Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch) - Carl  Spitteler


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Mädchen schreckhaft zusammen, daß ihm das Herz stillestand.

      Sie aber beschrieb mit ihren seelenvollen Händen eine wischende Bewegung vor seiner Stirn, wie der Zauberkünstler, wenn er etwas verschwinden läßt. «Infernalibus», flüsterte sie. Dann erhob sie drohend den Zeigefinger: «Männlein, sei lieb», mahnte sie. «Wenn du lieb bist, aber sehr, sehr lieb, will ich dir etwas Schönes zeigen.» Das sagte sie in einem Ton, als ob sie ein Geschenk hinter dem Rücken verborgen hielte.

      «Was?» fragte er zerstreut, noch vom Schreck verstört.

      Sie wies neckisch nach der Landschaft, daß ihr Finger seine Nase streifte. « Zum Beispiel der rosarot gesprenkelte Apfelblust dort unten in der Matte, ist der etwa nicht schön?»

      Hiernach huschte sie fröhlich nach dem Eßtisch hinüber, unterwegs die Wohnstubentür unauffällig schließend, und machte sich mit dem Besteck zu schaffen, indem sie nachträglich Kuchenmesser auflegte, sowohl für das Gesinde wie für die Herrschaft. Und während er nach wie vor in finsterer Verbohrtheit zum Fenster hinausstierte, sang sie hinter seinem Rücken über der Arbeit ein Liedchen, bald leise summend, bald mit nachdrücklicher Betonung, je nachdem der Wortlaut oder ihre Willkür es begehrte:

      «Weißt, was der Kucker im Frühling singt?

       Kein Mensch weiß, was ihm der Sommer bringt.

       Der Sommer, der schläft hinterm Gitzlisberg.

       Gar vieles kommt anders und überzwerch,

       Doch manches wieder kommt plötzlich gut,

       Wenn's niemand erwartet und hoffen tut.

       Januar und Februar:

       Gotts Segen ins Jahr.

       Im März und April

       Gibt's Wetter, wie's will.

       Im Maien der Schnee

       Tut der Apfelkammer weh.

       Brachmonat, August –

       Trag willig, was mußt.

       Im Herbst wächst die Nacht,

       Bis es Winter macht.

       Der Ofen tut not,

       Die Blümlein sind tot.

       Die Blümlein, die sind halt den Frost nicht gewohnt.

       Wenn's nur meinen Liebsten, meinen Einzigen verschont.»

      Statt «Einzigen» aber setzte sie «Conrad», indem sie jedesmal bei diesem Namen einen herzinnigen Blick dem Bruder zuschickte, glückzufrieden, unbekümmert, ob er es bemerke.

      Jetzt bimmelte die Eßglocke, und nach einer kleinen Schicklichkeitspause rauschten die Kellnerinnen ins Zimmer, einzeln und gruppenweise. Beim Eintritt wünschte eine jede dem jungen Meister ein treuherziges «Guten Tag», nicht ehrfürchtig, vielmehr kameradschaftlich und vertraulich, wofür er jedesmal mit lauter Stimme dankte, übrigens ohne sich umzuwenden. Ein anmutiges Summen flüsternder, schwatzender, trällernder Mädchenstimmen bewegte sich hinter ihm hin und her. Mit der Zeit schob sich in seine Hände, die er hinter dem Rücken verschränkt hielt, ein Blumenstengel. Weil aber ein Fensterflügel spiegelte, erkannte er die Täterinnen. «Josephine», urteilte er, «das errät man an der Narretei.»

      Dann kreiste ihm eine Hand übers Gesicht. «Solch eine vorsintflutliche Patsche hat einzig in der Welt Brigitte», erklärte er.

      «Betrug!» verkündete ein empörter Ausruf «Er sieht uns im Fenster.» Und sofort zerstreute sich der Schwarm. Dagegen erschien jetzt seine Schwester neben ihm.

      «Nun denn, was sagst du jetzt dazu?» forschte sie.

      «Wozu?»

      «So sperr doch endlich deine Guckaugen auf, Tolpatsch!»

      Er drehte sich nachlässig um, und wie sein Blick über den Mädchenhaufen glitt, bunt und fröhlich wie ein Junimorgen im Garten, entdeckte er unter den Kellnerinnen eine neue: hochgewachsen, stattlich und bolzgerade aufrecht, in reichster Bernertracht, lötig Silber und Samt und Seide, steifgewölbtes Vorhemd, panzerhartes Mieder, gestickte Halbhandschuhe, alles genau bis ins einzelste, wie in einem Trachtenbilde für die Fremden hinter einem Schaufenster von Interlaken.

      «Aus was für einer Spielschachtel hast du die bezogen?» bemerkte er beifällig, doch gleichgültig.

      «Gelt?» lachte sie. «Oder habe ich dir denn nicht versprochen, etwas Schönes zu zeigen? – Aber nichts da von Spielschachtel, loses Menschenkind! Potztausend, damit wird nicht gespielt, hörst du? Nur zum Ansehen. Und sorgfältig mit umgehen, wohlgemerkt, denn das ist eine kostbare Präsidententochter, spröd und stolz. Übrigens für sie ist mir nicht bange, denn sie hat drei Reihen Nadeln auf der Zunge wie ein Hecht – um so mehr für dich – wehe deinem Herzen! armer Conrad!» Hiermit hüpfte sie triumphierend von ihm weg, singend in jauchzenden Oktaven.

      Er aber behielt die Bernerin im Auge, und jählings von übermütigem Selbstgefühl gepackt, manövrierte er sich angriffslustig zu ihr hinüber.

      «Also wahrscheinlich Bäbeli oder Marianneli», machte er plötzlich, indem er unvermutet vor sie hintrat, so nahe, daß seine Stirn beinahe die ihrige berührte, damit sie ihm weiche.

      Sie hielt ihm jedoch trotzig stand, mit zusammengezogenen Brauen. «Weder Bäbeli noch Marianneli, sondern Cathri», erwiderte sie barsch und wich ihm nicht um Zolles Breite.

      «Von Langnau oder von Signau?» stocherte er weiter.

      «Ich an Eurer Stelle», rief sie hitzig, «wenn ich mich aufs Raten nicht besser verstände, ließe es bleiben. Von Melchdorf bin ich.»

      «Melchdorf? Von Melchdorf? Wo ist doch Melchdorf? Übrigens wo von Melchdorf? Aus der Säge oder aus der Mühle? Nämlich Melchdorf, müßt Ihr wissen, Melchdorf ist groß.»

      «Jetzt sagt Ihr eine Dummheit; denn Melchdorf ist klein. Besitzt auch überhaupt weder eine Säge noch eine Mühle. Übrigens, wenn Ihr denn so wundergierig seid, es ist kein Geheimnis, man darf's wissen: im Taubenhof bin ich daheim.»

      «Im Taubenhof? Ach so, im Taubenhof. Im Taubenhof also. Keine fehlgeratenen Täubchen, fürwahr, in jenem Taubenhof.» Und indem er sie vom Kopf bis zu den Füßen musterte, auf und ab: «Hat er noch mehr dergleichen saubere, milchweiße Riesenvögelein, Euer Vater, der Präsident, in seinem Taubenschlag, von dieser Höhe?»

      Freudiger Stolz erhellte ihr Antlitz: «Unser sechs Geschwister sind wir, immer eins bäumiger als das andere. Mag leicht sein, unser Ältester, der Hans, ist noch einen halben Kopf größer als Ihr.»

      Conrad kniff zweifelnd ein Auge zu.

      «Es steht jedem frei zu blinzeln, der blöde Augen hat», bemerkte sie zornig. «Ich aber behaupte, was ich weiß und was Tatsache ist. Unser Hans schaut mir bequem über den Scheitel. Hiernach könnt Ihr's selber ausrechnen, wenn Ihr rechnen gelernt habt.»

      «Oder abmessen?» meinte er.

      «Meinetwegen.»

      Und beide streckten sich herausfordernd auf den Zehen, halb im Spaß, halb im Ernst.

      «Nicht so», schalt Josephine, «sondern rechtschaffen, Rücken an Rücken, wie es Brauch ist.» Hiermit drehte sie keckerhand die beiden um, drängte sie an die Wand und stieß sie rücklings zusammen. «Einen Schemel, ein Lineal und einen Bleistift her!» befahl sie. «Schnell!»

      Allein Anna unterbrach das Spiel. «Zur Suppe», mahnte sie, mit einladender, singender Stimme, einen Blick mütterlicher Huld auf das Paar hinübersendend. «Zur Suppe», wiederholten lustig die Mädchen, indem sie den ziehenden Ton in der Nachahmung überboten. Und hurtig schwärmte das junge Völklein nach dem Gesindetisch. Mit ihnen Cathri, worüber sich Conrad baß verwunderte, wie über etwas Ungebührliches.

      Er überlegte. Sollte er's wagen, sie eigenmächtig an den Familientisch zu befördern?

      Allein sie hatte schon gravitätisch die Serviette über den Schoß gebreitet und lachte ihm von weitem zu, belustigt über sein Erstaunen. «Ich sitze


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