Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler
«wie jemand das Bedürfnis verspüren kann, seinem Nächsten das Leben zu versauern.»
Sie zuckte die Schultern. «Wer weiß, wie wir uns dereinst aufführen werden, wenn wir einmal alt sind. Ihr zum Beispiel scheint mir ebenfalls nicht einer von den Gelindesten.»
«Wieso? Glaubt Ihr denn, das hange mit dem Alter zusammen?»
«Eine einfältige Frage. Mit dem Alter oder mit der Bresthaftigkeit, es kommt auf eins heraus. Oder meint Ihr etwa, Euer Vater wäre zeitlebens so gewesen? Er hätte niemals Maien auf den Hut gesteckt und Jauchzer losgelassen? Ich kann mir's nicht anders zurechtlegen, als es sitzt den Alten ein Skorpion in der Leber, der sie beständig zwackt, so daß sie gallig werden und keinem Menschen mehr ein gutes Wort geben können, ob sie's noch so gerne möchten.»
Conrad verfiel ins Nachsinnen. «Sonderbar, das ist mir nie eingefallen. Überhaupt, mir ist, wenn Ihr immer bei mir wäret, ich würde manches leichter ertragen.» Und da sie ob diesem Wort ein wenig rot wurde, berichtigte er angelegentlich: «Verzeiht, ich hatte es nicht so gemeint.» Nachträglich indessen errötete er mehr als sie.
«Und ich habe es auch durchaus nicht so aufgefaßt», beruhigte sie.
Darauf stockte die Unterhaltung.
Anna nahte. «Die Schlüssel zum Stall verlangt der Benedikt», sagte sie gleichgültig, die Hand ausstreckend. Nachdem sie die Schlüssel behändigt hatte, warf sie wie beiläufig die Bemerkung hin: «Ihr solltet doch besser vermeiden, so lange beisammenzustehen. Es könnte auffallen.»
«Und wenn?» entgegnete Conrad. «Das heißt, vorausgesetzt, daß es Cathri nicht verdrießt.»
«Mich?» lachte diese verächtlich. «Ich, wofern ich nichts Böses tue, so ficht mich nicht soviel an, aber auch nicht soviel, was die Leute schwatzen mögen.»
«Ach so?» erwiderte Anna spitzig, «seid Ihr schon so weit miteinander gediehen? In diesem Falle maße ich mir freilich nicht an, mich einzumischen.» Und sie verließ mit empfindlicher Miene das Paar, als wäre ihr ein Unrecht widerfahren.
Conrad aber suchte dem Gespräch wieder auf die Beine zu helfen. «Ihr habt Euch's doch nicht etwa zu Herzen genommen, hoffentlich?» begann er auf Geratewohl, «die Schnödigkeiten der Base?»
Cathri lachte. «Warum nicht gar? Dergleichen dringt mir nicht einmal durch die Haut, geschweige denn ins Herz. Du lieber Himmel, da habe ich schon andere Dinge geschluckt, daheim, vom Vater. Überhaupt, wehe tun einem ja nur die Eigenen. Ein ganzer Suppenlöffel voll Gift von fremden Leuten brennt weniger als ein Tropfen daheim. Darum bin ich draus, aus und davon, aus dem Feuer. Und seit ich fort bin, ist mir wohl, ob es schon nicht lauter Rosen sind, was mir die Menschen streuen, wenn man das Geld selber verdienen muß, Fränklein um Fränklein, während man daheim im Dorf die reiche Cathri hieß und die Erste war und des Präsidenten Tochter.»
Sie hatte das mehr für sich gesprochen, in sich hineinschauend; doch Conrad fühlte es mit, so daß er andächtig schwieg, nachdem sie geendigt hatte. Dafür gönnte sie ihm nun ihrerseits etwas Teilnahme, und zum ersten Male klang ihre Stimme nicht völlig frostig, sondern beinahe freundlich, als sie jetzt das Wort an ihn richtete: «Ihr solltet auch ein wenig fort, Herr Reber», riet sie gnädig. «Und wäre es meinetwegen nur auf einen Tag oder einen halben. Das beständige Daheimkleben ist für einen jungen Mann nicht natürlich, das macht Euch böses Blut, darum seid Ihr so gereizt und unwirsch. Den Hut auf den Kopf, den Stock in die Hand und hinaus in die reine Frühlingsluft.»
Conrad schaute gierig in die Weite. «Zum Beispiel mit dem Offiziersverein auf die Hochburg? mit dem Zweiuhrzwanzig-Zug?» entfuhr es ihm mit einem tiefen Seufzer. Hiermit zog er die Uhr aus der Tasche und schaute eine lange Weile, sich vergessend, auf das Zifferblatt.
«Ja, oder einfach ein Stündchen ins nächste beste Dorf. Nur damit Ihr neue Gesichter seht und frische Eindrücke empfangt.»
Wieder blickte er sehnsüchtig in die Runde, dann ließ er den Kopf hangen und steckte die Uhr in die Tasche. «Ich kann nicht, ich darf nicht», murmelte er niedergeschlagen, «heute am allerwenigsten.»
«Warum nicht?»
Er wurde ärgerlich: «Warum nicht? Ihr seid doch sonst nicht so schwerfällig von Begriffen. Warum nicht? Darum nicht, weil heute Sonntag ist, weil wir am Nachmittag das Haus voll Gäste haben werden, weil am Abend getanzt wird, kurz, weil ich nicht kann. Oder meint Ihr, wir hätten umsonst ein halbes Dutzend Kellnerinnen mehr aufgeboten?»
«Ja, ist es denn besser, Ihr zankt Euch mit dem Vater und der Mutter und der Base und womit weiß ich noch herum? Es tut heute nicht geheuer im ‹Pfauen› von Herrlisdorf. Es sitzt ein Teufel auf dem Dach. Glaubt mir's, Herr Reber, ich verstehe mich auf derlei Zeichen, ich habe das von klein auf studiert.»
«Seid Ihr etwa abergläubisch?» spöttelte er.
Sie ließ sich's nicht anfechten. «Das weiß ich nicht», antwortete sie fest. «Übrigens ist wohl jeder mehr oder minder abergläubisch, der einmal die rote Hahnenfeder des Todes in der Nähe gesehen hat oder die schwarze Schnauze des Unglücks. Oder, was meint Ihr, wenn man den eigenen Bruder am Morgen gesund und frisch hat in den Wald ziehen sehen, und zum Mittagessen bringen sie ihn auf der Bahre, und er einem beim Weggehen zugejauchzt: ‹Cathri, so glücklich wie heute war ich meiner Lebtag nicht, ich meine, ich sei im Himmel›, und der Vater ihm nachgerufen: ‹Daß du mir vor elf nach Hause kommst, du Aas, oder nie mehr›, was meint Ihr, könnte man da abergläubisch werden oder nicht? Er kam freilich vor elf nach Hause, der arme Baschi, genau vier Minuten vor elf, aber tot; nicht als Aas, aber als Leichnam. Doch um darauf zurückzukommen, abergläubisch oder nicht abergläubisch, Ihr mögt's nun auslegen, wie Ihr wollt, es tut heute nicht geheuer im ‹Pfauen›, es droht ein Wetter, es ist Krieg in der Luft.»
«Oh, was das betrifft», versetzte er bitter, «Krieg ist bei uns immer in der Luft.»
«Schon recht», entgegnete sie, «aber es ist nicht bloß das. Es ist wie verschworen, wie mit einer Salbe angestrichen. Jeder von euch sagt etwas anderes, als er möchte; keines von allen meint es mit dem andern bös, und jedes treibt dem andern spitzige Nägel ins Herz. Das beweist doch, daß der Teufel oder etwas Ähnliches auf dem Dach sitzt? oder nicht?»
Erst spielte noch ein Lächeln um seine Lippen, dann ward ihm allmählich ernst und schwer. Lange Zeit blickte er sinnend auf seine Füße, während er mit der Schuhspitze im Kies wühlte. «Was denn tun?» fragte er gedämpft, ohne den Kopf zu erheben.
«Fort!» antwortete sie. «Dem Teufel aus dem Kreis.»
Plötzlich schaute er sie an: «Kämt Ihr mit?» fragte er einladend.
«Herr Reber, jetzt schwatzt Ihr Unsinn», rief sie ärgerlich und protzte von dannen.
Wiederholte Male während dieser Unterredung hatte Conrad beiseite treten müssen, um nicht von den Tischen gestoßen zu werden, welche das Gesinde aus dem Tanzsaal beförderte, ausgelassen schäkernd, unachtsam und rücksichtslos. «Platz für sieben Mann, es kommt ein halber», pflegten sie lachend zu befehlen, und jedermann ohne Unterschied mußte weichen. Daran hatte er zwar zunächst kein Ärgernis genommen, da das Gespräch seine Aufmerksamkeit abzog, aber jetzt stieß es ihm nachträglich auf. Und als er vollends den Portier gewahr wurde, wie er Brigitte mit Kies bewarf, nahm er den aufs Korn.
«Portier», befahl er schroff, «tragt diesen Stuhl da ins Eßzimmer.» Und da ihm weder Gehorsam noch Antwort zuteil wurde, verstärkte er den Ton: «Habt Ihr mich verstanden oder nicht?»
«Es wird wohl nicht so gewaltig pressieren», maulte der Portier, indem er neuerdings eine Handvoll vom Boden raffte.
Da wetterte ihm Conrad wie der Sturmwind entgegen: «Wenn ich etwas befehle, so pressiert es immer», erklärte er. Damit packte er ihn mit grausamen Fingern am Ohrläppchen wie mit einer Zange und zerrte ihn schonungslos an den Stuhl, daß ihm die prahlerische Mütze vom Kopfe taumelte. «Meinst, ich werde dich pressieren lehren? meinst, ich bringe es zustande?»
Jetzt gehorchte der Portier greinend. Doch unter der Haustüre angelangt, warf er den Stuhl von sich, fing an zu plärren