Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler
eines nach dem andern zurücklegte.
Einiges Volk hatte sich auf dem Platz gesammelt, um das zierliche, schmuck aufgezäumte Tierchen zu begaffen. Vom Hause her aber drang unterdrücktes Flehen jammernder Frauenstimmen.
«Vater, versündige dich nicht! Denk an Gott und den Heiland!»
«Conrad, wie kannst du das vor uns und deinem Gewissen verantworten!»
Ratlose Gestalten, in sinnloser Angst die Hände verwerfend, huschten unentschlossen vorwärts und rückwärts, mit dem schüchternen Bestreben, sich zwischen Vater und Sohn einzuschieben. Darob wurde jedoch die Lissi unruhig, begann zu tanzen und machte Miene, zu steigen und auszuschlagen.
«Weg von dem Rößlein, in des Teufels Namen, mit dem verfluchten Weibervolk», schnauzte der Kutscher in seiner Not, da er das Tierchen kaum mehr bemeisterte.
In dem Augenblick, als Conrad sich anschickte, dem Kutscher die Zügel abzunehmen, stellte sich der Alte mit gespreizten Beinen fester, holte mit weitem Arm aus und hob den Geißelstock. Halb erstickte Schreckensschreie ertönten, das Pferdchen entsetzte sich mit jähem Sprung im Halbbogen um seine Achse; der Kutscher, die Füße stemmend, fluchte den ganzen Kalender herunter, Conrad aber bohrte dem Vater einen feindseligen Blick in die wutentzündeten Augen.
Da trat Cathri ruhig mit langen Schritten vor und legte die Hand auf den Arm des «Pfauen»-Wirts. «Herr Reber», sprach sie gelassen, mit lautem, nachdrücklichem Ton, «der Gaul verträgt die Peitsche nicht. Der ist ohnehin feurig genug. Gebt die Geißel lieber mir.» Und nahm ihm den Geißelstock sanft aus der Hand, einfach und zuversichtlich, als verstände sich das von selber.
Der Alte aber war so verblüfft, daß es geschehen war, ehe er mit sich eins geworden, ob er es dulde oder wehre.
Unterdessen hatte sich Conrad behend und leicht in den Sattel geschwungen, trotz seiner Größe, und ritt nun, Cathri einen militärischen Gruß mit verbindlichem Lächeln bietend, in förderndem Schritt von dannen.
Hinter sich aber vernahm er den empörten Ruf seiner Schwester: «Es sieht nachgerade schon völlig danach aus, als ob Cathri im ‹Pfauen› regierte.»
Er lenkte zum Dorf hinaus, planlos dem Weg folgend, den Rain hinab durch die Kirschenallee nach der Eisenbahn, wo er den Schienenübergang gesperrt fand. «Ihr mögt noch bequem hinüber, Herr Reber», knurrte freundlich der Bahnwärter und hob die Schranken. Jenseits des Geleises aber kam ihm Conrad zuvor, indem er mit dem Pferde schlank über den Balken setzte, in zwiefältigem Ruck, jäh in die Höhe, zurückhaltend hinab. Dann strebte er weiter, zwischen Station und Stations-Pintenwirtschaft hindurch. Von rechts her warf ihm der Stationsvorsteher einen launigen Gruß nach, den er im selben Stil erwiderte: «Glückliche Reise, Herr Batteriekommandant.»
«Viel Vergnügen, Herr Betriebsdirektor.»
Gegenüber, zur Linken, vor der Pinte, stand die Neuberin, die Schankwirtin, ein Büblein auf dem Arm, das ihn mit übermäßigen Augen bewundernd anstarrte.
«Hast du's gesehen?» lachte sie dem Kinde in die Augen, das sie wie ein Spreuerkissen schüttelte, um seinen Geist aufzurütteln: «Hast du's gesehen, das Rößlein, wie er mit ihm über den Balken sprang, der Herr ‹Pfauen›-Wirt?»
«Hü! hü!» lallte das Büblein, aufjuckend, dann ließ es ein widerspenstiges Geschrei los, denn die Neuberin fraß ihm vor Wonne das Gesicht. Hinter dem Gartenhag aber, unter dem blühenden Kastanienbaum, lungerte die Jucunde, die sogenannte Nichte der Neuberin, mit ihrem unsinnigen Strubel, endlos, weglos und verirrlich wie ein Urwald. Sie machte Augen wie Pflugrädlein, rührte sich jedoch nicht, außer daß sie an den Fingernägeln kaute. Einen brandzündigroten Rock trug sie heute zur Schau, aber natürlich wie immer ohne Gestalt noch Gürtel, sondern bauschig wie ein Schlafrock. Es fehlten zur Hauderin nur die bloßen Füße.
Er vermied geflissentlich, die eine oder die andere zu grüßen, sondern trieb abgewandten Blickes vorüber. Endlich vorn auf der Landstraße angekommen, in welche sein Weg mündete, schlug er einen Trab an, in der Richtung nach dem Kurbad. Bald indessen verkürzte er die Zügel. Denn seine Gedanken waren daheim geblieben, und die holten ihn nun wie mit langen Hacken ein. Wozu auch vorwärts trotten? Irgendwohin begehrte er nicht; und nachdem er bewiesen, daß über die Lissi er allein zu verfügen habe, war sein Zweck erfüllt. Die Hauptsache aber war: die Gefahr, die seiner zu Hause wartete, zog ihn an. Er spürte: was ein rechter Mann ist, schiebt die Schwierigkeiten nicht in die Zukunft und weicht dem Kampf nicht aus, sondern stellt ihn. Er kehrte also um, den zurückgelegten Weg eilends wieder auflesend, so daß er in wenigen Minuten abermals den Bahnübergang erreichte. Diesmal war soeben ein Zug eingefahren, ein zweiter von unübersehbarer Länge hielt auf der Talseite vor der Signalstange, auf das Zeichen zur Einfahrt harrend. Da schöpfte er einen ansehnlichen Vorrat Geduld, verlängerte die Zügel und wartete vor dem Schlagbaum, wobei die Lissi mit schmunzelnden Nüstern neugierig nach dem Wagenfenster schnupperte, als wollte sie sagen: «Kann mir vielleicht einer von euch ein Schnupftuch leihen?» Es war ein Wagen zweiter Klasse. Gelangweilte Gesichter stierten ihm daraus entgegen, stumm und mürrisch, als ob sie nächstens bellen wollten. Nein, ganz unparteiisch, die Lissi hatte entschieden ein menschlicheres Gesicht. Nebenan aus der dritten Klasse lärmte Fußstampfen, Gejohl und Blechmusik. Köpfe bockten durch die Fenster aus und ein, mit heftigen, überschüssigen, unzweckmäßigen Bewegungen; verdutzte Rudel schossen die Treppe auf und nieder, wobei sich Zusammenstöße ergaben. Allmählich aber hefteten sich alle Blicke auf ihn, den einsam ragenden Reiter, um die zehntausendjährige Neuigkeit zu bestaunen, daß ein Zweibein auf einem Vierbein sitzt. Da er jedoch nicht aufgelegt war, sich von dem müßigen Reisevolk wie ein Jahrmarktswunder anglotzen zu lassen, drehte er sein Pferd um, das Hinterteil dem Wagen zugekehrt.
«Conrad», rief ihn eine bekannte Stimme aus einem der hintersten Wagen an: «Bist du heute abend gegen sechs Uhr daheim?»
Es war Leutolf, der Leutnant der Waldishofer Feuerwehr. Sein silberner Helm mit dem purpurroten Haarbusch glitzerte weithin; neben ihm kamen messingene Helme in großer Zahl zum Vorschein.
«Warum?» fragte Conrad zurück.
«Wir machen nämlich einen Ausflug nach Rubisthal, zu Ehren der Spritzenmusterung, und denken auf dem Rückweg im ‹Pfauen› einzukehren.»
«Ja», beschied er nach einigem Zögern, da er keinen vernünftigen Grund hatte, nein zu sagen. Auch mochte er die Waldishofer als wackere, pflichttreue Leute besonders wohl leiden.
Aus der vorderen Hälfte des Zuges, nahe der Lokomotive, winkte unablässig ein Taschentuch, bis ihm endlich die Ahnung aufdämmerte, das flatternde Fähnchen könnte möglicherweise ihm gelten. Wie er dann Front danach machte, erkannte er die Base.
«Leb wohl, Conrad!» schrie sie ihm zu, mit überschnappender Stimme. «Mach dich lustig! Und bessere dich! – Du nimmst dich gut aus auf deinem Rößlein. – Ja, reiten und soldäteln und dergleichen brotlose Künste, das muß man dir lassen, die verstehst du aus dem ff. Hingegen mit dem Pflug zu Acker fahren, gelt, das ist dir zu gemein, zu schmutzig?»
So von weitem erschien ihm jetzt die Base lieblich und traut, so daß ihm ganz heimatlich ums Herz ward. Und da sich eben der Zug mühsam in Bewegung setzte, rief er zurück, mit der Hand winkend: «Komm bald wieder. Ich zähle darauf»
«Zählen macht Kopfweh!» grölte sie.
Der Zug geriet inzwischen ins Laufen. «Also du kommst?» schloß er ab: «Du hast mir's versprochen?»
«Wir wollen dann sehen, wenn's finster ist», gackerte sie aus Leibeskräften. Und mit äußerster Anstrengung, den Oberkörper aus dem Fenster biegend, schrie sie: «Paß jetzt nur auf, daß es diesmal nicht wieder ein Unglück gibt.»
Dann reichten ihre Stimmen nicht mehr. Nun winkten sie sich zu, solange sie einander zu unterscheiden vermochten, sogar noch ein Weilchen länger, ledig der Richtung nach. Allmählich verschwand die Base mit dem enteilenden Zug in den verschwimmenden Wagen, einen freundlichen Schimmer zurücklassend, wie ein Sternchen, dessen Namen man kennt.
Allein nun auch den andern Zug geduldig abzuwarten, der jetzt umständlich herbeischlich, mit einer