Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch) - Carl  Spitteler


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genommen.

      Der Alte, nunmehr der Hindernisse ledig, gedachte seine Freiheit zu nützen, um mit seiner oft bewährten Leibeskraft sein Ansehen und seine Herrschaft herzustellen. Doch kaum hatte er sich in das Getümmel gestürzt, so rollte er schon, vom zufälligen Widerprall geworfen, schwerfällig auf den Boden, richtete sich unbeholfen wieder auf, verschwand abermals im Gewühl und kollerte zum zweiten Mal dahin.

      «Jesus, der Vater! Helft dem Vater!» kreischte Anna, und schon hatte sie die Mauer übersetzt mit Schwung und Sprung, man sah nicht, wie.

      «Meine Flinte!» hörte man den Alten in ohnmächtiger Wut keuchen. «Portier, die Jagdflinte, daß ich sie zusammenknalle wie Kramsvögel.»

      Jetzt musterte Conrad seine Gesellen: «Gilt's?» fragte er, und seine Augen flammten.

      «Los!» brauste die Antwort, und mutig stürmte die junge Schar um die Mauer, in Reih und Rotte wie beim Turnlauf.

      Conrad, den Seinigen voraus, warf ihnen im Lauf Ermahnungen und Verhaltungsmaßregeln zu: «Immer mehrere zugleich einen einzelnen besonders aufs Korn nehmen, abtrennen und aus dem Haufen fördern, nicht wildlings jeder auf eigene Faust. Wir kommen ja nicht als Feinde, sondern als überlegene Friedensstifter, und dazu brauchen wir Ordnung und Besonnenheit. Was am Boden liegt, nicht anrühren! und vor allem keinen Streich, der nicht unbedingt nötig ist.»

      Wie sie am Holzschopfe vorbeikamen, griff der Wachtmeister heimlich nach einem Sparren. Doch Cathri überholte ihn in fieberhafter Hast: «Nichts da», wehrte sie, sich an seinen Arm hängend, mit der Autorität der Vernunft: «Holz im Stolz, der Teufel wollt's.»

      Conrad wandte sich um: «Keine Knüttel», verbot er strafend, «bist du verrückt?»

      «Keine Knüttel», scholl die Losung.

      Dann, am Ziel angelangt: «Erst heim mit dem Vater», mahnte Conrad. «Fort, aus dem Krieg mit ihm, ins Haus, die Türe verrammelt.»

      Und während die Hauptmacht ungesäumt in den Streit schwenkte, jagte er mit der Vorhut dem Alten entgegen.

      Ihm warf sich Anna in den Weg, mit schützenden Armen, wie Schultheiß Wengi, denn sie mißdeutete den hitzigen Ansturm.

      «Ei, ei!» machte Conrad, «solche Satansabsichten leihst du mir?»

      Da gab sie demütig Raum, beschämt und zerknirscht.

      Conrad bemächtigte sich indessen des Alten, schonend, aber fest: «Komm heim, Vater», mahnte er begütigend, «solcherlei Hantierung taugt nichts mehr für dich», und suchte ihn wegzuschieben. Allein der Alte, wie er die gewaltsame Hand spürte, sträubte sich und widerstemmte, als ob er zur Hinrichtung geschleppt würde.

      «Also geht man mit mir um!» stöhnte er. «Könnt ihr denn nicht warten, bis ich vollends auf dem Schragen liege? Wollt ihr mich bei lebendigem Leibe begraben?»

      «Auf die Schultern!» verfügte Conrad. Da hoben sie ihn auf und trugen ihn geschwind in den Hausgang. «Anna, hüt ihn, daß er keinen Unfug stiftet», rief er, «schaff die Flinte weg; laß ihn nicht durchs Fenster.» Hiermit schupfte er die Schwester nach, schmetterte die Türe zu und schickte sich an, sie zu verriegeln. Allein die Türe schloß von innen. Da pflanzte er zwei Mann als Wachen davor, zu denen der Doktor eilte.

      «Ich könnte nötig werden», murmelte er kopfschüttelnd. «Außen oder innen; niemand weiß, wo und wem.»

      Als Conrad sich nach seinen Kameraden umblickte, hatte sich die Szene verwandelt. Wo eben noch eine hitzige Faustschlacht gewütet hatte, herrschte jetzt ein ungefährliches Zungengefecht; statt einer gärenden Gesamtmasse brodelten viele vereinzelte Grüppchen, von denen jedes mit keifenden oder abwehrenden Jüngferchen umringt war, die sich um den Frieden abmühten wie die Engel um eine arme Seele. Reservemannschaft, die sich weiß Gott wie und woher eingefunden, stand ihnen werktätig bei, die Unbändigen überwältigend, die Zurückstrebenden abhaltend, die Zweifelnden aus dem Feld stoßend. Die Feuerleute waren verschwunden. Wohin? Ohne Zweifel in den Saal, denn dort tobte der Kampf wie der Teufel im Weihwasser.

      Richtig, da kamen schon die Wagginger, von unsichtbaren Händen geschleudert, das Treppchen herabgeflogen, einer um den andern, in rascher Folge wie Päckchen auf der Frachtpostniederlage. Die drei ersten purzelten und standen wieder auf, der vierte kugelte kopfüber, ohne Schaden zu nehmen, der fünfte aber blieb ächzend liegen, so daß der Doktor mit langen Sprüngen zur Stelle eilte.

      Da übermannte Conrad der Zorn, der gerechte Zorn der Entrüstung über die unnötige Roheit, und nachdem er blitzschnell den Platz gekreuzt, stemmte er mit grimmiger Kraft seinen Leib als Mauer entgegen, die Überwältigten im Sturz aufhaltend und als Sturmböcke gegen die Sieger zurückrammend. Dadurch stockte zunächst die Bewegung, indem die Bauern, von drinnen geworfen und draußen an Conrad brandend, zwischen zwei Kräften litten, so daß sie von dem Hin- und Widerprall wie von einem Hebel gehoben wurden; aber sobald es Conrad gelungen war, den rechten Türpfosten zu fassen, gewann sein Widerstand stetig die Obermacht, und wie er den linken Pfosten ebenfalls hatte, wälzte er mit plötzlichem Ruck und Druck die Menschenlawine vor sich hin, einwärts in den Saal zurück. Der Wachtmeister war der erste, den er erhaschte. Den packte er an der Gurgel und schüttelte ihn, um ihn Gesittung zu lehren. Jener ließ das lammsfromm geschehen, die Augen in verliebter Freundschaft rollend und das bärtige Gesicht in stummer Dulderklage gegen den Hauptmann kehrend. Darauf jedoch, als Conrad eben die Hand ausstreckte, um einen zweiten Wüterich zu fassen, traf ihn der Anblick der fremden Horde, die in dem schmucken Tanzsaal randalierte, wie Hornvieh im Stall, achtlos die Möbel umstürzend, Scheiben und Spiegel zerschmeißend. Jählings machte der Unwille über den Übergriff des Freundes der Erbitterung gegen den Eindringling Platz, der Erbitterung des Eigentümers über den frechen Hausfriedensbruch. Denn hier zwischen den heimatlichen Wänden fühlte er sich als Stellvertreter seines Vaters, mit edler Hintansetzung ihres sonstigen Zerwürfnisses.

      «Ruhe!» befahl er mit angestrengter Lungenkraft in den Lärm hinein. «Der ‹Pfauen› von Herrlisdorf ist keine Kneipe; hier wird nicht gerauft!» Und da die Schlacht unentwegt weiter wirbelte, als hätte irgendein verschüchtertes Gemeindenachtwächterlein gemökt und nicht er, der «Pfauen»-Wirtssohn selber, Ruhe befohlen, ergriff ihn eine wilde Wut, wobei ihm ein unartikulierter Schrei entfuhr, welcher in dem Lärm ungehört unterging. Der Lärm aber war so bestialisch, dermaßen ohr- und vernunftbeleidigend, daß seine Wut in Raserei ausartete. Wie ein wildes Tier brüllte er zunächst den wüsten Schlachthaufen an, teils um ihn zu überschreien, teils um nicht zu ersticken.

      In diesem Augenblick klingelte der Kronleuchter, getroffen, zersplittert von klobigen Holzwaffen, der neue, kostbare Kronleuchter, den der Vater im Dezember um schweres Geld angeschafft, zu Ehren des Offiziersvereinsballes – der klare Glaston durchzuckte seine Nerven wie die Zündnadel die Granate, und der entfesselte Haß schnellte seine Gelenke zum federnden Angriff; sprang dem Kronleuchter zu, rücksichtslos mitten durch das Gemengsel, Freund und Feind gleicherweise überrennend. Den ersten, den er ein Stuhlbein schwingen sah, unterlief er mit geducktem Nacken, und indem er ihm beim Überfall gleichzeitig die gespreizte Hand übers Gesicht schlug, den Daumen in den Mund und die Finger in die Augenhöhlen, wie er das vorzeiten seinem Vater abgesehen hatte, schmetterte er ihn durch die Wucht des jähen Anpralls nieder, daß jener im Sturz wie eine gefällte Tanne seine Hintermänner mit zu Boden riß. Hierauf, ohne sich weiter um diesen zu kümmern, schoß er sofort gegen einen andern, welcher mit einem zerbrochenen Musikpult fuchtelnd eben wieder einen Regen von Glassplittern vom Leuchter hieb. Diesem umschnürte er den Leib, hob ihn vom Boden, drückte ihn, mit der einen Hand die Brust und mit der andern den Hosenbund packend, gestreckten Arms in die Luft, wo er ihn mit radförmiger Bewegung windschief über dem Kopf schwenkte. Hierbei überraschte das blaue Himmelslicht, das aus dem offenen Fenster hereinflutete, sein Auge, und mit plötzlicher Eingebung beförderte er seinen Gegner kopfüber ins Freie samt dem Rahmen, an welchen jener sich gekrampft hatte.

      «Röcke, Decken und Kissen herbei!» gellte draußen eine Stimme, die Stimme Cathris.

      Einmal im Zuge, schickte Conrad einen zweiten durch die nämliche Öffnung, und später, von Leutolf und dem Wachtmeister unterstützt, einen dritten, vierten und fünften. Hernach


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