Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch) - Carl  Spitteler


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krabbelte der kleine Oberwagginger Schullehrer unter der Bühne hervor und setzte, ein klägliches Notgeschrei anstimmend, recta über den Fenstersims.

      «Und wir?» fragten die Musikanten mit säuerlichem Humor. «Müssen wir ebenfalls beichten?» Conrad lächelte, worauf sie mit ihren Instrumenten hurtig abzottelten, wumselnd wie die Heinzelmännchen.

      «Nach!» mahnte Leutolf. «Sprengt sie ins Tal!» Und frohlockend schoß das Rudel der Sieger ins Freie.

      Conrad aber blieb zurück, um die Verwüstung zu prüfen, wie er sich weismachte, in Wahrheit deshalb, weil er das eroberte Schlachtfeld noch nicht verlassen mochte. Hier hatte er endlich geherrscht, hier zum ersten Male seines Lebens die häusliche Gewalt ausgeübt. Nun war leider sein Reich zu Ende. Schade! so früh! ehe es nur recht begonnen.

      Überhaupt, er war noch nicht satt, der Hauptschlag fehlte, der Kampf war in den Frieden gekrochen wie der Rhein in den Sand. Freilich, sie hatte es ja herzlich gut gemeint, seine Schwester, und vernünftiger war es jedenfalls; nein, ganz gewiß. Und richtiger auch. Wo nicht, so befleckte ihn vielleicht gegenwärtig die Schuld und zerfleischte ihn die Reue. – Immerhin, es hätte ihm gut getan, nochmals gründlicher drauf. Das tapfere Handwerk löste ihm den Zorn, wusch ihm die Galle.

      Himmel, wie sah es um ihn aus! Die Bühne zertrümmert, die Bänke geborsten, der Kronleuchter in Stücken, sogar den Ofen hatten sie geschändet! Wie die Wildschweine hatten sie gehaust! Gut, hatte er das nicht früher gesehen! Wer weiß, ob er ihnen so leicht Gnade gewährte!

      Sehnsucht und Hoffnung lockten ihn ans Fenster, ob vielleicht noch ein Nachsatz anzubringen wäre. Doch Flucht und Verfolgung wälzten sich bereits tief den Rain hinab, unten in einen harmlosen Wettlauf ausartend. Nebenher im Gefilde ein dünner Schwarm Abgesprengter und töricht Umherrennender; oben am Rain unter einem Birnbaum ein verstecktes Nest, nach geriebener Hasenschlauheit die Verfolgung von hinten genießend – jenseits bei den Reben der Wagginger Fürsprech, harmlos dahinschreitend und leutselig grüßend, als ginge ihn die Geschichte nichts an, dann plötzlich mit riesigen Sekundanten-Sprüngen im Weinberg verschwindend – im Grase den steilsten Hang hinab das Lehrerlein, flink wie ein Gummiball, die Ellbogen gleich Schwingen rührend und mörderlich trompetend vor Freuden über sein neugewonnenes, junges, grünes Leben. Da war nichts mehr zu holen.

      Während er also im Saal verzog, aufgewühlt und unbefriedigt, gleich der Dogge, der man die Schüssel vorzeitig weggenommen, traf das lamentierende Spektakeln des Vaters sein Ohr, fern, doch unverkennbar. Als ob eine Mine unter ihm geplatzt wäre, fuhr er in die Höhe. Und bei jedem neuen Laut der väterlichen Stimme, der zu ihm drang, juckte er empor.

      «Jetzt entweder oder», knirschte er, «jetzt muß sich's entscheiden», und leidenschaftlich die Arme verwerfend, jagte er mit Gewaltsätzen ins Freie.

      Ein rotgoldener Lichtjubel blendete sein Auge, jauchzendes Beifallrufen sein Ohr. Aber haarscharf, wie in Metall gebosselt, ragte aus dem Glanze Cathris Büste, als stände sie unmittelbar vor ihm. Er tat einen Seitensprung und schüttelte die Arme: «Heran nun mit Eurem Hans, wenn er es wagt!»

      Diesmal entfloh sie, die Augen voll Schrecken, obgleich eine mehrfache Menschenwand sie vor ihm schützte. Doch das war nur so nebenbei. Auf das Haus jagte er nun zu, die Lippen geöffnet und die Sprache entfesselt, denn keine Überlegung drückte mehr auf den Kehldeckel.

      «Und nun, Vater, habe ich mit dir ein Wörtchen zu reden. Lange genug habe ich geschwiegen, jetzt aber muß es heraus, und zwar so, daß es alle Welt vernimmt. Das Leben, sag' ich dir, das Leben, wie ich es bisher ausgestanden, hat von heute an ein Ende. Ich will nicht länger den unmündigen Buben vorstellen, den man schilt, zankt, abkanzelt, den mißhandelten Knecht, an dem man seine üblen Launen ausläßt; ich begehre eine Stellung im Hause, wie sie dem Sohne gebührt, einen Winkel im Heimwesen, wo ich frei nach eigenem Ermessen schalte, wo mir niemand dazwischenredet, wo ich keinem Menschen Rechenschaft schuldig bin, kurz, wo ich befehle.»

      «Befiehl, befiehl», eiferte der Alte, «du bist ja jetzt der Herr, wie es scheint, ich bin längst abgesetzt.»

      «Entweder du behältst das Geschäft und ich baure, oder ich übernehme die Wirtschaft und du das Land.»

      «Nimm's doch, nimm's», flennte der Alte, «wenn du doch meinen Tod nicht abwarten kannst. Nimm's alles.»

      «Ich verlange keineswegs alles, ich will bloß meinen billigen Teil, damit man mir mit Achtung begegne, damit ich Frieden habe, damit ich meines Lebens froh sein und lachen kann, damit ich nicht meine Mahlzeit mit Ärger hinunterwürgen muß. Entweder du ziehst mit der Mutter in den oberen Stock und ich wohne unten, oder umgekehrt, du unten und ich oben.»

      «Ich kann ja meinetwegen mit der Mutter im Stall bei den Pferden wohnen, das kommt dich billiger zu stehen. Ohnehin brauchen wir ja nichts weiter mehr als ein Bündel Stroh zum Sterben.»

      «Mit solchen schändlichen, lästerlichen Redensarten ist mir nicht gedient. Ich heische einen vernünftigen, verpflichtenden Bescheid. Und zwar einen sofortigen. Willst du, oder willst du nicht?»

      Ein beistimmendes Gemurmel der Menge unterstützte seine Forderung, so daß der Alte sich einer einhelligen öffentlichen Meinung gegenüber sah. Er jagte einen giftigen Blick unter das Volk, fletschte knurrend die violetten Lippen, spuckte mehrmals aus und verzog sich dann ohne Antwort ins Innere der Stube.

      Da verrückte dem Jungen wahnsinnige Leidenschaft den Verstand. «Gut denn», schleuderte er dem Vater nach, «so geh' ich fort von heim, und niemand erblickt mich wieder. Und zwar augenblicklich, nur daß ich keine Stunde länger in diesem ungerechten, lieblosen Hause verbleiben muß.»

      Ein empörter Aufruhr mißbilligte den Bescheid. Einige suchten ihn zu begütigen, andere traten ins Haus, um dem Vater zuzureden. Anna, welche der bedrohliche Auftritt herbeigezogen hatte, fiel dem Bruder weinend an die Brust. «Conrad!» flehte sie.

      Er riß sich los. «Leb wohl, Vater», rief er dröhnend, «du siehst mich nie mehr. Grüß mir die Mutter.»

      Wieder brauste die Entrüstung. Wohin er sich auch wandte, ward er freundschaftlich gehemmt, umringt, zurückgedrängt.

      Da, unversehens, stürzte der Vater wie ein wildes Tier ans Fenster. «Ja, ja, ja, ja denn!» brüllte er, mit Gebärden, als ob er etwas hinschmisse.

      Wie Erlösung seufzte es aufatmend durch die Reihen, denn die aufregenden Ereignisse hatten alle Anwesenden der Familie angegliedert.

      Nun näherte sich Conrad festen Schrittes dem Vater: «So ist's also dein wahrer, ernsthafter Wille?»

      «Ja, ja, ja», wiederholte der Alte gereizt, den Nacken schüttelnd.

      «Reicht euch die Hände», rief es aus dem Volke.

      «Es sei», genehmigte Conrad, «gib mir die Hand darauf», und reichte die seinige dar. Der Alte sperrte sich, als ob er in ein Schlangennest greifen sollte. Endlich gewann er sich's doch ab, mit einem heftigen Ruck, der die dargebotene Rechte wegstieß, nachdem er sie kaum gepackt hatte.

      «Die Landwirtschaft oder das Geschäft?»

      Der Alte keuchte; schließlich, mit einer letzten krampfhaften Überwindung, warf er die Hände über den Kopf.

      «Alles!» preßte er polternd hervor und verschwand erschöpft.

      «Ihr habt's vernommen, ihr seid Zeugen», sprach Conrad, nach dem Volke gewandt. Hierauf lehnte er sich mit beiden Armen auf den Sims und sprach in das Zimmer hinein: «Vater», sagte er feierlich, «Ihr sollt es nicht bereuen; das gelobe ich Euch mit heiligem Schwur. Ihr sollt von nun an einen treuen, dankbaren Sohn an mir haben, der es Euch und der Mutter an nichts wird fehlen lassen. Und so Gott will, wird fortan Friede und Frohsinn im ‹Pfauen› walten.»

      Jetzt spürte er sich von seiner Schwester innig umarmt, die er tiefbewegt küßte.

      Hernach blieb sein Geist gelähmt. Der nachträgliche Schreck über seine Vermessenheit ließ das Bewußtsein seines Erfolges noch nicht aufkommen. Auch die Umstehenden verharrten betäubt. Verlegenheit herrschte um und um, die Verlegenheit der Gedankenunzulänglichkeit


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