Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler
geschreckt, sperrten sich verzweifelt, Front gegen den gemeinsamen Gegner. Keine unnützen Verwünschungen mehr; nichts als das Keuchen der Lungen, das Strampeln der Füße, das Klopfen der Fäuste.
Plötzlich juckte Leutolf, während er eben Conrad gegen einen Seitenhieb deckte, heftig rückwärts und befühlte seine Wange. Unmittelbar darauf krachten zwei Revolverschüsse, donnerten einzeln durch den Saal und rollten gemeinsam längs den brüllenden Wänden dahin, bis sie endlich in den Winkeln verhallten.
Da war es wie eine abgestellte Mühle, und bleiches Entsetzen vereinte Freund und Feind.
«Wer schießt da?» kam es endlich zaghaft aus dem Bauernheer.
«Ich», bekannte wutgrinsend der Wachtmeister, worauf ihm Leutolf gebieterisch den Revolver entrang.
«Man schießt nicht auf das Volk wie auf Rebhühner», protestierten die Wagginger.
«Man sticht nicht mit dem Messer», schäumte der Wachtmeister.
«Wir haben nicht gestochen.»
«Freilich habt ihr gestochen», versicherte der Wachtmeister und deutete auf Leutolfs Wange, die von einer haarscharfen roten Linie vom Auge bis zum Kinn gezeichnet war und reichlich blutete.
«Es ist nichts», beruhigte Leutolf lachend, als Conrad erschrocken nach dem Blute sah; «bloß die Haut geritzt. Aber am bösen Willen hat's nicht gefehlt! Und zwar auf dich war's gemünzt.»
Von draußen aber schrillte anhaltendes Angstgeschrei in den höchsten Tönen: «Wer ist getroffen? Ist jemand tot?»
«Wer ist getroffen?» wiederholten mehrere gleichzeitig im Saale.
Aller Blicke wanderten fragend im Kreise und begegneten allerorten andern fragenden Blicken.
«Niemand», versuchte schließlich ein schüchterner Ruf. «Niemand», bestätigte man von allen Seiten.
«Niemand», lautete die bestimmte Antwort nach außen. Da verstummte das Angstgeschrei, und ein frohlockendes Echo vertrieb die tröstliche Botschaft in die Ferne. Aber mancherlei Köpfe tauchten jetzt an den Fenstern auf, um den weitern Verlauf den Untenstehenden zu berichten.
Eine Weile verharrte noch die Menge im Saale betäubt. Endlich rückte der Oberwagginger Fürsprech in die Mitte, rundlich und süß, mit populärem Schmunzeln. Nachdem er sich verlegen die Hände gerieben, begann er salbungsvoll: «Da uns hiermit Gottes barmherziger Finger ersichtlich vor einem unabsehbaren Unglück bewahrt hat, sollte das nicht ein Wink sein, Frieden zu schließen? Ohnehin haben wir ja nicht den mindesten Span mit dem ehrenwerten Herrn Reber. Alles, was wir begehren, ist, daß man uns ruhig abziehen läßt, wie wir gekommen sind.»
«Und das Messer?» knirschte der Wachtmeister.
«Die Gesamtheit für die beklagenswerte Tat eines einzelnen haftbar machen zu wollen, wäre doch entschieden ein unbilliges Ansinnen.»
«So liefert uns den Messerstecher aus, nachher lassen wir euch laufen.»
«Da könnten wir mit ebensoviel Recht den Revolverschützen von euch verlangen.»
Die Waldishofer lachten spöttisch.
«Versucht's!» rief einer. Ein anderer: «Das ist anderlei, der Schuß war bloß die Antwort auf den Stich.»
Doch Conrad gebot Stille. «Es soll ihm kein Leid geschehen», beteuerte er, «vorausgesetzt, daß er sich freiwillig meldet.»
Der Fürsprech sah sich fragend um, doch keiner muckte.
«Die Taschen untersuchen», meinte ein Feuerwehrmann. Kaum hatte er das ausgesprochen, so glitten zahlreiche Stellmesser auf den Boden.
Hohnlachend schnellte Conrad empor.
«Da seht sie, die scheinheiligen Heuchler», schäumte er, auf die glitzernden Klingen deutend. «Auf denn! Waffen gegen Waffen! Behändige jeder, was er findet. Und dann drauf, diesmal ohne Erbarmen.»
Ein tumultuarisches Scharren unzähliger Tritte erfolgte, indem die beiden Heere sich hastig zur Sammlung zurückzogen, die Bauern, um den Angriff geschlossen zu erwarten, denn sie fühlten sich als die Schwächern, ob auch an Zahl ungefähr gleich, die Waldishofer, um sich zu bewehren und um einen überrennenden Ansturm zu gewinnen.
Da tönte von draußen die weiche, seelenvolle Stimme Annas: «Conrad, denke an unsere Mutter! Vergieße kein Blut und schone das deinige.»
Der Ton drang in den Aufruhr wie Orgelklang in eine zerrissene Seele.
«Conrad, sei gut», mahnte wiederum die Schwester.
Conrad war erschüttert. «Leutolf, entscheide du», sagte er dumpf, «du bist der Verwundete.»
Doch Leutolf schob ihm die Entscheidung zurück: «Dir galt der Stich, dir gebührt das Urteil.»
Conrad überlegte.
«Wohlan», verkündete er, «ich entbiete Frieden, unter der Bedingung, daß jeder einzelne klar und vernehmbar den Spruch hersagt: ‹Wer mit dem Messer sticht, ist ein feiger Schurke.› Jetzt könnt ihr's nehmen oder lassen.»
Die Wagginger murrten, wußten jedoch keine triftige Einrede. Und da die Furcht ihnen überzeugend zusprach, nahmen sie endlich stillschweigend den schimpflichen Vertrag an.
«Es darf sich ja jeder, der sich unschuldig weiß, herzhaft zu dem Spruch bekennen», ermutigte der Fürsprech.
Die Waldishofer bildeten nun eine Gasse nach der Türe wie zum Spießrutenlaufen, durch welche die Wagginger einzeln dem Ausgang zuzogen, den verlangten Spruch stammelnd, mit erhobenen Händen auf ausdrückliches Geheiß. Wer sich übereilte, ward angehalten, wer unverständlich munkelte, mußte die unliebsamen Worte wiederholen. Sie maulten, als gingen sie unter dem Joch, während die Waldishofer sich mehr und mehr zu übermütigem Spott hinreißen ließen.
Plötzlich erscholl ein fröhliches Gelächter. Brigitte, von Amor betört, erschien hinter einem jungen bäurischen Schönbold, den sie am Rockschoß festhielt, um ihn ja nicht zu verlieren.
«Ei, seht die Verräterin!» drohte Conrad belustigt. Sie aber streckte fuchswütend die Zunge heraus, so ziemlich die einzige Art, sich ihrer zu bedienen, die ihr zu Gebote stand.
Als der Regenwurm sich vorbeidrückte, der letzten einer, las Conrad in seinen auskneifenden Blicken die Schuld.
«Sieh mir ins Auge, du Wicht, wenn du's wagst», befahl er verächtlich. Als jedoch der andere, ohne auszuschauen, den schleichenden Schritt beschleunigte, ließ er ihn gleichwohl ziehen.
Jetzt aber fuhr der Wachtmeister dem Regenwurm an die Gurgel: «Soll mich der Teufel holen», schrie er, «oder der Messerhalunke, den ich aufs Korn nahm, bist du!»
Allein Conrad wehrte energisch ab. «Habe ich allen Frieden entboten, so habe ich auch jedem einzelnen die Sicherheit verbürgt.» Und vereint mit Leutolf riß er den Wachtmeister zurück. Da war der Regenwurm gerettet, ob auch ein Igel von Fäusten ihn umstarrte, so daß er nur langsam tappend vorwärts gelangte und bei jeder Bewegung an einen harten Knöchel stieß; den Spruch der Selbstverdammung mußte er freilich zur Buße immer von neuem bekennen und sich daneben unrühmliche Titel, Personalschilderungen sowie Anleihen aus seinem Lebenslauf gefallen lassen.
«Es ist der Matthiesen-Michel von Niederwaggingen, mehr braucht man nicht zu sagen, damit jedermann sofort weiß, es ist von allen schlechten Hunden der schlechteste Hund.»
«Er hat bereits ein Menschenleben auf dem Gewissen; wäre er damals nicht zu jung gewesen, er säße jetzt auf Lebenszeit im Zuchthaus.»
«Das ist noch nicht einmal das Schlimmste! Das Geld, das er seiner Mutter mit dem Messer abzwang!»
«Das Erbteilchen, um das er seine hilflose, blödsinnige Schwester betrogen hat!»
«Genug!» schloß Conrad und geleitete den Matthiesen-Michel an die Türe, indem er den Schlotternden unter dem Arm faßte und mit seinem Körper deckte.
Hernach wurde