sich geradezu vor diesen eindringlichen Blicken und feuchten, ermahnenden Händedrücken, die an ihre Seele heranwollten. – Draußen blühte der Sommer, der Rasen vor dem Fenster wuchs immer höher empor, so daß man gerade in das bunte Gewoge von Gras und Blumen hineinsah. Dahinter breiteten die Kastanienbäume ihre grünen Gewölbe mit den weißen Blütenkerzen bis auf den Boden nieder. – Ellen und Detlev saßen sich gelangweilt gegenüber, platzten manchmal zur Unzeit in Gelächter aus und widerstrebten aus tiefstem Herzen jedem Wort, das die schwarze, glattgescheitelte Lehrerin sagte. Kaum war die Stunde zu Ende, so rannten sie wie kopflos davon und mußten zehnmal zurückgerufen werden, um das Tintenfaß, ihre Bücher oder sonst etwas wegzuräumen. Dann stürzten sie zu den Hütten und warteten auf Geerd.
Jeder Tag brachte neue Gedanken, neue Pläne und Taten. Sie gruben Kanäle, legten Inseln drunten im Graben an und befuhren das schlammige, grüne Wasser in einem alten Backtrog oder auf Bretterflößen. Das war die stolze Flotte, die von fernen Gestaden unermeßliche Schätze brachte und mehr wie einmal strandete.
Jeden Monat wurden die Ämter und Würden neu verteilt, so waren sie abwechselnd Könige, Minister und hohe Kirchenfürsten in prunkvollen Gewändern aus farbigem Glanzkattun, mit Kronen und Bischofsmützen aus Goldpapier. Dann legten sie sich Namen und Wappen bei, und jeder erdachte sich eine verwickelte Sage über die Abstammung seines Geschlechtes, die mit gemalten Anfangsbuchstaben und absonderlichen Ungeheuern geschmückt, niedergeschrieben und in der Bundeslade aufbewahrt wurde, neben den langen Papierrollen mit Gesetzen.
Dann ging der Sommer herum, das Moos an den Hütten vermoderte, und draußen mußte die Arbeit ruhen. Dafür gab es nun Reichstage, Kunstausstellungen von selbstgemalten Bildern, glänzende Mohufeste mit Prozessionen durch das ganze Schloß und Turniere im Rittersaal. Grüngestrichene, hölzerne Gartenstühle waren die stolzen Rosse, die sich hoch aufbäumten, während die Recken sich mit höhnischen Reden zum Kampf herausforderten und mit eingelegter Lanze aus dem Sattel zu heben suchten.
An einem Sonntagabend im Winter saßen die drei Kinder allein im Eßzimmer.
Es war heute nichts Rechtes mehr anzufangen, Ellen mußte noch für morgen lernen, und Geerd sprach ein paarmal davon, jetzt nach Hause zu gehen. Aber jedesmal suchte Detlev wieder etwas Neues hervor, um ihn festzuhalten. Schließlich wühlte er den ganzen Bücherschrank durch und kam mit einem Stoß von alten Bilderbüchern wieder, die von irgendeiner Großmutter stammten. Sie blätterten darin herum und sahen gelangweilt auf all die ausländischen Tiere, Pflanzen und Völkertrachten.
»Jetzt kommen Eingeweide und Gerippe«, kündigte