Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler
Mendrisio habe schon dreimal nach Euch gefragt. Ihr möchtet endlich Euer benedeites Antlitz blicken lassen, meint der Vater, oder ob Ihr Euch etwa einbildet, der Herr Oberst müsse Euch nachlaufen, mit heraushängender Zunge wie ein Jagdhund.»
Er zauderte und zweifelte; der unglimpflichen Aufforderung des Alten hätte er selbstverständlich zuwidergehandelt, dem Obersten Allegri jedoch, der ihm stets väterliche Gewogenheit bewiesen, mochte er unbedingt seine Ehrerbietung abstatten.
«Ist der Vater dabei?» fragte er.
«Ja», lautete die Antwort.
«Ich komme», brummte er finster und machte sich auf.
«Haltet Euch gut», rief ihm Cathri nach, spottend, aber doch in ernsthafter Meinung. «Nehmt Euch zusammen, daß Ihr nicht wieder die Erbsen verschüttet, denn ich komme nicht zum zweiten Mal am hellen Tage das ‹gute Gespenst› spielen.»
«Haltet mir den Daumen», spaßte er mit verzweifeltem Humor.
Auf der Terrasse angelangt, sah er unter dem Volk einen Tisch voll Uniformen glänzen. Bei diesem Anblick ward ihm wohl ums Herz, innig und dankbar wohl, als ob ihn jemand aus einem tiefen Nebelsumpf, in dem er bis zum Halse steckte, in trockenen Sonnenschein gehoben hätte. Ehre, Ansehen und Freundschaft grüßten ihn aus den goldenen Knöpfen, aus den blinkenden Säbeln, und darüber wölbte sich wie ein verklärter Himmel ein großer, schwungvoller Gedankenbogen, der von Genf bis Schaffhausen und von Basel bis Chiasso reichte.
Während er so mit leuchtenden Augen frei und stramm auf den Offizierstisch zusteuerte, stiefelte ihm der Oberst lebhaft entgegen, ein mächtiges Freudenhallo anstimmend, umarmte ihn und tappte ihm auf die Schultern. Da er die übrigen Offiziere nicht kannte, erfolgte eine förmliche Vorstellung. Man tauschte militärische Grüße, hierauf einen biedern Handschlag, und auf das ausdrückliche Geheiß des Obersten nahm Conrad an seiner Seite Platz.
Der «Pfauen»-Wirt hatte sich inzwischen beiseite gedrückt, doch der Oberst forderte ihn mit kordialem Spektakel zur Stelle. «Heda, alter Brummbär», lachte er, «was soll denn das bedeuten, daß Ihr auskneift wie ein pulverscheuer Rekrutengaul? Seid Ihr vielleicht zu stolz, um mit unserer Gesellschaft vorliebzunehmen? Freilich, wenn einer solch einen Prachtkerl zum Sohn hat, darf er schon stolz sein! Geht doch mir selber das Herz auf, wenn ich ihn sehe.» Hiermit patschte er Conrad auf die Knie wie ein verliebter Onkel. Der Alte, beschämt durch die begeisterte Belobung des verworfenen Sohnes, schnupfte und knurrte, schließlich schleppte er sich gleichwohl zögernd herbei.
«Was glotzt ihr denn einander an wie zwei Dächse um einen Knochen? Auf!» befahl der Oberst. «Vorwärts! stellt euch beide nebeneinander.»
Da half nichts. Sie mußten friedlich nebeneinander stehen, den Abscheu niederzwängend und die Stirn glättend. Kaum, daß sie vermieden, sich zu berühren. Aber den Blick richteten sie nach verschiedenen Seiten.
Der Oberst verglich die beiden, vergnügt und beifällig. «Nun, was meint ihr, Kinder?» wandte er sich zu den Kameraden, «wenn wir lauter Mannschaften von diesem Schlage hätten? Donnerwetter, das gäbe eine Truppe! Hm? Was meint ihr? Da lernt man's glauben, daß sie die Pferde mitsamt den Reitern kopfüber schmissen, die alten Eidgenossen!»
Hierauf nahm er den Alten besonders vor. «Ja, ja, mein Teuerster, die Söhne, die Söhne, die Söhne! Das ist unsere Zukunft, das sind unsere Totengräber.»
Bei diesen Worten nahm er die goldberänderte Mütze vom Kopf und strich fröhlich mit der Hand über seinen weißen Schädel.
Der «Pfauen»-Wirt, ob dieser Todesmahnung, wechselte die Farbe, vom Blau bis zum Violett, Conrad aber, er konnte nicht anders, spürte Mitleid mit dem Vater.
«Mit dem Begraben, Herr Oberst», wandte er ein, «hat es noch gute Weile, sowohl mit Ihnen wie mit meinem Vater.»
«Ta, ta, ta!» machte der Oberst. «Patati, patata! In unserm Alter, mein Lieber, muß jeder stündlich darauf gefaßt sein, das Gewehr abzugeben! Nicht wahr, Herr ‹Pfauen›-Wirt? – Nun, die Hauptsache ist, daß man wenigstens jemand auf der Welt hat, der einem die Augen zudrückt, der einem ein wohlwollendes Andenken bewahrt, der einem die Altersbresten mit dankbarer Liebe und Anhänglichkeit verwinden hilft.»
Nun war die Reihe, sich zu schämen, an dem Sohne. Er errötete, senkte den Kopf und schwieg.
Jetzt aber sprang ihm der Vater bei: «Es gibt ja freilich mitunter kleine Mißverständnisse», brummte er ausweichend.
So suchten sie beide nach außen den Schein des Friedens zu retten, der Ehre und dem Ansehen der Familie zuliebe. Allein auf die Länge war die Stellung nicht haltbar. Auf der einen Seite der Oberst, der sie in seiner Einfalt zusammenschweißte, auf der andern ihre krampfhaften Bemühungen, sich weder zu berühren noch anzublicken, und herum die beobachtenden Offiziere. Deshalb spähten sie bänglich nach einem erlösenden Zwischenfall.
Conrad entdeckte ihn: «Verzeihen Sie, Herr Oberst», ersuchte er höflich, «ich sehe die Feuerwehr von Waldishofen anrücken, zwanzig Mann hoch, und ich als der Herrlisdörfer Feuerhauptmann...»
«Versteht sich, versteht sich, mein Lieber», erlaubte der Oberst. «Ohnehin müssen wir ja unsererseits ebenfalls auf den Heimweg bedacht sein. Die Pferde sind längst gesattelt, wir haben einzig Ihretwegen noch ein wenig verzogen. – Und diese Messe stammt auch nicht von Cherubini», fügte er lachend hinzu, nach dem Tanzsaal deutend, wo eben ein infernales Gejohl anging.
Es folgte ein kurzer Abschied, mit Sporenklirren und Absatzzusammenklappen; die Offiziere brachen auf, der Vater verzog sich, und Conrad schickte sich an, seine Feuermänner zu empfangen, welche schon, vom Anblick der stattlichen Cathri angelockt, nach der Matte abbogen.
Unterwegs jedoch holte ihn Anna eifrig ein, mit geschäftiger Eile und geheimnisvoller Miene. Redselig meldete sie: «Ein wunderhübsches Fräulein steht im Hausgang mit ihrer Mama und frägt nach dir. Sie haben deine Bekanntschaft in Frauenfeld gemacht, an einem Ball. Sie hätten sich leider auf ihrem Ausflug verspätet und müßten auf den Zug, sonst würden sie dich nicht so unhöflich in den Hausgang bestellen; aber so, ohne wenigstens einen flüchtigen Gruß am ‹Pfauen› vorbeizugehen, hätten sie doch nicht übers Herz gebracht, und sie hofften, du werdest sie entschuldigen.»
Über Conrads Gesicht flog ein Strahl der Freude. «Ah, ich weiß!» rief er lebhaft und wollte mit der Schwester aufbrechen, die Damen zu begrüßen.
Da gewahrte er Cathri jenseits des Mäuerleins, kaum drei Meter entfernt, steif wie eine Säule und die funkelnden Augen drohend auf ihn gerichtet. Ohne Zweifel hatte sie den Bericht der Schwester mitangehört und erriet, was auf dem Spiele stand.
«Ich glaube fast, sie zählen ein wenig darauf, daß du sie an den Bahnhof begleitest», fuhr Anna fort, im Begriff, ihn mitzunehmen.
Allein er war stehengeblieben. Eigentlich wäre er zwar gerne zu den Damen gegangen und mit ihnen an den Bahnhof – denn liebliche Erinnerungen wachten mit klaren, schönen Morgenaugen auf –, allein Cathris strenge Miene sprach zu ihm: «Jetzt wird sich's erweisen; jetzt hast du's in der Hand. Je nachdem du entschließest, werde ich beschließen.»
Während er noch zweifelte, zwischen Furcht und Gelüsten, teufelte drinnen im Tanzsaal ein Charivari wie am Jahrmarkt, wenn eine Menagerie brennt.
Da gesellte sich zur Furcht die Scham. Wie stand er nun da, vor dem wählerischen Geschmack seiner feinfühligen Tänzerin, die ihn als schmucken Offizier kennengelernt hatte! Einfach als Bauernwirt, ja klipp und klar Bauernwirt, sonst nichts. Das andere, der ritterliche Soldatenrock, nahm sich dagegen wie eine zeitweilige Verkleidung aus. Eine heiße, peinliche Röte überlief ihn.
Nein, in den «Pfauen» von Herrlisdorf führt man kein zartsinniges, wohlerzogenes Stadtfräulein heim, dazu war sie ihm zu gut, zu wert. Und da eben jetzt auch die Offiziere sich entfernten, deutete seine Entmutigung das wie eine Bestätigung seiner Erniedrigung. Ein Bauer war er, ein Bauer blieb er, dieser Wahrheit galt es sich zu fügen. Und rasch entschlossen wie immer traf er die Wahl: «Es tut mir leid», entschied er, «allein ich muß durchaus meine Waldishofer in Empfang nehmen.»
«Jedenfalls