Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler
so ohne Gruß und Abschied davongezogen zu sein, flüchtlings, beinahe im Streit. Sie mochte sein, was sie wollte, sie hatte ihn halt doch lieb, auf ihre Art. Und der weite, reine Frühling um ihn her kam ihm jetzt, wie soll ich sagen, nüchtern, gewissermaßen herzlos vor, so daß ihn beinahe sein Sieg gereuen wollte.
In der Tat zauderte er, vor der Eisenbahnlinie angekommen, indem er nach hinten schielte, ob sie nicht vielleicht nachträglich unter der Haustür stände.
Sie stand nicht dort. Und wie gesagt, er hatte ja den Waldishofern sein Wort verpfändet.
Da raffte er sich auf und schlich niedergeschlagen über das Geleise, als ob er einen wertvollen Gegenstand verloren hätte.
Jenseits der Schienen tauchte Jucunde in die Vergangenheit, und der «Pfauen» rückte aus der Zukunft in die Gegenwart.
Einen Gewinn aber trug er doch aus der Pinte mit heim: den Entschluß, nun seinerseits dem Vater ein freundliches Wort zu gönnen, dafür, was er an der Mutter Gutes getan hatte und etwa noch tun würde.
Er wählte den Pfad durch die Matte, um abzukürzen, dann auf halbem Wege verlangsamte er den Schritt, um später einzutreffen. Denn man sollte nicht etwa meinen, er hätte Eile, sich auf Befehl einzustellen.
«Hier muß mir eine Hecke hin», murmelte er stirnrunzelnd, als er das Gras neben dem Weg zertreten sah.
Schließlich langte er trotz allem Zögern doch an, beinahe gegen seinen Willen.
Ein paar abenteuerlich geschniegelte Radler, von Cathri bedient, hatten sich unterhalb der Mauerbrüstung in die Wiese vorgeschoben, von wo sie eine schallende Fröhlichkeit von sich gaben, um die Aufmerksamkeit an sich zu ziehen.
Sonderbar, fast ungehörig mutete es ihn an, daß er von allen Menschen gerade Cathri zuerst wieder sah. Er hatte, einfältigerweise, angenommen, sie würde zuletzt erscheinen wie die Hauptspielerin im Theaterstück. Mit leichtem Kopfnicken schritt er, an der Gruppe vorüber, seines Weges weiter nach dem Ende der Mauer hinan. Dabei widerfuhr ihm aber, daß er dem Vater ins Gesicht blickte, der, kaum zehn Meter in der Luftlinie entfernt, zufällig von der Mauerbrüstung herunterschaute. Der Alte schloß mit bösem Seitenblicke die Augen wie eine Eule am Mittag. Da verspürte er wieder den gewohnten feindseligen Schlag, eine Art Rückstoß, wie von einem schweren Geschütz. Weg war mit einem Mal sein löblicher Vorsatz. Es ging nicht; es ging einfach nicht.
Also kehrte er um und schlug sich in die Nähe der Radler, ständlings und ohne sich anzulehnen, unter einen mächtigen Birnbaum. Dort winkte er der Bernerin ein Zeichen mit dem Kinn.
Diensteifrig eilte sie herbei: «Ihr habt Euch keine langen Ferien gegönnt, Herr Reber», grüßte sie ihm entgegen.
Er ging auf diese Bemerkung nicht ein. «Cathri, wir sind Euch alle zu großem Dank verpflichtet», begann er feierlich und ein wenig befangen.
«Wofür?»
«Nun, heute morgen. Ihr wißt ja. – Zwischen mir und dem Vater. – Tut doch nicht, als ob Ihr nichts wüßtet! – Mit dem Peitschenstock. – Ihr habt uns möglicherweise vor einem schweren Unglück bewahrt.»
«Ach so? Das?» lachte sie gleichgültig.«Ein Idyll aus der ‹Schweizerfamilie› war es freilich nicht.»
«Wirklich, ich habe Euren Mut bewundert.»
Sie lachte wieder. «Man muß es halt mit den Männern halten wie mit den bissigen Hunden: nur ja keine Furcht vor ihnen zeigen.»
Er aber blieb ernst. «Ihr mögt Euere Tat verkleinern», versetzte er, «ich aber betrachte Euch von jenem Augenblick an als meinen guten Geist.»
«Geist hat mir bisher noch niemand nachgesagt», scherzte sie ausweichend. Aber sein Spruch schien sie doch zu freuen.
Helene schwebte heran. «Cathri, die Jungfer Reber läßt Euch sagen, Ihr müßtet in den Tanzsaal; Josephine bediene von nun an in der Wiese.»
Die beiden sahen befremdet auf
«Warum?» fragten sie fast gleichzeitig, wie zwei Kutschenpferdchen, wo eins höchstens um Zollbreite dem andern voraus ist.
Helene zuckte die Achseln. «So ist mir halt befohlen worden; mehr weiß ich nicht.» Aber ihre schwärmerischen Augen schillerten schadenfroh. Da schauten Cathri und Conrad einander verständnisvoll an, mit einem ausdrucksvollen Doppelblick, welcher sagte: «Ich begreife, und du?» – «Ich ebenfalls.» – «Es soll ihr aber doch nicht gelingen, uns zu entzweien, gelt?» – «Im Gegenteil, jetzt halten wir um so fester zusammen.» So vereinigte sie der Trennungsbefehl enger, als wenn sie einen langen Winter sämtliche Hochzeiten des Kantons miteinander durchgetanzt hätten. Hierauf begab sich Cathri vergnügt nach dem Tanzsaal.
Helene jedoch zauderte, als ob ihr nachträglich etwas einfiele: «War das vielleicht Euere Braut, Herr Reber?» heuchelte sie, «die Jungfrau, mit welcher Ihr im Stationsgärtchen zusammensaßet?»
Allein er war vorbereitet. «Was jene ist, geht Euch nichts an. Hingegen, was Ihr seid, das will ich Euch sagen! Eine recht mittelmäßige Kellnerin seid Ihr. Ja, guckt mich nur an, das seid Ihr. Eine gute Kellnerin erkennt man daran, daß sie sechs Augen und vier Ohren hat. Dort ruft man nach Senf, und keine zwei Schritte von uns winkt Euch einer verzweifelte Zeichen, wie ein Ertrinkender, und Ihr merkt von alledem nichts.»
«Das geht mich nichts an», erwiderte sie ungehalten, «ich bediene oben, nicht hier.»
«Ihr könnt von Glück sagen, daß nicht ich im ‹Pfauen› regiere, sondern einstweilen noch der Vater. Denn wenn ich einmal Meister bin und eine Kellnerin entschuldigt sich damit, daß sie an einem andern Platz bediene, so gebe ich ihr den Lohn,»
Verblüfft schlich sie von dannen.
«Das war Nummer eins», zählte er.
Nun trippelte Josephine herbei, schnippisch und fürwitzig. Die Äuglein glänzend vor schelmischer Spitzbüberei. Allein, wie sie die abgetakelte Miene Helenens gewahrte, erachtete sie den Boden nicht für geheuer, rüstete schleunigst ab und drückte sich neben Conrad vorbei an ihren Arbeitsposten, ohne ihre kleine Weiberbosheit abzuschießen.
«Wo bleibt Nummer zwei?» dachte er und wartete. Allein er wartete vergeblich; wenigstens einstweilen.
Über ihm, jenseits der Mauerkrone der Terrasse, ging es zu wie in einer Volksszene auf dem Theater. Eine grüne Bühne voll Menschen und kein Leben. Eine Menge von Köpfen, behutete und barhäuptige, bärtige und glatte, männliche und weibliche, lugten über die Rampe, wie abgeschnitten und zum Verkauf ausgestellt. Und alle, ohne Unterschied, Stadtvolk wie Landvolk, schnitten wichtige Gesichter, um für bedeutend zu gelten. Es fehlte zur vollendeten Stumpfheit bloß noch ein Jägerchor. Obgleich sie sämtlich zu schweigen schienen, erhob sich doch aus ihrer Mitte ein Getöse wie von hundert schwatzenden Stimmen. Dazwischen schossen die Kellnerinnen unwirsch kreuz und quer, verfolgt von den grimmigen Blicken des Alten, der ihnen, wenn er ihnen nahekam, was freilich bei seiner Schwerfälligkeit nur durch Wegelagerei gelang, verstohlen einen schimpflichen Ausputzer zuraunte, zwischen zwei süßlichen Lächeln an die Gäste. Die einen von ihnen wischten sich hastig die Augen, ehe sie ihre Ballettänzerfreundlichkeit wieder gewannen, andere maulten wütend vor sich hin. Helene drückte jedesmal beim Vorbeigehen einen neidischen Blick wegen der Radler gegen Josephine ab. Anna, welche im Gewühl besonnen der Ordnung wartete, sah oft zu ihm herunter, tat aber, als ob sie ihn nicht erkennte. Neben ihr auf einer Bank kauerte ihr Doktor in blauer Militäruniform, der sie unverwandt anstarrte. – So oft die Tanzmusik anhob, mit quiekenden Klarinetten, kreischend und hustend, hefteten sich sofort alle Blicke an die Fenster des Tanzsaales, ausdruckslos und träge. Beim Schmettern der Trompete verhielten sich die Stadtfrauen die Ohren.
Ob sie nicht ebenfalls lieber in die Matte herunterkommen wollten, riefen die Radler ihren Bekannten zu, mit übermäßigen Gebärden. Es sitze sich hier im saftigen Grase angenehmer und man werde weniger von dem Tanz-Gedudel belästigt.
Jene gehorchten geräuschvoll der Einladung, und als ob das ein maßgebendes Beispiel gewesen wäre, brach allsofort ein weiteres Häufchen von der Terrasse auf, um sich