Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler
ist doch hoffentlich nicht krank?»
«Nein, bloß Migräne. Vor Aufregung und Angst.»
«Angst?»
«Nun ja. Vor allem, was es heute könnte zu tun geben. Du weißt ja.»
Erleichtert atmete er auf. «So kann man doch wenigstens einmal ausnahmsweise im Frieden zu Mittag essen.»
«Gewiß. – Das heißt, die Base ist zwar zur Aushilfe da.»
«Was für eine?» forschte er mißtrauisch.
Sie brachte die Antwort kaum zum Vorschein. «Beide», gestand sie endlich kleinlaut, «die Rosinenbase und die Hexenbase.»
«Warum nicht gleich ein ganzer Hühnerhof voll?» höhnte er.
«Nur auf einen halben Tag», entschuldigte sie. «Vor einer Stunde angekommen und am Abend wieder fort. Das wird, denk' ich, auszuhalten sein!» Und klugerweise, damit er den Bissen besser verdaue, goß sie drei Tröpfchen Humor nach: «Ich wollte, du hättest sie sehen können, wie sie miteinander anrückten, Arm in Arm, unter einem urweltlichen Regenschirm, wackelig wie die liebe alte Zeit und ausgelassen wie jährige Osterhäslein. Den Vater haben sie vor lauter Übermut an der Nase gezupft, stell dir das einmal vor! Gegenwärtig zanken sie sich weidlich in der Küche herum. In aller Wohlmeinenheit natürlich.»
Wirklich brachte sie ihn zum Lächeln. Nicht über den Humor des Bildes, da er als Willensmensch wenig Empfänglichkeit für Humor besaß, sondern über dessen Freundlichkeit. Denn sieben Kinderjahre grüßten ihn aus ihren Runzeln. «Wenn nur die Hexenbase nicht eine so scheußliche Zunge hätte», wandte er nachgiebig ein, halbwegs umgestimmt. «Wenn ich sie reden höre, ist mir immer, als hätte sie allen Sprachunrat des Kantons von der Landstraße aufgelesen.»
«Sie meint's ja seelengottengut. – Und kocht Nummer eins.»
«Ich sage nicht nein. Aber ein Maulkorb gehörte ihr von Rechts wegen, auf Beschluß des Regierungsrates, in feierlicher außerordentlicher Sitzung.»
Die Schwester erachtete Weiterungen für überflüssig, verzichtete auf Widerspruch, faßte die Röcke zusammen und trippelte auf den Zehen umsichtig davon. «Also du kommst jetzt zum Essen», schloß sie bestimmt, ohne sich nur nach ihm umzusehen, und ließ das Scheunenpförtchen offen. Sollte er wirklich? Mußte er's durchaus? Fort aus dem sichern Verlies in den Haß und Hader? Doch das offene Pförtchen mahnte ihn fortwährend, mit der Stimme der Schwester, und Appetit spürte er, ehrlich gestanden, auch. Zögernd, widerwillig folgte er. «Einmal Herr und Meister sein!» stöhnte er grimmig vor sich hin, «gebieten können, strafen und belohnen dürfen, Achtung erfahren, Frieden haben, keine ungerechten Vorwürfe einstecken müssen – und wäre es auch nur auf eine einzige Stunde – oder eine halbe!»
Draußen auf dem weiten Dorfplatze im grellen Vormittagssonnenschein unterhielten sich Gruppen steifgekleideter Sonntagsbauern, das Kirchengesangbuch in der Hand. Ohne sich zu rühren, glotzten sie ihn an. «Prächtiges Kirschenwetter heute», rief Conrad im Vorübergehen leutselig. Antwort erhielt er keine. Da runzelte er die Stirn. «Mach dich gemein, laß dich herab, sei freundlich und zuvorkommend, sofort lassen sie dich's büßen.»
An der Hausecke des «Pfauen», gegen die Terrasse, balgten sich unter wieherndem Gelächter der Portier und Benedikt, der Kutscher. Der Portier, die Mütze schief auf dem Hinterkopf, schlenkerte das Bein gegen Benedikt, das dieser zu packen trachtete. Beim Anblick des jungen Meisters trat der Kutscher grüßend zur Seite, der Portier dagegen, nachdem er erst unwillkürlich nach seiner Mütze gegriffen, besann sich anders, behielt sie auf dem Kopf und setzte das rohe Spiel fort.
Der Leutnant bedachte ihn mit einem scharfen Blick, dann schwenkte er nach dem Seitenpförtchen neben der Küche ins Haus.
Vor der Schwelle stockte er mit einem Ausruf der Entrüstung. Nämlich Taubenfedern lagen herum, und einige rote sternförmige Tropfen Blutes bedeckten die oberste Stufe.
«Hat da wieder einmal so ein armes unschuldiges Täubchen sein junges Leben lassen müssen, damit irgendein verwöhnter Lecker seinen schalen Gaumen mit dem magern Bissen kitzle!»
Ehe er eintrat, schöpfte er, rund um sich blickend, einen großen Atemzug freie Luft. «Mut!» murmelte er, während ihn Ekel durchschauderte.
Hernach schritt er leise über die Schwelle in den Hausgang, wo er argwöhnisch lauschte wie auf Feindesboden. Nichts Verdächtiges in der Nähe; Leere ringsum und Stille in den Räumen. Das Unheil schlief also irgendwo in einem entlegenen Versteck, unter einem Strohwisch. Nur von der Küche, aus verwinkelter Ferne drang der Zank der Basen an sein Ohr.
Aber wenn das einen «wohlmeinenden» Zank bedeutete, wie lautete dann ein «übelmeinender»? Ein Duett, als ob zwei tropfnasse Katzen mit verknoteten Schwänzen durch einen Affenkäfig gepeitscht würden.
Belustigt, mit der Wonne des Gemaßregelten, wenn seine Zuchtmeister aneinander geraten, weidete er sich an dem Konzert. «Jetzt laßt sehen, wer wird Meister? die Hexenbase oder die Rosinenbase?», und er ließ mit erhobenen Händen die Zeigefinger gegeneinander fechten, wie das Krokodil und der Teufel im Kasperletheater.
Darüber flog die Küchentür auf, und Flucht und Verfolgung tanzten in den Korridor. Den erläuternden Text gewährte die grölende Stimme der Hexenbase: «Pack dich! drück dich! hüpp! alehoppla, marsch!»
«Wart nur», drohte es zurück, im greinenden Ton eines gesteinigten Propheten, «wart nur ganz ruhig, bis der Conrad einmal Meister wird. So jagt er dich aus dem Hause, wie du mich heute aus dem Hause jagst.»
«Amen, es geschehe!» betete Conrad und begab sich ins Speisezimmer.
Es war noch menschenleer. Ein Gemisch von kühlem Frühling und warmem Sonnenstrahlenbad – «frappierter Sommer», dachte er – zog durch das saubere, wohnliche Gelaß aus und ein. Freundliche Reinheit um und um. Auf den gedeckten Tischen funkelten die Gläser und Wasserflaschen wie Nebensonnen. Ein kleiner Tisch für die Familie, ein langer, etwas getrennt davon, für das Gesinde der Aufwärterinnen. Beide mit Fliedersträußen geschmückt und das Besteck so regelrecht geordnet wie mit dem Zollstab abgemessen.
Da überkam ihn eine Pulswelle Lebenslust, daß er anfing, eine muntere Marschweise vor sich hin zu pfeifen. Wie er indessen an der Wohnstube vorübergeriet, zuckte er zusammen, verstummte und schlich sich verstohlen ans nächste Fenster hinüber. Er hatte durch die klaffende Lücke der nur zu drei Vierteln geschlossenen Tür die Gestalt des Vaters wahrgenommen, der drinnen in der Wohnstube im Lehnstuhl saß. Nur einen Augenblick, allein es hatte ihn wie ein Faustschlag getroffen. Und nun schwebte ihm das verhaßte Bild, von der Phantasie vergrößert, in ungeheuerlichen Umrissen nach, riesenhaft und schwarz. Dabei drehte sich etwas in ihm um, feindselige Gefühle an die Oberfläche fördernd; und mit klopfenden Pulsen, die Stirn an eine Fensterscheibe gedrückt, starrte er auf die Terrasse hinab.
Da, während er also ziellos hinbrütete, tauchte unversehens der frevelhafte Spruch seiner Schwester in seinem Gedächtnis auf. «Wer weiß denn, wie lange er überhaupt noch lebt!» Ob er das Wort noch so heftig verbannte, es kam wieder und hüpfte unablässig in seinem Ohr. Gewiß nicht als Wunsch und Hoffnung – pfui! –, sondern einfach als eine Frage. Und schließlich, im Grunde, warum sollte er sie nicht beantworten? Eine unbezwingbare Neugierde wuchs in ihm heran, so daß er sich eine Schrittlänge seitwärts am Fenster zurückstahl, bis sein Blick durch die Türspalte den Vater streifend erreichte, die rechte Seite des Körpers und, je nachdem jener sich bewegte, auch den Kopf. Und nun begann er ihn verhaltenen Atems zu beobachten, wie er ihn noch nie beobachtet hatte, mit dem lauernden Blicke des Spions, welcher nach des Feindes Schwächen späht. Im einzelnen prüfte er ihn, von oben bis unten, um es schließlich zusammenzurechnen: das schreckliche Antlitz, glatt und bartlos, mit braunen Flecken schauerlich getigert, die fürchterlichen, rot unterlaufenen Doggenaugen, den gedunsenen Leib, der unter keuchenden Atemzügen seitwärts wogte, wie der Busen eines Weibes, die unförmlichen Klumpenbeine, welche trotz der sommerlichen Wärme in Pelzstulpen steckten. Und heimlich zählend, überflog er sein Alter: vierundsechzig im Herbst. Jedesmal, wenn zufällig sein Blick den des Vaters kreuzte, schnellte er den seinigen erblassend zurück, während