Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler
da her Gehörendes umherlag, in zweckmäßiger, doch unbewußter Arbeit. Unterwürfig, Dank und Glückwunsch im Auge, näherten sich die Musikanten, ließen jedoch, was sie sagen wollten, unausgesprochen. Die Waldishofer, die eben jetzt geräuschvoll von der Verfolgung zurückmarschierten, singend und prahlend, verstummten vor dem geheimnisvollen Schweigen.
«Conrad, was ist gegangen?» flüsterte Leutolf. Conrad gab keine Antwort, und da er den Doktor mit der abgespannten Miene eines von der Arbeit Ausruhenden um die Ecke biegen sah, eilte er diesem eifrig entgegen.
«Wie steht's?» erkundigte er sich besorgt. «Doch hoffentlich keine ernsten Verletzungen?»
Der Doktor kniff ein Auge zu und blinzelte mit dem andern herüber, ehe er geruhte, sich zu äußern. «Du kannst Gott danken, daß es so abgelaufen ist, oder vielmehr der Bernerin, daß sie Decken herbeibefahl. Es wäre sonst möglicherweise nicht so gnädig abgelaufen. Denen, die zum Fenster herauszogen, hat's keinem etwas getan, es gibt zum Glück manchmal solche Wunder; dagegen von den ersten, welche das Treppchen herabkamen, liegt einer in Behandlung.»
Dann verschluckte er die Stimme: «Ein gutartiger Oberschenkelbruch», munkelte er undeutlich mit geiziger Betonung.
Conrad war nicht im reinen, ob er sich nun über die «Gutartigkeit» Glück wünschen oder über den Oberschenkelbruch härmen solle.
«Wo liegt er?» fragte er einstweilen.
«Wir haben ihn vorläufig in der Scheune verbunden.»
«Wer pflegt ihn?»
«Die Lisabeth und die Brigitte.» Hiermit entfernte sich der Doktor, der Haustüre zu.
Danach ward es wieder stille, so stille, daß der Stundenschlag der Kirchturmsglocke, der jetzt zufällig tönte, wie ein wichtiges Ereignis wirkte. Automatisch zählte ein jeder nach: Eins – zwei – «sieben Uhr», lautete der Schluß. «Wie? schon sieben Uhr?» lief es erstaunt durch die Menge, obschon niemand wußte, warum er erstaunte.
Jedermann empfand, es müsse noch etwas dazu geschehen, sei es nun, um das Ergebnis zu ergänzen, sei es, um es wieder umzustoßen.
Da polterte des «Pfauen»-Wirts Stimme scheltend aus dem Innern der Stube: «Was steht ihr da und guckt die Backen hinab wie die Schafböcke! So laß doch wenigstens deinen Leuten einen Trunk aufwarten. Sie haben's wahrlich verdient.»
Conrad atmete auf. «Von welchem Wein?» fragte er in gehorsamem Ton.
«Was fragst du mich, Dilldapp? Du hast ja jetzt zu verfügen.» Und ein Bund Schlüssel flog Conrad vor die Füße.
Hiermit war der Bann gehoben und die Spannung gelöst.
Alles drängte sich zu Conrad heran, um ihm zu der erlangten Herrschaft Glück zu wünschen.
«Also, von nun an ‹Pfauen›-Wirt! Ich wünsche Euch Gesundheit und langes Leben, und daß es Euch wohl ergehe.» – «Und ich eine brave Frau ins Haus.» – «Und ich erlaube mir denn doch auch, Ihnen von Herzen zu gratulieren.» Eine Unzahl Hände schob sich vor, Hände von jeder Größe und Beschaffenheit, er wußte gar nicht, wohin zunächst greifen. Die eine schüttelte, die andere drückte und quetschte seine Rechte, einige zerrten ihm vor Freude beinahe die Schulter aus dem Gelenke, manche wieder legten nur schüchtern die Finger auf, die Gewährung des Grußes von ihm erwartend. Der Wachtmeister aber prügelte ihn vor Begeisterung.
«Meister», lächelten die Kellnerinnen, halb furchtsam, halb vertraulich, und ihr Auge bat um Verzeihung für Vergangenes, um Nachsicht für Zukünftiges.
Was tat Conrad? Er umarmte eine jede. Wahrhaftig, er umarmte sie. Und schämte sich nicht und es reute ihn nicht.
Josephine aber, im Begriff, ihm die Hand zu reichen, strahlend und lächelnd, warf sich plötzlich auf einen Stuhl und weinte wie ein Bächlein. «Ich mag's Euch halt so von Herzen gönnen», klagte sie und war gar nicht zu trösten.
Von allen Seiten jubelte in endloser Wiederholung, wie das Halleluja am kantonalen Gesangfest, sein Name; jenes Eigenwort, das von allen Wörtern der Sprache dem Menschen am süßesten klingt, wenn es aus dem Munde der Freundschaft tönt. Und sie waren ihm wirklich Freund, alle, ohne Unterschied, die ihn jetzt umzingelten, Bekannte wie Unbekannte; das las er am guten Klang, am warmen Blick. Woher kam ihm, dem gestern noch so Vereinsamten, nun plötzlich die viele Gunst? Wie ein glitzernder Komet mit einem leuchtenden Schweife flimmerte ihm die Ahnung auf, daß der Erfolg Ansehen schafft und daß der Ruhm Freunde hinter jedem Haselbusch zeugt.
Bewegt erwiderte er jede einzelne Huldigung, ohne Unterschied des Standes oder der Person.
Er war glücklich, was man so sagt, glücklich. Unwillkürlich strotzten seine Muskeln kräftiger. Ein Hochgefühl von überquellender Jugend und Gesundheit beseligte ihn, nicht anders, als ob die gestrenge Natur in Person ihn liebkoste. Wenn aber einer mit der Natur im Einklange steht, so steht es gut mit ihm. Er hätte in diesem Augenblick Tod und Teufel herausfordern mögen.
«Anna», raunte er der Schwester zu, ihr den Schlüsselbund überreichend, «laß vom Allerbesten bringen, Chianti, du weißt. Und zwar für alle den nämlichen. Und ja nicht damit geizen!»
«Herr und Meister», murmelte er, um sich schauend, um sich der Wirklichkeit zu versichern. Mehr vermochte er einstweilen nicht mit dem Geiste zu begreifen; denn die Bewegung war zu stark; außen tanzte die Welt, und inwendig hüpfte seine Seele.
Als Anna zurückkehrte, mit einem Gefolge von Kellnerinnen, welche Fäßchen und Flaschen schleppten, zog er sie vertraulich beiseite. «Ich lasse den Vater aufs höflichste ersuchen, ob er uns die Ehre antun wolle, mit uns anzustoßen.»
Anna willfahrte mit zweifelnder Miene. In der Tat lautete der Bescheid abschlägig, wenn schon nicht unfreundlich. Der Vater lasse danken, meldete sie, allein er sei für heut zu müde und angegriffen. «In diesem Zustande jedoch darfst du dich nicht länger blicken lassen», fügte sie eifrig bei. «Schnell geh und wasch dich und kleide dich um.»
«Bah!» machte er gleichgültig. «Kriegszustand ist auch ein Zustand. Ich sehe genauso aus wie meine Kameraden. Keiner hat Anlaß, sich vor den andern zu schämen.»
«Mit Verlaub», entgegnete sie, «so sehen sie denn doch nicht aus, deine Kameraden», und zeigte auf seinen rechten Ärmel, der nur noch an einem Fetzen baumelte.
Er lachte: «So bring mir meinetwegen einen alten Waffenrock, der deckt alle Mängel. – Was macht die Mutter? Ist sie noch nicht heim? Weiß sie etwas? Was wird sie wohl dazu sagen? Trachte, daß du es bist, die es ihr zuerst mitteilt; du verstehst ja, es so vorzubringen, daß es nicht falsch aufgefaßt wird. Sag ihr, sie brauche sich nicht zu betrüben. Sie solle es bei mir gut haben, sowohl sie wie der Vater, so gut wie der König und die Königin am Schluß eines Märchens, inwendig und auswendig. Sag ihr das.»
Bald klangen die Becher und rauschte das Bankett. Gläser wurden angestoßen, Gesundheiten ausgerufen, Späße zum besten gegeben und, um den ruhmreichen Sieg wieder zu kosten, einzelne Vorfälle aus dem Tanzsaal geschildert, welche, durch den Festjubel geschaut, sämtlich komisch wirkten. Conrad schritt still von einem zum andern, nippte aus manchem Glas, pochte auf manche Schulter, drückte jedem seiner Waldishofer nochmals die Hand, diesmal von sich aus, außer Leutolf und dem Wachtmeister, die ohnehin zu ihm gehörten wie sein eigener Leib. «Heda, ihr Musikanten, setzt euch zu uns! Wer heute nicht mit mir hält, beleidigt mich.»
«Sie sollen uns doch etwas aufspielen», meinte Josephine keck. Ihr Einfall fand allgemeine Unterstützung, worauf die Musikanten umständlich ihre Kratzwaffen hervorkramten, bei deren bloßem Anblick schon die Feststimmung um eine Oktave höher stieg, im Vorgefühl des zu erwartenden Taktlärms.
«Nun, Cathri, wo ist denn der Teufel hingekommen, der auf dem Dache saß?» hatte Conrad auf der Zunge und wandte sich nach ihr um. Sie war nirgends in seiner Umgebung. Da erst fiel ihm auf, daß sie ihm schon seit geraumer Stunde abhanden gekommen war, ja sogar beim Glückwunsch gefehlt hatte. Verwundert suchte sie sein Blick, in beständig weiteren Kreisen. Endlich entdeckte er sie unter der Halle der Kegelbahn, regungslos mit angelehntem Rücken