Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler
«Was ist Euch nur über die Leber gekrochen, Herr Reber?» erkundigte sich Cathri, von seinem rätselhaften Ernst beunruhigt. «Ihr seid ja auf einmal ganz traurig.»
Conrad schüttelte den Kopf. «Ich bin nicht traurig», entgegnete er schwermütig, «nur glücklich.»
«He, was ist mit dir, Conrad, ich glaube fast gar, du dichtest?» spottete der Feuerleutnant. Da schämte er sich und gesellte sich zu seinen Kameraden.
Bei der Wendung aber sah er unten im Tal die Offiziere ehrerbietig vor jemand aufgestellt in respektvoller Entfernung, die Hand an der Mütze, wie zur Manöverkritik. Und in dem jemand erkannte er sein Fräulein, seine Tänzerin, mit ihrer Mama.
Der Anschein traf ihn wie ein Wespenstachel in die Augen, so daß er sich geschwind abkehrte, den Schmerz verbeißend.
Das weinselige Geheul im Saal hatte sich mittlerweile von den Pausen in die Tänze hinübergeschleppt, die Musik lähmend und bald auch stillestellend, nicht durch die Macht der Stimmen, sondern durch die Zähigkeit des Mißklangs, die allmählich jeden Rhythmus entmutigte. Statt der wackelnden Paare taumelten jetzt krakeelende Häuflein über die Bildfläche, welche, um ihre träge flackernde Kühnheit anzumachen, die Fäuste durch die Fenster wiesen oder das Publikum hänselten oder mit heiserem «Haraus» die Welt in die Schranken forderten. Nachdem der Umzug sich eine Weile vergnügt hatte, beliebte eine Abwechslung: die lebenden Bilder verschwanden, dafür kamen aus dem unsichtbaren Innern Speisebrocken geflogen: Käserinden, Schinkenfett, Wurstzipfel, zuerst spärlich, gleichsam zur Andeutung, später aber als üppiger Mannaregen, endlich mitsamt den Tellern, welche unten klirrend zerschellten.
Mißbilligende Rufe, klägliche wie entrüstete, protestierten gegen solchen schmutzigen Proviant, man flüchtete insgemein aus dem Bereich der klebrigen Geschosse; worauf der Alte, zornig die Hände verwerfend, nach dem Saal emporeiferte, jedoch ohne Frucht und Nutzen.
Unvermutet stockte das Gejohle. Über einem babylonischen Wirrwarr schnatternder Stimmen ward ein Redegefecht laut, gemischt mit bellenden Flüchen, dann folgte ein Getöse stampfender Tritte. Durch eines der Fenster gewahrte man einen schwankenden Klumpen von Körpern, in einer Dunstwolke von Atem und Schweiß. Faustbewehrte Arme fuchtelten in der Luft, wurden vom Ziel abgedrängt, strebten hartnäckig zurück, bis sie endlich den begehrten Feindeskopf erreichten, welchen sie dann überzeugt droschen, übrigens, dem Anscheine nach, ohne sonderliche Wirkung. Schier verwunderlich aber dünkte es Conrad, an welchem Merkmal der einzelne in dem Gewimmel einen liberalen Schädel von einem konservativen auseinanderzulesen vermochte. – Der Klumpen kam und ging und kehrte wieder, verweilte, häufte und türmte sich. Gleichzeitig klaffte die Tür, den schwarzen Schlund öffnend, aus welchem kreischende Jungfern flüchteten, mit den Händen in der Luft kletternd und Helfio zeternd. Doch kaum draußen, zwängten sie sich wieder hinein, mit ihrem Gellen den Lärm vermehrend.
«Da hast du die Bescherung!» höhnte Conrad dem Vater zu.
«Bemühe nur du dich keineswegs», fauchte dieser, außer sich vor Ärger, daß die Wahrheit sich unterfing, ihm unrecht zu geben. «Laß du dich nicht im mindesten bei deiner Jucunde stören.»
Da steckte Conrad wohlgemut die Hände in die Hosen, zum Zeichen seiner Teilnahmlosigkeit.
«Hier täte eine Feuerspritze gut», spaßte der Wachtmeister. «Mit dem vollen Strahl mitten hinein», und lachte schallend ob dem ergötzlichen Gedankenbild.
«Ich danke für die Überschwemmung», entgegnete Conrad. «Feuerwehr auf dem Damm, im Balken der Schwamm.»
«Dein Alter ist der Lage nicht gewachsen», bemerkte Leutolf, «er verliert ja vollständig den Kopf. Mag er noch so hirnwütig von einem Fenster zum andern tanzen, das kümmert die keinen Flohstich.»
Conrad nickte. «Mir kann's nur recht sein, wenn sein maßloser Allmachtsdünkel einmal ein tüchtiges Loch bekommt.»
«Da wird halt nichts anderes übrigbleiben, als du mußt auf den Posten.»
«Erst muß er mich darum bitten: diese Genugtuung ist er mir schuldig.»
«Wie du meinst. Nur daß du's weißt, wir sind bei der Hand. Also wenn's Zeit ist, so gib uns einen Merks. – Den Helm ab! den Rock aus! und die Hemdärmel herauf!» befahl er vertraulich seiner Mannschaft. Bei diesem Anblick eilten von da und dort kampfesmutige Burschen herbei, die Feuerwehr zu verstärken, junge Bauern aus dem Dorf, auch von den Gästen dieser und jener, so daß sich Conrad an der Spitze eines erlesenen Gewalthaufens sah, der sich zwar einstweilen enthielt, aber die Ungeduld einzugreifen nur mühsam zügelte.
Links und rechts hatten die Neugierigsten sich auf die Tische gepflanzt, um über das Mäuerlein hinweg besser zu sehen. Sie genossen das Schauspiel schweigend, außer Cathri, welche gleich einem Kampfrichter ihr Urteil öffentlich kundgab. «Gott du meine Güte», klagte sie verächtlich, «was für eine gefehlte Bauersame! Weder Stimme noch Mark noch Muskel! Und auch nicht ein einziger rundum im Dorf, der sich erbarmt und herzhaft dazwischenfährt. Gott du meine Liebe! wenn unser Hans da wäre! Wie der den Saal ausfegte!» Dabei lachte sie hellauf vor Vergnügen.
«Maul zu!» schnauzte Conrad. Und nach einer Pause fügte er stirnrunzelnd, mit Nachdruck, bei: «Es gibt hierzulande Leute, die taugen so viel wie Euer Hans und vielleicht mehr!»
Auch auf der Terrasse verfolgte das Volk gespannt den Verlauf des Streites, indessen wegen der bedrohlicheren Nähe vorsichtig nach beiden Seiten sich zurückziehend, so daß die Mitte leer blieb. Was sie hauptsächlich auf den gefährlichen Platz bannte, war die geheime Hoffnung auf eine kleine Dosis Schadenfreude, nicht zu wenig, aber auch nicht zu viel. Allein wie nun der wüste Lärm ohne sichtbare Entscheidung gleichmäßig fortlief, meldete sich bald der Überdruß und mit dem Überdruß die Entrüstung: «Zahlen!» heischte ein Familienvater, umringt von nasenrümpfenden Frauenzimmern. Und wie ein Lauffeuer ertönte es nun von allen Seiten: «Zahlen, zahlen!»
«Sitzen bleiben! Wozu habt ihr sonst das Gesäß?» donnerte der Alte, außer sich über den drohenden Verlust, und während die Kellnerinnen wie von Sinnen umherrannten, um die Ausreißenden zum Bleiben zu beschwören, machte er Miene, das Treppchen zum Tanzsaal zu erklimmen, woran er jedoch von Anna und dem Doktor gehindert wurde, teils durch Zureden, teils mit sanfter Gewalt.
In der Tat hatte die Mehrzahl der Gäste sich erweichen lassen; sie standen zwar, den Hut auf dem Kopf, zum endgültigen Abzug bereit, beglichen auch vorläufig die Zeche, räumten jedoch nicht die Terrasse. Nur wenn der Tanzboden unheimlicher knackte, wenn die wankenden Wände sich gar zu unnatürlich bogen, krebsten sie hurtig ein paar Ellen weiter.
Plötzlich entleerte sich der Tanzsaal des gesamten Weibervolkes, welches atemlos vor Angst von dannen hastete, als folgte ihnen der Wolf auf den Fersen. Unmittelbar hinter ihnen brach eine ungeheuere Sturzwelle von Kämpfern mit krachendem Gepolter das Treppchen hinunter, sich überwälzend und augenblicklich in stürmischem Schwalle die weite Terrasse überflutend. Hiervon zerstob alles Volk in jäher Flucht, die Nächsten stumm vor Schreck, die Entfernteren mit kurzen Ausrufen der Bedrängnis; die meisten in der Richtung nach dem Dorfe, der Rest über das Mäuerlein. Die Vögel aber allzumal in den Bäumen, Finken und Meisen, den Lärm mißdeutend, sangen einen jauchzenden Wettstreit, daß ihnen fast die Kehle sprang.
Eins, zwei, drei war alles weithin zersprengt wie eine Schachtel Nähnadeln, so daß, als die Besinnung wiederkehrte, jeder sich an einer andern Stelle befand, als er vermutete. Man las sich zusammen, orientierte sich, man entdeckte sich neue Nachbarn. Hierauf erfolgte eine Sichtung: der zimperliche Teil der Gäste, darunter die Mehrzahl des Stadtvolkes und fast sämtliche Frauenzimmer, zogen ab, friedlicheren Wohnstätten zu, die übrigen, die standhielten, nahmen hinfort gemütlichen Anteil, als ob sie zur Sippe des «Pfauen» gehörten.
Bloß die unten in der Wiese hatten nicht gewankt. Doch jetzt schnellte Conrad mit weit geöffneten Armen vor. Nämlich Anna, vom Trieb der Selbstbewahrung überrascht, hatte ihren Vater kopflos preisgegeben und kam nun von der Mauer herab auf einen Tisch gesprungen, auf welchem sie flink wie ein Eichhörnchen bis zum Ende huschte, mit zusammengerafften Kleidern, übrigens ohne ein Gerät umzustoßen, dank