Gesammelte Werke. Franziska Gräfin zu Reventlow

Gesammelte Werke - Franziska Gräfin zu Reventlow


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Meer wurde rot, und die Heidehügel glühten. Allmählich losch alles wieder aus und nun wurde es rasch dunkel, die einzelnen Gestalten auf dem Deich sahen aus wie schwarze Silhouetten.

      »Wenn man das malen könnte,« sagte Ellen, »überhaupt malen können, alles, was es gibt.«

      Detlev lachte: »Immer noch Vogelbauer, Ellen! Du bist doch noch geradeso wie früher.«

      »Ja, aber ich werde meine jetzigen Vogelbauer doch noch einmal zusammenkriegen, darauf könnt ihr euch verlassen.«

      Sie gingen jetzt rasch den Deich entlang und sprachen von der großen Sturmflut vor acht Jahren. Es war die lange gerade Strecke, wo damals der Deich beinah gebrochen und nur einen Meter breit stehengeblieben war. Wie da die haushohen Wellen herüberschlugen und die Menschen, die sich hinauswagten, wie Papierfetzen herumflogen. – Dann kam das rote Deichwärterhaus mit dem kleinen, sonnenverbrannten Garten, der Bootschuppen, das Dock, wo alte Schiffe zum Ausbessern lagen. Dicht beim Hafen begegneten sie vielen Spaziergängern, immer die gleichen, die jeden Abend hier herausgingen, all die bekannten Gesichter aus der kleinen Stadt. Das Grüßen nahm kein Ende, hier und da mußten sie auch stehenbleiben und ein paar Worte sprechen, bis sie endlich in die schmalen Hafenstraßen einbogen, über den Markt unter dem Rathausbogen durch und schließlich die dunkle Kastanienallee zum Schloß gingen.

      Ein paar Tage später, als Ellen zur Stadt war, ging die Mutter in ihr Zimmer hinauf: »Ich muß doch einmal sehen, was sie da immer treibt, wenn sie allein ist«, dachte sie. – Ellen hatte vergessen wegzuräumen, da standen drei Bilder von Editha mit Blumen davor, auf dem Tisch lag ein langer, angefangener Brief an die Freundin, der bittren Weltschmerz atmete und endlose Klagen über Ellens elendes Los. Und daneben ein dickes, ledernes Buch mit selbstgeschriebenen Gedichten, das die Mutter noch nie gesehen hatte. Sie nahm es mit ins Wohnzimmer, setzte ihre Brille auf und las den ganzen Nachmittag. Als Ellen nach Hause kam, warf Mama ihr das Buch vor die Füße. »Du hättest es verdient, daß ich es dir um die Ohren schlage. Was ist das für ein unerhörtes Zeug? Schämst du dich denn nicht, so was zusammenzuschmieren? Das hört jetzt auf, verstanden? – Und was du da an deine Editha schreibst – du meinst wohl, daß dir arges Unrecht geschieht, wenn du nicht all deinen verrückten Einbildungen folgen sollst. Von jetzt an lese ich all deine Briefe, verlaß dich darauf.«

      Ellen stand zuerst wie versteinert. Wie konnte Mama sich das herausnehmen, in ihren tiefsten, innersten Geheimnissen herumwühlen – ja, jetzt schämte sie sich allerdings – ihr war, als ob man ihr alle Hüllen von der Seele gerissen hätte und dann kam eine sinnlose Wut über sie. – Sie schrie der Mutter alles ins Gesicht, was an Groll in ihr aufgespeichert war.

      »Ich wollte, ich wäre Gott weiß wo, nur nicht mehr bei euch, in dieser Hölle. Aber ich laß es mir nicht mehr gefallen. Lieber lauf ich fort oder bring mich um.«

      Einen Augenblick war es ganz still im Zimmer – Ellen hatte den Arm erhoben in drohender Abwehr: »Rühr mich nicht an, Mama!« Denn die Mutter hatte sie schlagen wollen.

      Ellen kam wieder fort von zu Hause. Der Vater hatte sie zu sich rufen lassen und lange mit ihr darüber gesprochen. Ihr ganzer Trotz zerfloß in Tränen – sie hatte nie geglaubt, daß Papa so gut wäre, so vieles verstehen konnte und ihr helfen wollte.

      So wurde sie denn auf längere Zeit zu ihrer Tante Helmine Olestjerne geschickt. Es war eine jüngere Schwester des Freiherrn, die für sich allein in ihrem eignen Haus und Garten lebte und eine besondere Vorliebe dafür hatte, sich bedrängter Jugend anzunehmen. Bei ihr konnte Ellen frei heraus mit allen ihren Beschwerden und unruhigen Wünschen. Schon am ersten Abend, als sie bei Tante Helmine in dem gemütlichen Wohnzimmer mit altväterischen Möbeln und Familienbildern saß, erzählte sie all ihre Erlebnisse zu Hause und in der Pension.

      Die Tante hörte aufmerksam zu: »Ja, mit deiner Mama ist es sehr schwierig – ich habe sie auch manchmal nicht verstehen können. Du bist ja jetzt groß genug, daß man mit dir darüber reden kann. Aber bei mir sollst du dich nun einmal wirklich wohl fühlen und soviel Freiheit haben, wie ich dir mit gutem Gewissen geben kann. Es ist eine Malerin hier, bei der du Stunden nehmen kannst, wenn du so große Lust dazu hast.«

      Ob sie Lust hatte! Ellen riß beinahe das Tischtuch mit Lampe und allem herunter und fiel der Tante um den Hals.

      »Und wenn die sagt, daß du Talent hast, lassen sie dich vielleicht auch zu Hause dabei. Dann hast du wenigstens eine Arbeit, die dir Freude macht.«

      Ellen bekam ein Zimmer als Atelier eingerichtet und warf sich gleich vom ersten Tage an mit Heißhunger auf die Arbeit, mit ihrer vollen, gesunden Jugendkraft, die sie bisher fast wie etwas Überflüssiges gedrückt hatte und jetzt mit einemmal in ihr aufjauchzte, weil sie ein Ziel bekam und das Ziel, das ihr glühendster Wunsch war. Am liebsten stand sie die ganzen, langen Sommertage vor der Staffelei oder streifte mit dem Skizzenbuch draußen herum, statt mit der Tante auf Besuche zu fahren oder Vergnügungen mitzumachen. Ihre Lehrerin betete sie etwas scheu und aus der Ferne an – eine Künstlerin, die in Paris und München gewesen war, ein Wesen aus einer ganz andern Welt, von der Ellen nichts geahnt hatte und alles mit staunender Glut verschlang, was sie jetzt erfuhr. Sie schämte sich ihrer bodenlosen Unwissenheit – hatte noch nie ein richtiges Bild gesehen, nicht einmal gewußt, daß man nach lebenden Modellen malte, und tat so dumme Fragen, daß Fräulein Hunius oft lächelte. Und wie die da herumging zwischen all den beschränkten, engherzigen Leuten – nur ihrer Kunst lebte. Nur der Kunst leben. Ellen fing an zu ahnen, was das sein müßte. Wenn die Lehrerin zur Stunde kam, stand sie bebend hinter ihr und folgte jedem Strich. Und nur dann, wenn sie ihr Gesicht nicht sehen konnte, wagte sie von sich selbst zu sprechen – wie sie sich auch so ganz in die Kunst hineinstürzen möchte, nur dafür dasein und arbeiten bis aufs Blut, trotz aller Hindernisse. Und was für Hindernisse standen ihr entgegen – das meinte Fräulein Hunius auch, die Ellens ganze Verwandtschaft kannte. Sie sprach ihr auch von den Enttäuschungen, daß Ellen noch so jung sei und sich wie alle Anfangenden große Illusionen mache, die wohl meist nach und nach zerschellten. Aber das bedrückte sie nicht weiter, und sie glaubte nicht daran. Es war eine Zeit, wo sich ihr alles in einen Traum von immerwährender Glückseligkeit verwandelte, der ganze Tag war ein ernstes Spiel mit frohen Kräften, und selbst in den warmen Sommernächten wollte keine rechte Müdigkeit kommen. Manchmal stand Ellen heimlich wieder auf, stieg aus dem niedrigen Fenster und lief über den Rasenplatz zum Fluß hinunter, der am Garten vorbeifloß. Da schaukelte sie sich in Tante Helminens kleinem Boot oder tauchte in das dunkle, raschfließende Wasser hinein, mit stiller Angst, daß die Tante sie gehört haben könnte.

      Anfang Dezember schrieb die Mutter, Ellen müsse nun endlich einmal wiederkommen. Die Tante ließ sie ungern gehen, denn sie hatte große Freude an Ellens Fleiß und konnte ihre rastlose Lebendigkeit gut ertragen. Aber im nächsten Jahr sollte sie wiederkommen und weiterlernen. Ellen fuhr nach Hause mit zwei großen Zeichenmappen und voll von Plänen und Zukunftsträumen. Jetzt strahlte ihr die Welt. Sie wollte gut gegen Mama sein, ihr nachgeben, soweit es ging, und im Stillen weiterarbeiten, bis sie alle überzeugt hatte, daß sie Malerin werden müßte.

      Am Weihnachtsabend saßen sie alle noch spät beim Punsch im Eßsaal auf Nevershuus. Der Freiherr ging, wie er es liebte, während des Gespräches mit großen Schritten auf und ab.

      »Das waren eure letzten Weihnachten hier«, sagte er plötzlich und blieb am Tisch stehen.

      Die vier Geschwister saßen wie versteinert und sahen ihn an.

      »Ja, Papa hat Nevershuus verkauft«, sagte nun die Mutter mit Tränen in den Augen. »Zum Frühjahr müssen wir fort.«

      Sie schwiegen alle, der Vater stand vor ihnen und reckte sich in die Höhe: »Seid doch froh, wenn wir endlich einmal aus dem Nest herauskommen – von euch Jungens wird ja doch keiner Landwirt, und wir sind jetzt zu alt, um uns damit zu plagen, für nichts und wieder nichts.«

      Marianne war die einzige, die schon darum gewußt hatte, die andern konnten sich immer noch nicht von der jähen Überraschung erholen: daran hatten sie nie gedacht, sich nie vorgestellt, daß es einmal so kommen könnte – Nevershuus ihnen nicht mehr gehören. Und die Eltern waren in ihren Augen die »jungen Leute«, denen keine Zeit etwas anhaben konnte – Papa sich zur Ruhe setzen, das war


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