Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch) - Carl  Spitteler


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      «Was war das? Was meinst du? Sag's laut, wenn du's wagst! Gelt, du wagst es nicht?»

      «Doch, ich wag's. Ich meine: ‹allein in einem Zimmer›, es kommt alles darauf an, wie und wann, und wo mit wem.» Dabei schaute er dem Vater bedeutsam ins Auge.

      «Wie meinst du das?» keuchte dieser mit erstickter Stimme, indem sein Gesicht sich schwarzrot verfärbte.

      «Ich meine», entgegnete der Junge, «mit mir darf jedes Mädchen ohne Furcht allein in einem Zimmer weilen.»

      Jetzt wankte der «Pfauen»-Wirt mit schwerem Tritt, daß der Boden bebte, an den Tisch, der die beiden trennte.

      «Aber mit wem etwa nicht?» heischte er. «Drücke dich deutlicher aus.»

      «Deutlicher ausgedrückt: dem Anschein nach zu urteilen wärest du vielleicht lieber selber mit Cathri allein in einem Zimmer geblieben.»

      Der Vater holte einen tiefen Atemzug, dann brach er los, mit donnernder Stimme und rollenden Augäpfeln: «Es gibt in Thun ein Gäßchen – verstehst du? mit den Fenstern nach der Aare – verstehst du? und in jenem Gäßchen steht ein Häuschen – verstehst du? und zu dem Häuschen steigen drei Stapfeln. – Battet das? oder muß ich dir's noch genauer bezeichnen?»

      Conrad schnellte vom Stuhl: «Und in Bern gibt es ein Brücklein, verstehst du? und hinter dem Brücklein ein Inselein, verstehst du? Und in dem Inselein an einem Fenster ist mit dem Messer ein Datum eingekratzt und neben dem Datum der Name eines Dragonerwachtmeisters, verstehst du? Und der Name fängt mit einem R an und hört mit einem r auf. Genügt das? oder begehrst du Einläßlicheres?»

      Sie schleuderten das einander ins Gesicht, über den Tisch gebeugt, bebend vor Wut. Und die feindliche Rede ergänzten haßerfüllte Blicke. Aber als nun von draußen aus dem Gange lebhaftes Händeklatschen laut ward und unterdrücktes Beifallrufen weiblicher Stimmen Conrads Sieg markierte, schwenkte der Alte unversehens in die Wohnstube, ohne ein abschließendes Drohwort, mit unheimlichem Schweigen. Conrad aber, augenblicklich ernüchtert, blieb tief erschrocken stehen. Was hatte er nur getan! Er, der, soweit seine Erinnerung reichte, niemals gewagt hätte, seinem Vater zu widersprechen, geschweige denn sich gegen seinen Willen aufzulehnen, hatte ihm jetzt getrotzt, Mann gegen Mann und Feind gegen Feind, und ihm dabei seinen angesammelten Abscheu verraten, mit Blicken und Tönen, die man einem nie mehr verzeiht. Beabsichtigt hatte er es nicht, es war ihm nur so entwischt, in der Hitze der Empörung. Allein geschehen war es nun doch. Und mit zagendem Geiste sah er eine furchtbare Woge Unheil sich heranwälzen, wogegen der bisherige Zustand, der ihm unleidlich geschienen, sich nun wie die schöne alte Zeit ausnahm, so daß er sich gar nicht mit der Vorstellung daranwagte. Da, in der Not, tat er einen verzweifelten Gedankensprung in die Zukunft. Er sah den Alten, vom Schlage gerührt, auf dem Todbette röcheln und sich daneben stehen, erschüttert, trauernd und vergebend. Und dieses Bild erweckte nun nicht mehr seinen Abscheu, sondern er sehnte es andächtig herbei, nicht aus Haß, sondern aus hoffnungsloser Bedrängnis des Herzens, als den einzigen Weg der Versöhnung, als einen tröstlichen Schutzgeist, zur Verhütung von Schlimmerem.

      «Kommt Ihr nicht auch lieber ein bißchen ins Freie, Herr Reber? statt im dumpfen Zimmer zu bleiben?» mahnte Cathri, auf der Schwelle erscheinend.

      «Warum nicht?» antwortete er zerstreut und schickte sich an, ihr zu folgen. Doch unterwegs änderte er den Sinn. «Geht nur voran», rief er, «ich komme später», kehrte um und machte sich in der entgegengesetzten Richtung auf, den oberen Stock hinan, nach der Schlafstube der Mutter. Er gedachte ihr ein gutes Wort zu bieten, eingedenk der Mahnung seiner Schwester.

      Im Treppenhaus trat eben der Vater zufällig aus der Wohnstube. Sie prallten voreinander weg, wie zwei Bären, die sich unvermutet im Zwinger begegnen. Der Vater schoß in die Stube zurück, der Sohn zog still fürbaß, die Treppe hinan.

      Die Schlafstube der Mutter war stockfinster, weil dicht mit Vorhängen verhüllt.

      «Seht, da ist es ihn ja selber», empfing ihn eine grölende Stimme aus dem Dunkel, die Stimme der Base. Und den Satz begleitete ein häßliches Lachen, das ihm höhnisch klang. Wie er mit tastenden Armen dem Bett entgegentappte, fiel er strauchelnd über einen Sessel, der im Wege stand. Und im Fall schlug er sich empfindlich an die Bettlade, während irgend etwas Tönernes mit vielfältigem, nicht endenwollendem Lärm auf dem Boden zerschellte.

      «Kann er denn immer bloß Schaden und Unheil stiften, der Ungeratene», stöhnte die Stimme der Mutter.

      Da drehte er sich heftig um, verließ die Stube und stieg wieder die Treppe hinab. «Das habe ich nicht verdient!» knirschte er. «‹Ungeraten›; man ist nicht ‹ungeraten›, wenn man ehrlich und fleißig und unbescholten ist! Obschon man auch seine Fehler haben mag wie jeder andere.» Und immer wieder klaubte er an dem Wörtchen «ungeraten» wie an einem Widerhaken im Fleische. «Wer eine Rettungsmedaille in der Schublade liegen hat, wer von seinem Obersten vor versammelter Front als das Muster eines Offiziers zum Vorbild hingestellt worden ist, der ist kein Ungeratener. Die Ungeratenen, die sitzen in der Kneipe oder je nach Umständen im Zuchthaus.»

      Unterhalb der Treppe hinter dem Granatbusch hielt er an und blickte durchs Fenster. Auf der Terrasse räumte das Gesinde den Tanzsaal; daneben saß Cathri giltstmirgleich auf einem Tisch im Schatten eines Oleanders und pendelte mit den Füßen. Doch er war nicht bei seinen Augen; er war bei seinem Zorn, so daß er hin und wieder die Faust ballte. «Artillerieleutnant, das kann man noch nicht ungeraten nennen», murrte er finster. Und nach einer Weile: «Wer weiß, es wäre wohl manch eine Mutter froh, ihr Sohn wäre, was ich bin und wie ich bin.» Hierüber blieb er am Fenster kleben, nicht weil er hier bleiben wollte, sondern weil er doch irgendwo sein mußte und anderswohin nicht eher gehörte als hierhin.

      Währenddessen stapfte die Base die Treppe herunter, in Hut und Schal, eine Ledertasche in der Hand.

      «So, jetzt gehe ich denn», krähte sie, als sie ihn gewahrte. «Bist du nun zufrieden?»

      Er überwand sich. «Nein, ich bin nicht zufrieden. Im Gegenteil, es würde mich freuen, wenn du bliebest. Ich hatte es nicht böse gemeint.»

      «Ei was, Schneegänse im Sommer», belferte sie. «Verstell dich nur nicht, es ist heute nicht Fastnacht. Hast ja doch einzig nur noch Augen für deinen Zaupf»

      «Zaupf? Was heißt das auf deutsch?»

      «Oder meinetwegen Gof oder wie du's am liebsten nennen magst. Ich verstehe mich halt leider nicht so gebildet auszudrücken wie der Herr Leutnant. Übrigens, für die hergelaufene Truschel wird die Bezeichnung wohl noch ehrerbietig genug sein.»

      «Wen nennst du eine hergelaufene Truschel?»

      «Nun, wen sonst? Diejenige, die einzig noch für dich auf der Welt zu sein scheint, diejenige, nach der du dir die Augen ausguckst, die hochmütige, pompatzige Bernerin, mit einem Wort. Siehst du, wie du strahlst, wie du schmunzelst, wenn man bloß ihren Namen ausspricht. Mach doch nicht Augen, als ob du mich verschlucken wolltest wie der Wolf das Rotkäppchen. Nur ruhig, ich gehe ja, ich laufe, ich springe, ich fürchte mich. Nichts für ungut, daß ich gewagt habe, ihren erlauchten Namen in meinen alten zahnlosen Mund zu nehmen. Leb wohl! Kannst ja viel ungestörter um sie herumschwänzeln, nachdem ich fort bin. Sei doch nicht so grausam, laß sie doch nicht so lange auf dich warten. Sie verzappelt ja vor Ungeduld. Also leb wohl denn, leb wohl! nichts für ungut. Und hoffentlich gibt's dasmal kein Unglück, weil die Hexenbase da war. Verdient hättest du's zwar. Also leb wohl denn, du siehst mich wahrscheinlich im Leben zum letztenmal.»

      Da ließ er sie ziehen.

      Aber nach einigen Schritten drehte sie sich um: «Ich hatte dir eigentlich auch ein Krämlein mitgebracht; es liegt bei der Mutter, sie soll dir's morgen geben, wenn du wieder artiger bist. – Übrigens, du magst mir zuleid tun, soviel du willst, ich bleibe doch immer deine alte häßliche Hexenbase, die dich vorzeiten auf dem Schoß geschaukelt hat, weißt du noch? Leb wohl, Conrad. Leb dennoch wohl!»

      Hiermit trollte sie sich.

      Er aber begab sich zu Cathri auf die Terrasse.

      «Ihr habt also gleichfalls


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