Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler
sie den gegenübersitzenden Conrad grob an, mit dröhnender Stimme wie aus einem zersprungenen Kochhafen. «Doch ich verstehe, der ist wohl dem Herrn Leutnant nicht mehr vornehm genug.»
«Es handelt sich nicht um vornehm oder nicht vornehm», entgegnete Conrad ruhig, «sondern darum, daß der Portier ein frecher Flegel ist, mit welchem ich nächstens ein Wörtchen reden werde.»
«Ich weiß nicht», fuhr sie seufzend fort, die Augen wie eine Märtyrerin verdrehend, «aber seit dem verwünschten Militärdienst bist du wie ein umgekehrter Handschuh.»
«Das wäre ja lauter Gewinn», erwiderte er, «genoß doch der Handschuh niemals das Glück deines Beifalls.»
«Überhaupt», knurrte sie, «wozu das dumme unnütze Soldäteln? Wenn die Völker Frieden halten wollten, wenn die Fürsten Europas in ihrem nimmersatten, ländergierigen Ehrgeiz...»
Conrad fiel ihr in die Phrase: «Jetzunder, ihr Völker und Fürsten Europas, beißt die Zähne zusammen, allerhöchst die Base Ursula von Hutzlisbühl liest euch den Text.»
Gelächter vom Kellnerinnentisch her unterstützte die Abfertigung, und nun hatte die Base ihrerseits den Verleider.
Stumm und verdrossen schlich nunmehr die Mahlzeit voran, mit heftigem Schlingen und endlosen, unausstehlichen Pausen. Draußen aber in der Wiese pfiff ein Vogel unaufhörlich einen nämlichen sägenden Doppelton des Jubels, «tüitü», als könnte er des Maienglücks nicht genug erzählen.
Die Köchin, die alte treue Lisabeth, nachdem sie das Gemüse aufgetragen, blieb bei der Base hangen, zischelnd, mit gehässigen Blicken nach der Bernerin.
Die Base wulstete die Lippen. «Jedes Tierchen hat sein Pläsierchen», grölte sie überlaut, indem sie nach Cathri schielte: «Es scheint, es gibt Gäste, die lieben das.»
«Was?» fragte Conrad drohend.
«Nun», lautete die Antwort, «wenn eine Kellnerin sich herausdonnert wie ein Schaf zum Auskegeln und die bloßen Arme feilhält, daß einem davon übel wird, und die Augen unverschämt aussperrt wie eine Ich-weiß-nicht-was.»
Conrad suchte nach einer gepfefferten Zurechtweisung. Allein schon war Cathri leidenschaftlich aufgefahren und warf mit schneidender Stimme herüber: «Die Tracht, die ich trage, ist eine ehrbare Landestracht. Und an bloßen Armen kann höchstens ein ausgeschämter, abgelebter Wüstling Anstoß nehmen oder aber eine neidische alte Vogelscheuche. Und wenn ich die Augen aufsperre, so geschieht das, weil ich nicht wüßte, weswegen und vor wem ich sie niederzuschlagen brauchte. Übrigens, falls ich etwa hier jemandem im Wege bin, so hat er sich bloß zu melden. Ich habe mich nicht aufgedrängt, sondern bin einzig deswegen hier, weil mich die Jungfer Anna Reber persönlich im Kurbad aufgesucht und mit Bitten und Beten zur Aushilfe gedungen hat.»
«Cathri», sprach Conrad nachdrücklich, «wenn ihr von meiner Schwester gedungen seid, so gilt das genausoviel, als wäret Ihr von Vater und Mutter gedungen. Ich ersuche Euch daher in ihrem Namen höflich, zu bleiben und Euch durch keine Schnödigkeiten Unberufener irremachen zu lassen.»
Da setzte sie sich gelassen nieder. «Steht es so», sagte sie, «dann steht es gut. Ihr seid der Meister, an Euer Wort halte ich mich. Was andere dagegen reden, das schätze ich weniger als das Klappern einer Mühle.»
Die Base jedoch vermochte ihre Niederlage nicht zu verwinden. Nach öfteren unartikulierten Anläufen platzte sie gegen Conrad los: «Du gehörst scheint's auch zu den vielen, es braucht bloß ein paar ziegelrote Bäcklein, so verdrehen sie schon verliebt die Augen, wie das Huhn vor einem Mistkäfer. Nach dem innern Wert natürlich, nach der Tugend, darnach frägt keiner.»
Jetzt brauste Conrad auf «Und du», erwiderte er, «du gehörst auch zu den vielen, die da meinen, die Tugend einer Frau beweise sich durch einen Kropf.»
Die unbändige Lachsalve, die diesem Ausspruch folgte, und die feuchten Augen der Base belehrten ihn, daß er genauer getroffen, als er gezielt hatte, und gerne hätte er das grausame Wort zurückgeholt. Wirklich, er hatte es nicht bedacht, daß die Base selber einen dicken Hals hatte, und jetzt tat ihm sein Ausfall bitter leid. Eifrig suchte er nach einem Mittel, ihn wieder gutzumachen. Inzwischen hatte sie das Schnupftuch hervorgekrabbelt, und während sie sich die Augen wischte, stammelte sie: «Schweig nur, schweig, Conrad. Es gab eine Zeit, da war ich dir nicht zu häßlich, mitsamt meinem Kropf.»
«Die Zeit ist noch lange nicht vorüber», beteuerte er herzlich, «du bist mir auch jetzt durchaus nicht zu häßlich.»
Doch ohne auf diese Brücke einzulenken, klagte sie opferleidig weiter: «Waren das schöne Zeiten, damals, als du noch ein kleines Büblein warst.»
«Liebste, beste Base, was kann denn ich dafür, daß ich kein kleines Büblein mehr bin? Übrigens in dieser Beziehung hältst du es genau wie meine Mutter. Beständig spielt man mir's wie einen Verrat ins Gesicht, daß ich nachgerade ein Mann geworden bin. Zum Teufel, ich kann doch nicht euch zu Gefallen zeitlebens mit einer Saugflasche umherwandeln; oder was verlangt ihr denn eigentlich von mir?»
Als hätte er nichts gesagt, spann sie ihren grauen Faden fort, mit beschuldigendem Seufzen: «Du lieber Gott, wie manches Mal bist du mir auf dem Schoß gesessen.»
Dieser unaufhaltsame Quark von Dummheit und Ungerechtigkeit reizte ihn wieder.
«Wenn's nur daran fehlt», erwiderte er ärgerlich, «dem wäre ja abzuhelfen, das heißt, wofern es wirklich im Ernst dein Wunsch ist, daß ich mich auf deinen Schoß setze.»
Diesmal blieb jedoch das Lachen der Mädchen aus, welche vielmehr ernst und verlegen vor sich niederschauten, und als er sich verwundert nach der Ursache umsah, erblickte er neben sich die Mutter am Tisch sitzend, krankenbleich und schwach, den Kopf in Tücher gehüllt.
Er erblaßte, darauf ermannte er sich. «Guten Tag, Mutter, wie geht es dir?» fragte er teilnehmend, mit kleinlauter Stimme.
Ein schmerzliches Zucken um ihre blutleeren Lippen und ein anklagender Blick waren die Antwort.
«Wie es dir gehe, habe ich dich gefragt», wiederholte er empfindlich.
Kaum hörbar hauchte sie, das Gesicht wegwendend: «Es geht, wie es gehen kann.»
«Es kann verschiedentlich gehen», entgegnete er. «Aber wie es gegenwärtig dir gehe, hätte ich gerne erfahren mögen.» Seine Stimme bebte, denn es empörte sich etwas in ihm, das er mühsam niederkämpfte.
Und abermals drückte Schweigen über der Mahlzeit, doch diesmal nicht mehr das Schweigen des Verdrusses, sondern der Bangigkeit. Bloß die Mutter und die Base tauschten ab und zu kurze Bemerkungen, mit Ausschluß der übrigen, als speisten sie allein.
«Wie die Grillen lärmen», lispelte die Mutter, schmerzhaft die Stirnmuskeln runzelnd und die Tücher ängstlich übers Ohr ziehend mit ihren dünnen, bleichen Leidensfingern.
Die Base ergänzte zustimmend: «Die Amseln in Hutzlisbühl haben auch bereits schon um vier Uhr morgens wüst getan.»
Conrad biß sich auf die Lippen und starrte mit großen Augen nach der Zimmerdecke. «Die Amseln wüst getan», wiederholte er mechanisch, «Amseln, die wüst getan haben. ‹Amsel› – und wüst tun.» Plötzlich übermannte ihn ein unbändiges Gelächter, das seinen ganzen Körper schüttelte.
Da griff die Base wieder zum Schnupftuch, die Mutter aber maß ihren Sohn mit einem langen Blick des Kummers und der Verzweiflung.
Dieser Blick schlug sein Lachen nieder, statt dessen meldete sich in seinem Herzen ein finsterer Grimm.
Eine beträchtliche Weile hielt er noch an sich, endlich aber, wie sich immer und ewig kein Laut mehr hervorwagte, weder an diesem noch an jenem Tisch, überschäumte er.
«Man sollte meinen, man befände sich an einem Leichenschmaus», knirschte er, Messer und Gabel wegwerfend.
«Nicht jedermann ist beständig zum Lachen und Gaukeln aufgelegt wie du», bemerkte die Mutter strafend.
Ob diesem Vorwurf verlor er vollends die Selbstbeherrschung.