Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch) - Carl  Spitteler


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die Arme zum Schutz über den Kopf gekreuzt wie ein Schulbube. Er flugs ihm nach, mitten durch den Haufen, den er gewaltsam teilte. Am Gartenpförtchen hatte er ihn, packte ihn am Kragen und schmiß ihn mit einem Fußtritt auf die Straße. Es war sonst nicht seine Gewohnheit, der Fußtritt. Allein diesmal überkam es ihn wie eine Offenbarung; diesem mußte er einen Fußtritt verabfolgen, seiner Schwester zu Ehren und dem schiefen Maul zuliebe. Nachher spürte er sofort eine wohltuende Zufriedenheit, so daß er ruhig den Aufmarsch der feindlichen Bauernheere besichtigen mochte, als Zuschauer.

      Die Niederwagginger waren bereits sämtlich draußen auf der Straße, gefolgt von dem Weibertrupp, der teils abmahnend, teils mit neugieriger Abenteuerlust sich anhängte, alle ohne Ausnahme mit erhöhtem Respekt vor den gewalttätigen Knaben. Erst hielten diese Kriegsrat. «Punkt sechs schlagen wir los, nicht früher und nicht später», lief es durch die Reihen. Dann nahmen sie die Jungfern in die Mitte und schlossen die Glieder; hierauf drückten sie die Hüte tief über die Stirn und schritten mit geducktem Kopf scheinheilig fürbaß, dem Dorfe entgegen. Vor ihnen her in geraumer Entfernung, seitwärts im Kornfeld zur Linken der Kirschenallee, zog die Oberwagginger Dorfschaft mit ihren Weibern, ebenfalls in scheinfrommer Verfassung. Beide Haufen beobachteten einander, sorgsam darüber wachend, daß der Abstand zwischen ihnen sich weder erweitere noch verkürze. Von Zeit zu Zeit schnellte ein Kopf aus der Nachhut empor, wie ein Hahn, der krähen will, schickte rasch dem Feind ein fistelndes «Haraus» entgegen und versteckte sich hurtig wieder im Knäuel. So rückten die beiden Truppen allgemach vor, den Rain hinan, dem «Pfauen» entgegen.

      Conrad triumphierte; nämlich die Nuß enthielt für ihn einen süßen Kern. Hatte er denn nicht dem Vater wohlmeinend vom Tanz abgeraten? Und was für einen Lohn hatte er für seinen guten Rat geerntet? Wohl denn, so möge er's haben. Und ein dämonischer Wunsch nistete sich in sein Herz, der Wunsch, daß Blut fließen möge, der Wunsch des mißhandelten Propheten.

      Wie er durch das verwüstete und vereinsamte Gärtchen, wo Bruch und Brocken umherlagen, nach seinem Platze zurücksteuerte, seufzte ihm Jucunde entgegen und warf sich erschöpft neben ihn auf einen Stuhl. Wie sie aussah! Zerzaust und zerrissen, mit Wein übergossen, die Lippen hängend, das Auge glanzlos, und der Schweiß troff ihr von der Stirne.

      Das war nun also die verführerische Jucunde, welche das Gerücht wie die leibhaftige Todsünde ausmalte! Eine klägliche Todsünde! Das wenigste, was man von einer Todsünde verlangen kann – nicht wahr? –, ist doch, daß sie zum mindesten appetitlich sei. Pfui, wie sie sich von jedes Waggingers knotigen Armen hatte herumzerren lassen! Freilich, man wußte ja ohnehin, daß sie keine Mutter Gottes war, allein wissen und mit eigenen Augen wahrnehmen ist mitunter zweierlei. Entschieden, hier war kein Aufenthalt für ihn. Was für ein Bock hatte ihn nur gestoßen, sich freiwillig in diese Spelunke zu begeben?

      Er sah nach seinem Hut. Siehe, der war zerdrückt, zerknittert, überstäubt. «Eine Bürste», befahl er hochfahrend.

      Bestürzt schaute ihn Jucunde an, schlich kleinmütig ins Haus und brachte die Bürste.

      Er säuberte Hut und Kleid, ohne daß sie wagte, ihm das Geschäft abzunehmen, so strenge gebärdete er sich. Endlich stammelte sie mit demütiger Stimme: «Oh, seid doch nicht ungehalten, Herr Reber! oh, seid mir nicht böse! Ich bitte Euch tausendmal um Verzeihung. Aber warum mußtet Ihr auch gerade einen Sonntag wählen? Gibt es doch Tage in der Woche genug, ach Gott, wo wir stundenlang hätten zusammensitzen können, ohne gestört zu werden. – Was muß ich nur tun, damit Ihr mir nicht mehr gram seid?»

      «Was bin ich schuldig?» heischte er kalt und wollte sich erheben.

      Da fiel sie laut aufjammernd über ihn her und drückte ihn nieder:«Nein, nein, nein», wehklagte sie erbärmlich, indem sie ihn verzweifelt umklammerte, «nein, jetzt geht Ihr nicht schon wieder fort. Jetzt, wo wir endlich allein sind, jetzt, wo ich Euch zum ersten Mal in meinem Leben habe.»

      Es schrie so viel wahrhaftige Herzensnot aus ihrer Stimme, aus ihren Augen, aus ihren Mienen, daß es ihn erweichte. Schließlich, nach Hause kam er immer noch reichlich früh genug für das, was ihn Liebliches dort erwartete.

      Er lehnte sich also wieder zur Ruhe.

      Da leuchteten zwei Sternchen der Dankbarkeit aus ihren guten Augen; sie setzte sich neben ihn, schlug jedoch mißtrauisch die Hand über seinen Arm, als ob sie besorgte, er könnte ihr unversehens entschlüpfen, wie ein frisch zugelaufener Jagdhund, der noch nicht vertraut ist. Und um ihm die Abschiedsgedanken zu vertören, überschwemmte sie ihn mit Geschwätz. Zunächst mit vorrätigen Redensarten, dann allmählich, als sie inne ward, daß keine Hinterlist in ihm sei, mit echtem Geplauder aus dem eigenen Seelengrunde.

      «Es macht schönes Wetter heute», warf sie ihm als ersten Brocken hin. «Und wüchsiges. Das Gras steht so hoch und saftig wie selten im Maien. Und den Kirschen hat die letzte Woche ebenfalls gutgetan; wenn nur nicht wieder der Regen alles verdirbt. – Wie es grumselt von allen Seiten, schwarz von Volk, dem ‹Pfauen› zu! Ja, Ihr seid reich, Ihr seid glücklich, Euch winkt das Leben. Wie kommt es übrigens, daß Ihr an einem solchen Tage nicht daheim seid? Habt Ihr vielleicht wieder einen kleinen Verdruß gehabt mit dem Vater? Es heißt, er sei böse gegen Euch. Ich kann nicht begreifen, wie es jemand übers Herz bringen kann, böse gegen Euch zu sein. Nun, es kommt mir zugute; ich hätte nie zu hoffen gewagt, daß Ihr jemals zu uns kämet, so ein stolzer Herr zu so geringem Volk.» Mit einem Male jedoch trübte sich ihr Auge, und sie sah ihn vorwurfsvoll an, als ob er ihr etwas gestohlen hätte. «Das ist wohl eine Freundin Eurer Schwester, die Bernerin, die heute zur Aushilfe gekommen ist? Schön ist sie, das ist wahr, sehr schön sogar; so Schöne gibt es hierzulande keine außer höchstens Eure Schwester. Und einen prächtigen Staat hat sie ebenfalls. Ist sie denn reich? Aber wenn sie reich ist, warum dient sie denn? Man sagt, sie sei sonst für den Sommer im Kurbad, als Büfettdame. Ich kann es begreifen. So ein Paradiesvogel zieht natürlich alle Männer an. Es heißt, sie lasse sich vom Badewirt selber den Hof machen. Freilich, er ist ja seit zwei Jahren Witwer. Aber den wird sie doch hoffentlich nicht nehmen! So viele Körbe, wie der schon erhalten hat, trotz all seinem Vermögen. Puh, der Greuel. Übrigens, so schön sie ist, wenn ich ein Mann wäre und die Wahl hätte: ich fände Euere Schwester doch noch schöner. Es kommt ja nicht einzig alles auf die Regelmäßigkeit an, sondern auch ein wenig auf den ‹Ausdruck›, wie man bei uns daheim sagt. Sie hat so etwas Liebliches um die Augen und den Mund; ich muß immer an Euch denken, wenn ich sie sehe. Nun, dafür ist sie ja auch Euere Schwester.»

      Sie hielt an und schwieg. Nach einer Weile fuhr sie fort, mit einem kleinen Seufzer: «Ich kann's begreifen, daß Ihr nur ein rechtschaffnes Mädchen nehmen wollt. Und daß Euch keine absagt, davor seid Ihr sicher. – Es würde noch manche andere gerne in den ‹Pfauen› hineinsitzen, in das fürstliche Heimwesen!»

      Empfindlich kehrte sie sich von ihm ab und blickte mit verschränkten Armen düster zu Boden. Einsmals aber schaute sie ihn wieder freundlich an: «Übrigens will ich dankbar sein, daß Ihr überhaupt gekommen seid. Wenn Ihr wüßtet, wie wohl mir das tut, wie wohl; ich kann Euch gar nicht sagen, wie wohl. – Aber schämt Ihr Euch denn nicht, am hellen Tage neben der Jucunde zu sitzen, so offen vor aller Welt?»

      Er errötete. In der Tat, sie saßen wie in einem Schaufenster. Allein Furcht vor den Leuten war nicht seine Schwäche. Nach kurzem Bedenken rückte er vielmehr noch etwas näher an sie heran.

      Da strahlte sie wie ein Sommermorgen.

      «Wie mich das freut», hauchte sie, «in die innerste Seele hinein freut, daß Ihr Euch meiner nicht schämt.» Und jeder Vorübergehende frischte ihren Blick auf.

      Hierauf sagte sie nichts mehr, sondern stemmte beide Ellenbogen auf den Tisch, legte den Kopf in die Hände und schaute ihm mit ihren übergroßen Rehaugen unverwandt ins Gesicht, um seine Gegenwart gründlich auszukosten.

      Auch er begann sich an seinem Plätzchen anzuheimeln. Seine Glieder, noch etwas vom Wein beschwert, gerieten in höckrige Stimmung, sein Wille entschlummerte, und das einfältige Geschöpf an seiner Seite, aus dessen treuem Herzen ihn Liebe in warmen Strömen wie Märzensonnenschein überflutete, tat ihm trotz allem auch wohl, sehr wohl sogar, offen gestanden. Mein Gott, sie sahen ihn anders an, zu Hause, der Vater und die Mutter. Und um seine ursprüngliche


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