Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler
wie die Fremde sich vielweserig um den Bruder zu schaffen machte. Aber so erniedrigt, so trübselig sah sie drein, so völlig des Mutes und der Hoffnung bar, als ob sie sich in die nächste Waldhöhle verkriechen möchte, um dort zu verenden. Endlich, als Cathri mit vernichtender Siegermiene von dannen geschritten war, die Stirne sprühend von bräutlichem Stolz, die Schultern gehoben vom Vorgefühl der nahen häuslichen Allmacht im «Pfauen», und gravitätisch den Nacken hintenüberwerfend, als ob sie einen Herrschermantel nachschleppte, öffnete Anna die bleichen Lippen, die ein krampfhaftes Zittern umzuckte, ehe sie das Wort zu gestalten vermochten: «Und ich?» sagte sie mit entfärbtem Klang, «ich bin nun abgesetzt?»
«Du hast ja deinen Doktor», tröstete er zwischen Scherz und Ernst.
Und da sie ihm traurig und vorwurfsvoll in die Augen schaute wie ein frierender Bettler, dem ein Geiziger statt eines warmen Kittels einen kupfernen Batzen gespendet hat, umschlang er sie zärtlich: «Sei kein Kindskopf», schmälte er. Er hatte ihr eigentlich etwas ganz besonders Liebreiches zugedacht, etwas, das ihrem kranken Herzen Balsam wäre, denn sie beelendete ihn wie damals die sterbende Johanna vom Schulmeister, als sie ihm die magern Knöchlein um den Hals wand und flüsterte: «Weißt du noch, Conrad, damals vor zehn Jahren?» – Allein er fand das gewünschte Wort nicht, und je länger er suchte, desto weiter floh es ihn. Zum Ersatz dafür preßte er sie an seine Brust.
Sie ließ einige Augenblicke schweigend den Trost seiner Umarmung auf sich wirken, wobei sie ein klein wenig auflebte; hernach sagte sie etwas gefaßter: «Ich habe denn also nach der Mutter geschickt; sie werde gleich kommen.»
«Hat sie schon etwas erfahren?»
Sie antwortete nicht, wich ihm auch mit den Augen aus. Da wurde er ernst, schwieg und sann: «Wußtest du eigentlich», fragte er, «daß die Mutter vorzeiten schwermütig war?»
«Ja; warum?»
«Nichts, es schoß mir nur so durch den Kopf.»
Das Gespräch stockte.
«Ich muß nun wieder hinauf in die Schlafstube, um nach dem Vater zu sehen», ermahnte sie sich. Dabei seufzte sie, indem sie eine Meldung unterdrückte, die ohne ihre Erlaubnis über die Zunge gleiten wollte. Endlich nach mehrfachem Wechsel zwischen Seufzen und Verstummen überquoll ihr die Stimme. «Er macht mir Sorge», klagte sie.
«Sorge? wieso?» fragte er erstaunt.
Sie zauderte mit der Antwort. Doch nachdem sie einmal einen Zipfel der Wahrheit abgedeckt, mußte sie sie auch hervorziehen.
«Es ist nicht recht mit ihm», gestand sie. «Es reut ihn wieder zur Hälfte. Er beschwert sich über dich, er nimmt dir's nachträglich übel, was er dir versprochen hat. Du habest ihn an die Wand gedrückt und ihm das Messer an die Gurgel gesetzt.»
«Das ist nicht wahr», rief er hitzig, doch sofort sich mäßigend: «Nun, er wird bald selber einsehen, daß es für alle und auch für ihn das Beste gewesen ist», sagte er zu seiner eigenen Beruhigung.
«Wir wollen's hoffen», bemerkte Anna und wandte sich zum Gehen. Doch plötzlich kehrte sie um und stürzte ihm, bitterlich weinend, an die Brust: «Verzeih, daß ich heute nichts tue als dir vorweinen; es ist ja sonst wahrhaftig nicht meine Art, aber ich weiß nicht mehr, wo aus und wo ein. Ich fange fast an zu fürchten, es könne nie mehr gut werden.»
«Aber es ist ja gut, liebes Närrchen.»
Sie schüttelte den Kopf «O nein, o nein, es ist nicht gut, es ist schlimm, entsetzlich schlimm, schlimmer als je», und weinte noch bitterlicher.
Während er umsonst herumriet, was sie wohl so betrüben könnte, ward sein Augenmerk von einem absonderlichen Getöse angezogen, das aus der Schlafstube herunterdrang, dem übermütigen Bankett zum Trotze. Von einer unsichtbaren Faust eingestoßen, klirrten die Fensterscheiben vom mittleren Stockwerk auf die Erde, eine um die andere, einen Regen von scharfen Splittern durch die Luft sendend. Aus dem Innern der Stube aber drangen tierische Töne, bald kläglich, wie das Blöken eines Kalbes, bald zornig, wie das jauchzende Brüllen des Stieres, wenn er die Hörner senkt.
«Was ist das?» fragte Conrad stirnrunzelnd, mit rollenden Augen, die aus den Höhlen strebten.
«Er verflucht dich», jammerte Anna in wildem Schmerz, der Überlegung verlustig.
Conrad erbleichte und bebte. «Wenn er mich verflucht», preßte er mit eisiger Stimme hervor, «so verfluche ich ihn auch. Ich will doch sehen, ob der gerechte Fluch eines gemarterten Sohnes durch die Gewölbe der Hölle nicht lauter donnert als der ungerechte Fluch eines grausamen Vaters.»
«Nein, nein», flehte Anna, die Finger um seine Schulter krampfend, «nein, das wirst du nicht tun, du wirst bedenken, daß er ein alter, kranker Mann ist, der nicht weiß, was er tut, du wirst nicht vergessen, daß er trotz allem halt dein Vater bleibt und meiner.»
Ein Kampf schüttelte ihn. «Du hast recht», schloß er mit dunkler Stimme, «ich will ihm doch nicht fluchen.»
«Bau auf mich», versetzte sie dankbar, «ich besänftige ihn; gewiß, ich besänftige ihn», und eilte, so geschwind sie vermochte, ins Haus.
Er aber begab sich zu den Zechern, die, befangen in selbsteigener Lustigkeit, betäubt vom Lärm, den sie verübten, und betört vom Wein, von dem Kampf der guten und bösen Geister hinter ihrem Rücken nichts vernommen hatten. Doch ob er sich auch in die dichteste Gruppe mischte, er kam sich nunmehr vor wie eine einsame, finstere Stückkugel in einem Blumengärtchen. Er hörte nicht, was man sprach, sah nicht, was seine Augen erblickten, nur eins schaute er, dieses aber beständig: einen unförmlichen, schwarzen Fleck, der vor ihm in der Luft schwebte, unten in der Nähe seiner Füße. Und wohin er sich auch wandte, tanzte der Fleck ihm nach.
Bald fiel sein Benehmen auf.
«Conrad, was ist denn mit dir», rief Leutolf, «du bist ja wie geistesabwesend?»
«Er spürt den Wein», verlautete eine Stimme mit dem feinen Ton des Verständnisses. «Der Chianti ist ein starker Mann.»
«Oder denkt an seine schöne Bernerin», meinte Bertha.
Indessen, Beobachtung und Seelenkunde entsprachen nicht dem Bedürfnis der Stunde. Man umjauchzte, umschrie ihn, zerrte ihn von einem Tisch zum andern, überhäufte ihn mit gewaltsamen Ehren- und Freundschaftsbeteuerungen.
«Du bist der Held, dir gehört der Helm», sprach Leutolf, nahm ihm den Hut ab und pflanzte ihm seinen Helm auf den Kopf; der Wachtmeister staffierte ihn mit einer Schärpe aus, die Kellnerinnen spickten seinen Rock mit Schleifen und Blumen als Ordenszeichen. «Ritter des blauen Pfauen», nannte ihn Josephine, indem sie ein Vergißmeinnicht anbrachte; «nein, des weißen Sternes», verbesserte Bertha, mit einem Sträußchen Waldmeister anrückend. In Kürze sah er aus wie ein geschmücktes Opferlamm.
Geduldig ließ er alles mit sich geschehen, denn er war zu traurig, um irgendeinen Spaß übelzunehmen. Dagegen, als Cathri mit Blicken geheimen Einverständnisses ihn an den Fingern zupfte, wandte er sich unwillig ab, er wußte selber nicht, weshalb.
Unversehens prasselte ein Steinhagel in die Obstbäume, Blätter und Blüten rasierend, Zweige knickend und das Holzgerippe schändend.
«Feiglinge! Heimtückische!» schnob der Aufruhr, und flink wie die Alpenjäger stieß ein kleines Hundert rachedurstiger Männer ab, den Überfall zu ahnden. Ihnen kamen die Herrlisdorfer Bauern zuvor, welche abseits vom Bankett und näher dem Talgrund auf der Straße als Zuschauer sich aufgepflanzt hatten und nun begierig die Gelegenheit aufgriffen, nachzuholen, was sie im Tanzsaal versäumt hatten.
Wie aus der Kanone geschossen, rasten sie die Halde hinab, den Feind zu züchtigen, der jedoch in toller Flucht sich über die Felder ergoß. Kaum daß sie ein halbes Dutzend Nachzügler erhaschten, die sie mit wuchtigen Hieben zu Boden streckten. Eins, zwei, drei war alles erledigt. Hierauf kehrten sie in ruhigem Marsch zurück, nachdem sie erst, soldatisch geschult, wie sie waren, eine Handvoll Wachtposten um die Wurzel des Hügels gestreut.
Ein schallendes Bravo der Waldishofer belohnte die prompte Leistung. «Glatte Arbeit»,