Gesammelte Werke. Franziska Gräfin zu Reventlow

Gesammelte Werke - Franziska Gräfin zu Reventlow


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kam, oder bald Ferien waren, oder das Obst reif wurde. So unendlich viel hatten sie immer vorgehabt und sich ausgemalt für die nächsten Jahre und für später, als ob überall große Schätze und Reichtümer lägen, die man nur zu heben brauchte.

      Aber auch durch all diese frohen Zeiten ging doch immer ein bittrer Grundton – Mama! Seit sie denken konnte, fühlte Ellen sich wie verfolgt von ihr und warum? Warum bekamen Mamas Augen immer diesen sonderbaren, bösen Blick und ihre Stimme den zornigen, fast pfeifenden Ton, wenn Ellen nur zur Tür hereinkam? War sie allein mit der Mutter im Zimmer, so wehte es sie eisig an, als ob jeden Augenblick etwas Furchtbares geschehen könnte, und nachts träumte sie manchmal, daß die Mutter mit der großen Schere hinter ihr herlief und sie umbringen wollte. Sie hatten sich ja beinahe daran gewöhnt, wie an ein Gebrechen, mit dem man geboren wird und weiß, daß es auf Lebzeiten nicht wieder abzuschütteln ist. Aber woher die Kraft nehmen, es zu tragen? Ellen fing an, wieder fromm zu werden – der liebe Gott war der Einzige, der ihr helfen konnte, aber er war so weit weg. Sie versuchte es förmlich mit Sturm, ihm wieder nah zu kommen. Es war ihr nicht mehr genug, jeden Sonntag zur Kirche zu gehen, sie betete beim Aufstehen und beim Schlafengehen alles, was sie auswendig wußte, lange Gesänge, Katechismusstücke, und immer auf den Knien. Das bloße Dasitzen mit gefalteten Händen, wie bei der Hausandacht, war ihr nicht feierlich genug. Oft stand sie auch nachts wieder auf, zog den Vorhang in die Höhe, um die Sterne zu sehen, und hielt ihren einsamen Gottesdienst. Oder bei Tage, wenn sie sich ungestört wußte, errichtete sie eine Art Altar, um davor zu beten, stellte ihren liebsten Kanarienvogel mit seinem Käfig auf einen Stuhl und Blumen ringsherum. Nach solchen Stunden fühlte sie einen fanatischen Mut, alles zu ertragen, und es konnte ihr dann beinah Freude machen, wenn sie ungerecht gescholten wurde.

      Als Ellen vierzehn Jahre alt war, kam wieder etwas Abwechslung in ihr Dasein: sie sollte Tanzstunde bekommen. Das gehörte ebenso unabänderlich in das Erziehungsprogramm wie längere Kleider und reine Hände, die jetzt von ihr verlangt wurden.

      Es war ihr ganz neu und zuerst etwas beängstigend, mit so vielen Kindern zusammenzukommen. Aber wenn der langbeinige, immer etwas angetrunkene Tanzmeister mit seiner Geige mitten im Saal stand und die ganze Schar um ihn herumwirbelte, kam es wie ein Rausch über sie, und sie vergaß, daß das Leben sonst so schwer war. Den andern Mädchen gegenüber fühlte sie sich etwas zurückgeblieben, vor allem war es unangenehm, als Schloßfräulein so schlecht angezogen zu sein. Dafür hatte ihre Mutter gar keinen Sinn – jahraus, jahrein dieselben alten Kleider, die immer wieder ausgebessert, verlängert oder gewendet wurden und niemals nach der Mode. Ellen hatte sich bisher nicht viel darum gekümmert, aber jetzt konnte sie stundenlang vor dem Spiegel stehen und über ihr Äußeres nachdenken. Wenn Mama sie dabei ertappte, gab es wieder ein Donnerwetter: »Gib dir nur Mühe ordentlich auszusehen und nicht alles zu zerreißen. Das andere ist Nebensache.«

      Aber das war nicht der einzige Punkt, in dem die Stadtkinder ihr überlegen waren: sie hatten Liebesgeschichten, Rendezvous, gingen mit den Schülern spazieren und zum Konditor. Alle diese lustigen Dinge, von denen Ellen jetzt immer erzählen hörte, schienen ihr so verlockend und begehrenswert, daß sie Detlev verleitete, mitzumachen. Sie erfanden immer neue Vorwände, um in die Stadt zu kommen, und gingen dann mit den andern bummeln. So wundervoll sündig kam man sich vor bei diesen heimlichen Streifzügen unter Lärm und Gelächter, oder in dem dunklen Hinterzimmer der kleinen Konditorei, bei all den Neckereien und Anspielungen, die da hin und her flogen, – bei all dem Herzklopfen vor Entdeckung und den hinterlistigen Verabredungen während der Tanzstunde unter Mamas Augen.

      Es bekam alles eine andere Perspektive. Ellen hatte bis dahin nur in sich selbst hineingelebt in dem engen Kreise, den man um sie zog. Jetzt fing die Welt an, sich zu weiten, sie sah: es gab noch ein Leben, das jenseits der Mauer lag, das rascher pulsierte und reich an lockenden Erregungen war.

      Am Ende dieses bewegten Sommers verreisten die Eltern auf längere Zeit. Ellen genoß die Septembertage im Gefühl eines großen Triumphs, denn Cläre Huhn war krank geworden, und das empfand sie als ihr Werk. Vier Jahre hindurch hatten sie sich Tag für Tag an dem großen runden Schultisch gegenübergesessen, und vier Jahre hindurch hatte Ellen das arme, bleichsüchtige Geschöpf buchstäblich gemartert mit allen Schikanen, die der rücksichtslose Haß eines Kindes ersinnen kann. Sie ließ sich kein Lächeln, keinen Fleiß, kein Eingehen auf irgend etwas abgewinnen, begegnete aller Freundlichkeit und aller Strenge mit derselben steinernen, ablehnenden Hartnäckigkeit und betete allabendlich, daß Gott Cläre Huhn mit seinem Zorn treffen möge.

      Als die Nachricht kam, daß sie erkrankt war, lag Ellen in ihrem Zimmer auf den Knien und dankte Gott. Am Fenster sangen ihre Kanarienvögel, die Sonne lachte, und sie brauchte nicht in die Stunde. Das Werkzeug ihrer Qual war verstummt und unterlegen.

      Nun kam eine Reihe von Festtagen. Marianne regierte mit Milde und fand, daß die Kinder sich dann auch viel besser lenken ließen. Sie war sich immer gleich geblieben als die sanfte, ruhige Älteste, zu der alle mit ihren Anliegen kamen. Und sie hatte nicht immer einen leichtere Stand dabei – die Mutter war hitzig und parteiisch, Papa konnte keinen Ärger vertragen, und die junge Meute stürmte fortwährend dagegen an, mit allen ihren Forderungen, Wünschen und Unbotmäßigkeiten.

      Jetzt ging jeder seinen Weg und dabei war Frieden. Ellen und Detlev saßen halbe Tage in den Obstbäumen oder lagen im Gras und lasen verbotene Bücher. Sie deklamierten sich gegenseitig die Räuber vor und stritten darum, wer den Faust besser verstände. Hier und da mußten sie auch alle der Schwester bei Gartenarbeiten helfen, und manche Vorübergehende blieben am Gitter stehen und sahen hinein, denn war das heranwachsende Geschlecht der Olestjernes vollzählig beisammen, so konnte man jederzeit ein stürmisches, weithinschallendes Gelächter hören, besonders wenn die »jungen Leute«, wie sie in liebevoller Respektlosigkeit ihre Eltern nannten, nicht dabei waren.

      In dieser Zeit gab es für Ellen viel Gelegenheit, unbemerkt zu entkommen, und das Herumtreiben hatte jetzt noch einen besonderen Hintergrund. Denn Ellen liebte, und alle ihre Gedanken gingen darauf hin, einem rothaarigen Primaner zu begegnen – an den nebelverschleierten Herbsttagen, wenn die junge Welt in den dämmerigen Gassen oder im Stadtpark auf- und abging. Ellen wußte, daß ihre Liebe unglücklich und hoffnungslos war, denn er stand auf der fernen, unerreichbaren Höhe des Erwachsenseins. Aber es war schon lähmende Seligkeit, ihn nur zu sehen, von ihm gegrüßt zu werden und dann abends an ihn zu denken, wenn sie im Bett lag.

      In der kleinen Stadt blieb nichts verborgen. Bald nachdem die Freifrau zurückgekehrt war, wurde sie von wohlmeinenden Bekannten darauf aufmerksam gemacht, daß ihre beiden Jüngsten sich eines schlimmen Rufes erfreuten. Nicht einmal Ladenklingeln und Fensterscheiben waren sicher vor ihnen, und was das Ärgste war, Ellen trieb sich mit Jungen in der Stadt herum. Nun wurde Ellen plötzlich aus allen Himmeln geschleudert; aber diesmal fand sie den Mut zu offener Auflehnung, und es gab eine heiße Szene zwischen ihr und der Mutter. »Zieht mir doch lieber gleich eine Zwangsjacke an«, schrie sie. Ellen hatte gar keine Ahnung, was das eigentlich für ein Ding wäre, aber sie bekam ihre Zwangsjacke. Man ließ sie nicht mehr aus den Augen, und mit dem heimlichen Ausreißen war es ein- für allemal vorbei.

      Dies Jahr durfte sie nicht einmal mit den Brüdern zum Schlittschuhlaufen. Wehmütig sah sie an Winternachmittagen in den beschneiten Garten hinaus und dachte an ihre unglückliche Liebe – jetzt war er wohl auf dem Eis, und ihr war jede Möglichkeit abgeschnitten, ihn auch nur zu sehen. Die Sehnsucht wurde immer brennender, sie zitterte und wurde rot, wenn Erik zufällig seinen Namen nannte. Die gärende Unruhe, die sie in sich fühlte, machte sich manchmal in überlauter Lustigkeit Luft und häufiger noch in wilden Wutausbrüchen.

      Ellen fand auch, daß man sie namenlos reizte. Von früh bis spät fuhr die Mutter sie an, jeder Blick sagte: Wozu bist du überhaupt auf der Welt?

      Und an Heftigkeit gab Ellen ihr nichts nach. Eine Zeitlang hörte sie schweigend zu, biß die Zähne zusammen, daß sie knirschten, dann stürzte sie hinaus und schlug die Tür zu. Mama war hinter ihr her, ehe sie sich's versah. Plötzlich hatte sie die zornig flammenden Augen dicht vor sich, fühlte einen brennenden Schlag im Gesicht: »Geh mir aus den Augen, ich hab's satt, mich mit dir zu quälen.«

      War sie dann allein im Zimmer, so wußte sie nicht, wo hinaus mit der Wut, die in ihr tobte, wußte nicht mehr, was sie tat.


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