Gesammelte Werke. Franziska Gräfin zu Reventlow

Gesammelte Werke - Franziska Gräfin zu Reventlow


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solchen Tagen mußte sie oben bleiben und durfte sich nicht mehr vor der Mutter blicken lassen. Da lag sie dann auf dem Bett und spann endlose Pläne. Wieder und wieder malte sie sich aus, wenn sie nur erst erwachsen wäre und von zu Hause fort könnte. Die Zirkusgedanken hatte sie jetzt allmählich aufgegeben, es war doch wohl zu spät geworden. Aber das stand ihr immer noch fest, irgendwann einmal mußte sie sich freimachen von diesem unerträglichen Leben und in die Welt hinaus, in die unbekannte verheißungsvolle Welt.

      An einem Sonntagmorgen, als Ellen zum Frühstück hinunterkam, las Mama gerade einen Brief.

      »Nun ist alles in Ordnung«, sagte sie und legte ihn neben ihren Teller. »Du kommst Ostern in die Pension nach A..., Ellen.«

      Ellen nahm diese Nachricht mit dumpfer Gleichgültigkeit hin. Von der Pension war schon oft die Rede gewesen, aber sie hatte bisher nie recht daran geglaubt.

      Es waren nur noch wenige Wochen bis Ostern. Sie machte ihrer Umgebung die letzte Zeit noch so schwer wie möglich. Nur mit Detlev allein war es anders, da taute ihr ganzer Schmerz auf, daß sie fort sollte, von ihm und von der Heimat. Die beiden waren noch nie einen Tag getrennt gewesen, hatten jedes Erlebnis, jede Empfindung geteilt, seit sie denken konnten. Sie wußten es nicht zu fassen, daß sie jetzt voneinander gerissen wurden, daß wirklich einmal der letzte Tag käme. Aber er kam, und er ging vorüber – am Abend sollte Ellen mit ihrer Mutter abreisen.

      Nach Tisch schlichen sich die beiden Jüngsten hinauf in die alte Kinderstube. Beim Essen hatten sie Wein bekommen, ihre Köpfe brannten, – so hielten sie sich lange umschlungen und weinten ihre bittersten Tränen. – Zwei Jahre – zwei endlose Jahre voneinander getrennt sein und lernen müssen, gequält werden, – sie fühlten beide, daß etwas Unwiderbringliches vorüber war und nie wiederkommen würde. Als man sie rief, kamen sie mit roten, verschwollenen Augen. Dann gingen alle zusammen an die Bahn. Vor den anderen weinten sie nicht mehr und küßten sich nicht.

      Detlev stand mit zusammengebissenen Zähnen abseits von den Geschwistern auf dem Perron und ließ keinen Blick mehr von Ellen, bis der Zug mit ihr und der Mutter in die weite Marschebene hineinfuhr.

      »Ellen Olestjerne soll hereinkommen.«

      Sie kam, machte die drei vorschriftsmäßigen Knickse – einen an der Tür, dann in der Mitte des Zimmers, wo die großen Blumen im Teppich waren, und den letzten, als sie vor der alten Dame stand.

      Die Pröpstin des freiadligen Stiftes zu A... saß an ihrem Schreibtisch. Sie war schon über sechzig Jahre alt und kannte keine Ruhestunden. Ihr strenges, wie in Stein gehauenes Gesicht mit der hohen, blanken Stirn hatte einen Zug von eiserner Energie – sie hielt sich sehr gerade, nur in der weißen schmalen Hand, die auf der geschnitzten Stuhllehne lag, war etwas von der Müdigkeit des Alters.

      »Was sind das für Sachen, Ellen? Du hast Hedwig Vogt ins Gesicht geschlagen?«

      »Ja, weil sie mich geärgert hat, das lasse ich mir nicht gefallen.«

      Die Pröpstin faßte Ellen ums Handgelenk und führte sie ans Fenster, wo es etwas heller war.

      »Vor allem, mein Kind, mäßige dich in deiner Art zu reden.«

      Ellen wollte etwas sagen, aber sie kam nicht zu Wort, die gestrenge Stimme sprach immer weiter mit ihrem harten, scharfklingenden S.

      »Es schickt sich überhaupt nicht, so aufzubrausen. Mit solchem Benehmen kommst du mir hier nicht durch, Ellen. Wenn du meinst, daß dir unrecht geschieht, kannst du zu mir kommen und dich beschweren. Ihr seid keine Gassenjungen.«

      »Ich wollte, ich wäre einer«, fuhr Ellen endlich dazwischen. Sie war empört, daß sie sich nicht selbst ihrer Haut wehren sollte.

      »Was sagst du da?« die Stimme wurde immer strenger und das S immer schärfer. »Nimm dich in acht, Ellen, ich weiß, wes Geistes Kind du bist. Deine Mutter hat mit mir gesprochen, und wenn ich sehe, daß in Milde mit dir nicht auszukommen ist, so gibt es noch andere Mittel.«

      Mein liebes Kind – die Frau Pröpstin hat uns wieder geschrieben, daß Du sehr eigensinnig bist und Dich mit den anderen Mädchen schlecht verträgst. Wirst Du denn nie aufhören uns immer neuen Kummer zu machen? Ich habe die Frau Pröpstin gebeten, Dich in strenge Zucht zu nehmen, und wir verlangen von Dir, daß Du Dir jetzt endlich Mühe gibst, anders zu werden. Mehr will ich heute nicht sagen, ich bete täglich zu Gott, daß er Deinen Sinn ändern möge.

      Die Geschwister lassen grüßen.

      Deine Mutter.

      Geliebtes, vielen Dank für Deinen Brief. Es ist schrecklich öde ohne Dich. In der Schule ziehe ich mich immer mehr zurück und gehe viel allein spazieren. Nachmittags dichte ich gewöhnlich.

      Dein schwarz und gelber Vogel ist gestorben, aber sei nicht traurig, ich will Dir mein anderes Männchen schenken. Ich habe zwei Photographien von Geerd gekriegt, aber Mama erlaubt nicht, daß ich Dir eine schicke. Jetzt weiß ich nichts mehr. Eure Briefe werden ja auch immer gelesen und da kann man nichts Ordentliches schreiben.

      Dein Detlev.

       A..., Juni 1885

      – – – morgen darf ich mit den D.'s und ihrer Mutter in die Stadt, da kann ich heimlich einen Brief einstecken und schicke ihn an Jens Ketelsen, der ihn Dir in der Schule geben soll. – Gott, Detlev, Du machst Dir gar keinen Begriff davon, wie schrecklich es hier ist. Man ist eingesperrt wie im Zuchthaus und kommt gar nicht heraus, außer bei dem langweiligen Spaziergang, wo man in Reih und Glied geht und vor jedem Hofwagen knicksen muß. Sonst immer nur lernen, den ganzen Tag, die Fleißigen lernen sogar auch bei der Promenade und im Bett. Ich bin schon sehr oft hereingefallen, gleich in der ersten Zeit, weil ich eine andre geohrfeigt hatte und die Treppe herunterrutschte. Dann waren wir neulich im Garten und haben Stachelbeeren gerappst. Nun dürfen wir in der Freistunde nicht mehr hinunter und kriegen ins Zeugnis, daß wir gestohlen haben. Und so weiter. – Übrigens hab' ich jetzt eine Flamme, sie heißt Editha und ist bei weitem die Hübscheste. Ich schwärme sehr für sie und habe schon viele Gedichte auf sie gemacht. – Hoffentlich komme ich Michaelis in die erste Klasse, dann sind wir immer zusammen. Leider geht sie nächste Ostern schon ab. Ach Du, ich weiß nicht, wie ich es hier noch so lange aushalten soll und dann noch ein ganzes Jahr. Die Pröpstin kann mich nicht ausstehen, gerade wie Mama, und sie können alle nicht begreifen, daß man toben muß, wenn man vergnügt ist. Wir dürfen uns hier nur ›sittsam und anständig bewegen‹.

      Ich schicke Dir eine Karikatur von unsrer Mademoiselle, die andern finden sie sehr ähnlich. Ich zeichne überhaupt in allen Freistunden. Aber laß um Gottes willen nichts herumliegen.

      Deine Ellen.

       Nevershuus, Oktober 1885

      Liebe Ellen, Deine Versetzung in die erste Klasse hat uns sehr gefreut und überrascht. Es ist mir sehr lieb zu hören, daß Du Deine frühere Trägheit abgelegt hast und gut weiterkommst. Nun sorge aber auch das nächste Mal für ein gutes Zeugnis im Betragen. Ich weiß, wie schwer es Dir wird, Deine Lebhaftigkeit zu zügeln, aber bedenke, daß Du jetzt am Konfirmationsunterricht teilnehmen und anfangen sollst, eine junge Dame zu werden. Wir müssen uns alle mehr oder minder in das Leben schicken. Sei herzlichst gegrüßt von Deinem Vater.

       A..., November 1885

      Liebster Detlev, eben hab' ich den Diener auf der Treppe erwischt, und er will mir den Brief besorgen. – Es hat eine große Mordsgeschichte gegeben, und wäre nicht die ganze Klasse dabei gewesen, so hätte man mich und Editha sofort geschwenkt. Die Alte will an all unsre Eltern sofort schreiben, und wir haben schon einen Preis ausgesetzt, wer den ärgsten Brief von zu Hause kriegt. Ich hab' aber doch verfluchte Angst vor den jungen Leuten. Denk' nur, wenn sie mich hier wirklich herausgeworfen hätten, es war nicht mehr weit davon. – Also es war so: Unsre Erste war letzten Sonntag nicht da, Editha als Zweite sollte sie vertreten, und wir überredeten sie, den Abend volle Freiheit zu geben. Als das Mädchen fort war, standen wir wieder auf. Maria Besserer blies die Mundharmonika, und wir sangen und tanzten. Nun ist hinten am Saal eine Tür, die auf den Speicher geht, und da bekamen wir Lust, eine Entdeckungsreise zu machen. Editha ging mit der Nachtlampe voran.


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