Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch) - Carl  Spitteler


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wenn das Unglück ein Haus verschont, wenn man nichts Wichtiges zu klagen hat, wenn einem nichts Ernstliches fehlt, wenn alle am Leben und soweit gesund sind, und keine Sorgen, und zu essen genug – und man gebärdet sich, als ob der Tod eingeschlagen hätte. Das ist nicht recht, das ist ein Undank, das heißt die Schonung, die einem das Schicksal gewährt, nicht verdienen!»

      Da war Anna hinter ihm, er wußte nicht wie, und rüttelte ihm heftig den Arm. «Conrad», schalt sie gedämpft, «bist du von Sinnen?»

      «Nein, ich bin nicht von Sinnen», rief er noch lauter, «sondern ich sage eine vernünftige ernste Wahrheit und sage sie noch einmal. Das Glück besitzen und die Maske des Unglücks vorlegen, aus eitler Jammersucht und Wehwichtigkeit, das ist nicht recht, das ist ein Frevel, das ist eine Vermessenheit, das heißt geradezu das Unglück herausfordern.»

      Jetzt erhob sich die Mutter, die Hände auf den Tisch stützend, und wankte zur Tür hinaus.

      Die Base aber meinte die Erbschaft ihres Kummers antreten zu sollen und übersetzte das in ihre griesgrämige Art, indem sie mit scheelen Blicken jede frohe Regung totschoß. Und da die Mädchen, allmählich entschüchtert, leise zu plaudern begannen: «Maul halten!» bellte sie. Und später, als Lisabeth einen gewaltigen Braten an den Gesindetisch hinübertrug, fuchtelte sie entsetzt mit den Händen: «Behüt uns Gott im Himmel», begegnete sie sich, «was für ein unmenschlicher Kalbsbraten! Zu meiner Zeit, da war das Gesindevolk pudelnarrenfroh, wenn es ein mageres Stückchen Suppenfleisch gab.»

      Als hätte eine Bombe eingeschlagen, schnellten die Aufwärterinnen von ihren Sitzen, die Teller: wegstoßend, krebsrot vor Zorn, pustend, pfupfend, aufbegehrend. «Wenn's Euch reut», plärrte Brigitte, «wenn Ihr's uns mißgönnt, so freßt's selber, wir rühren nichts an.»

      Bei diesem Anblick überlief der Base die Galle. «Abhocken», grölte sie. Und dem Befehl gab sie durch das Beispiel Nachdruck, indem sie den Rumpf vom Stuhl erhob und hart niederfallen ließ. Gleichzeitig klopfte sie mit dem Messerheft wie mit einem Hammer auf den Tisch.

      Unwillkürlich gehorchten die Mädchen, obschon zögernd und murrend. Den Braten jedoch berührten sie gleichwohl nicht, sondern steckten die Hände meuterisch unter die Schürze.

      Da humpelte ihnen die Base entgegen, packte die Bratenschüssel und gab ihr einen schleudernden Ruck. «Fressen!» schnob sie, «nachdem's doch einmal da ist! bevor's kalt wird.»

      Böse Blicke aus glühenden Gesichtern flammten ihr zurück. Josephine zischte Verwünschungen; Brigitte fletschte die Zähne; Helene und Bertha weinten vor Ärger. Keine rührte einen Finger. Außer Cathri, die überhaupt gemächlich sitzen geblieben war. «Was mich betrifft», erklärte sie trocken, «ich esse ruhig.»

      Der Base versagte der Witz. Schlagen, das sah sie immerhin ein, schlagen konnte sie die kräftig ausgewachsenen Jüngferchen nicht wohl, war es ja auch nicht gewohnt, ein lebendiges Geschöpf zu schlagen. Und doch schien ihr das der einzige richtige Trumpf. Einen anderen fand sie nicht. Ohnmächtig, ratlos stand sie da, und ihre boshaft schillernden Blicke trübte der Jammer; gleich einer ausgelebten Viper, die zum ersten Male ihr Gift wirkungslos sieht. Wie hatte sie vormalen Zucht im «Pfauen» geübt! Wenn eine Magd gedrillt werden sollte, wenn eine Köchin nicht parieren wollte, wenn man unbändige Gäste voraussah, flugs holte man die Base Ursula von Hutzlisbühl. – Und jetzt mußte sie sich von diesen Rotznasen offene Auflehnung bieten lassen! Die Bresten des Alters kannte sie längst und überwand sie heldenmütig, jetzt aber spürte sie zum ersten Male des Alters Elend. Als sie schließlich wieder ihrem Platz entgegenhinkte, war es der Rückzug nach einer verlorenen Entscheidungsschlacht. Sie spürte: ihr Regiment war aus. Und da sie sich mit dieser Tatsache nicht vertragen konnte, strebte sie fort, fort nach Hause, je eher, desto lieber, zu ihren drei Katzen, zu ihrem Zichorienkaffee, zu ihrem gefügigen Waisenmädchen.

      Conrad empfing sie mit einer wohlvorbereiteten Rüge, nicht zu scharf und nicht zu stumpf, kühl und gemessen: «Du, Base», sagte er, «unsere Verwandtschaft in Ehren und allen schuldigen Dank für deine uneigennützige Hilfe – aber daß du uns die bewährtesten, wägsten Kellnerinnen mir nichts, dir nichts vergelsterst, ohne den mindesten Grund und Anlaß, das ist wohl schwerlich die Meinung meiner Eltern!»

      «So geh doch! geh nur!» kollerte sie, «geh, geh, nimm sie um den Hals und schmatze sie ab, deine lieben, lieben Kellnerinnen. Geh! worauf wartest du? Ich will dich nicht hindern. Ich räume das Feld. Bin doch ohnehin längst schon überflüssig, seit der gnädige Herr Leutnant, wie es scheint, jetzt hier im Hause kommandiert.»

      «Ich verlange keineswegs, daß du das Feld räumest», erklärte er, «im Gegenteil, wir sind dir dankbar, daß du uns mit deiner Erfahrung zur Hand gehst, und wissen deine wertvolle Unterstützung zu schätzen. Nur sehe ich die Notwendigkeit nicht ein, warum du uns deswegen die Kellnerinnen verunglimpfen müßtest.»

      Doch sie steifte sich störrisch auf ihren Einfall. «Ich gehe ja, ich gehe. Brauchst dich nicht zu ereifern. Ich gehe ja bereits. Meine kleine Reisetasche ist bald gepackt.»

      Wirklich, wahrhaftig, sie wackelte nach der Tür. Da ward ihm jählings angst, ihm, dem erwachsenen, starken Manne, dem selbstbewußten stimmfähigen Bürger und Soldaten, angst vor der kleinen, krummen, baufälligen Base, schrecklich, fürchterlich angst, wie einem armen Schulbuben, wenn sich der Lehrer aufmacht, um ihn bei den Eltern zu vorzeigen.

      Er stand auf und ging ihr verschüchtert nach: «Base», bettelte er demütig.

      «Ach was», kläffte sie, «Entenhörner und Schneckenflügel! Der Ulihansjakob hat zum Sonntag gesagt: wo ist der Samstag?» Und unaufhaltsam zottelte sie aus dem Zimmer, mit überstürzter Hast, als ob sie verfolgt würde.

      Die Mädchen aber erteilten ihr einen üblen Abschied: «Glück zur Abreise! komm niemals wieder!» – «Boshafte Hexe.» – «Erlöse uns von allem Bösen» und dergleichen mehr.

      Doch Conrad verwies ihnen das mit einer kurzen Handbewegung. Er hatte sie halt trotz allem doch lieb, die Hexenbase, denn sie war vorzeiten sehr, sehr gut gegen ihn gewesen.

      Noch zitterte die Türklinke, und aller Augen hafteten an der Wand, hinter welcher die Base verschwunden war, da brach mit wuchtigem Elefantentritt die schreckliche Riesengestalt des alten «Pfauen»-Wirts herein, doch nicht aus der Wohnstube, sondern gegenüber, von der Terrasse. Mit einem fürchterlichen Blick die Kellnerinnen musternd, brüllte er sie an: «Fressen, saufen, zanken, liebeln, das verstehen sie. Hingegen die Gäste bedienen, daran denkt keine.»

      Wie ein Hühnervolk, vom Hunde aufgescheucht, stoben die Mädchen in wilder Flucht vom Tisch, der nächsten Tür zu.

      Aber der Alte vertrat ihnen den Weg. Dazu wollte er gewohnheitshalber mit der Ferse stampfen, zur nachdrücklichen Betonung seines Willens, indessen führte er das nur halbwegs aus, da ihn das Bein beim festen Auftritt schmerzte. «Diesmal bediene ich schon selber», wehrte er, seinen Schmerz verbeißend, «nachdem ich einmal die Bestellung angenommen. Schaut zu, daß ihr künftig auf dem Posten seid.»

      Da verzogen sie sich kleinlaut und mißmutig, indessen hinter ihrem Rücken ein leckerer Kuchen auf den verlassenen Tisch marschierte. Cathri, nachdem sie sich erst mit den übrigen aufgemacht, besann sich anders, kehrte zurück und spazierte mit Storchenschritten im Zimmer auf und ab.

      Der Alte drang auf sie ein: «Und Ihr», knurrte er, «Ihr dünkt Euch offenbar zu vornehm, mit Euren hoffärtigen Kettelein und verwöhnten Fingerchen.»

      Sie wies durchs Fenster. «Neun Kellnerinnen auf ein einziges schmächtiges, schäbiges Bäuerlein, das ist schon mehr als genug.» Und da er ihr einen entsetzlichen Blick zuschleuderte, schüttelte sie lachend die Hände vor seinen Augen.

      «Herr Reber, ob Ihr schon ein Unflat seid, mir macht Ihr keineswegs bange. Nämlich ich habe zu Hause einen Vater, gegen den seid Ihr ein harmloses Kind.»

      Er betrachtete sie eine geraume Weile, mehr und mehr besänftigt, brummte allerlei unverständliche Worte vor sich hin, grunzte schließlich beifällig und entfernte sich, eine Flasche Wein und ein Glas zwischen den Fingern, schwerfällig nach der Terrasse.

      Conrad saß noch, wo er gesessen


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