Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch) - Carl  Spitteler


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eine erbärmliche, lahme, kopfhängerische Jeremiade!» Da setzte ein lustiger Galopp ein, Leib und Seele elektrisierend, so daß die Lebenslust aus allen Poren prickelte.

      Conrad hatte sich verspätet aus den fernen Abgründen seiner düstern Gedanken zurückgeholt. Als sein Geist wieder in der Wirklichkeit eintraf, fand er sich untätig dastehend, die Sache erledigt. Dagegen gewahrte er jetzt die Verwüstung und überschlug ingrimmig den Schaden. Ein nicht eben beträchtlicher, aber unverschmerzlicher Teil der Obsternte war dahin, einige Prachtbäume zu Krüppeln verunstaltet, ein edler Pfirsichsprößling unheilbar verwundet. Nicht der rechnungsmäßige Sachverlust war es, was ihn am meisten wurmte, sondern die Beeinträchtigung des wonnigen Anblicks, die Verletzung der vielen, zarten, feinfühligen Pflanzengefüge, die böswillige Vernichtung des Segens, den die Natur einem zum Lohne für geduldige, sorgsame Pflege zugedacht hatte.

      Während sein Zorn Stufe für Stufe emporstieg, ohne noch völlig den Höhengleichwert des verübten Frevels erreicht zu haben, kam nachträglich noch ein Stein geflogen, hierauf nach einer Pause ein zweiter und später ein dritter. Jeder zeichnete ungefähr die nämliche Flugbahn, so daß augenscheinlich ein einzelner Schütze irgendwoher aus einem entlegenen Versteck zielte, wo er sich für geborgen hielt.

      Und er selber, Conrad, schien das Ziel vorzustellen, der gesondert am Rande der Mauer sich bewegte, denn wohin er auch treten mochte, so hatte er immer die Fluglinie in derselben Verkürzung vor sich, obschon das Geschoß bedeutend unterhalb seines Standortes in den Rasen aufschlug: offenbar mangelte dem Schützen jegliche Kraft, aus dem unsicheren Pendeln der Kiesel zu schließen.

      Geraume Zeit wollte ihm nicht gelingen, den Urheber zu erspüren, hauptsächlich weil der glänzende Abendschein sein Auge blendete. Überhaupt, man meinte, es wäre noch Tag, und es war doch nicht mehr das ganze Licht. Die Niederung hatte sich schon getrübt; die Gruppen der Dinge vereinigten sich zur Masse, welche einen gemeinschaftlichen scharfen Linienriß zeichnete; um die Dächer wisperte eine verfrühte Fledermaus.

      Endlich hatte er ihn doch, und zwar nicht unter sich, sondern seitwärts, hinter der Kirschenallee, bei des Schreiners Hansjörgens Scheune, unter den Nußbäumen. Wenn man ihn fassen wollte, so war die einzige Möglichkeit, ihn von hinten zu nehmen, vom Ackerfeld her, um ihm die Fluchtlinie abzuschneiden. Allein lohnte sich's überhaupt? Eigentlich ja schon; lohnt es sich doch immer, einen Übeltäter abzustrafen; aber seine Glieder waren, offen gestanden, ein wenig tatenmüde, und seine Seele zog ihn nach einer anderen Richtung, nach einem Krieg, der ihm näherging und von wo ihm ärgeres Unheil drohte als Sachschaden.

      Da wollte es der Zufall, daß ein erneuter Wurf, noch schwächlicher als die früheren, in die Quelle geriet. Der Stein im seichten Wasser klatschte beleidigend wie eine Maulschelle. Oder war es die Verunreinigung des klaren, trinkbaren Wassers oder die Verunehrung des segensprechenden Bergmundes, was ihn aufbrachte? Kurz, der Petsch bestimmte seinen Willen. Jetzt mochte er ihn züchtigen.

      Möglichst unauffällig, die Hände hinter dem Rücken gefaltet, als ob er spazierenshalber sich erginge, schlenderte er zum Hause hinüber und drückte sich hart an der Mauer entlang, wie der Jäger, der ein Wild beschleicht.

      Die Steinwürfe folgten noch der ursprünglichen Richtung, sein Verschwinden war demnach dem Feinde unbemerkt geblieben.

      Anna guckte aus dem Speisezimmer.

      «Was schlägt's?» fragte er nachlässig, nur um etwas zu sagen, als eben die Kirchenglocke schlug.

      «Acht Uhr», erwiderte sie.

      «Rüste mir etwas zu essen.» Hiermit war er bei ihr angelangt. Sie blickte getroster.

      «Er ist jetzt wieder vernünftiger», raunte sie ihm zu, indem sie zum ersten Male seit langen Stunden wieder lächelte. «ich habe ihn bei mir unten in der Wohnstube zusammen mit dem Doktor.»

      Da, eben, als er vorbeischreiten wollte, hörte er durch das Eßzimmer hindurch aus der Wohnstube den Vater greinen wie ein von Chirurgen gemartertes Kind. Nun hielt er den Fuß und den Atem an, und seine Seele verfinsterte sich. Was sollte nun das wieder bedeuten? Galt das etwa ebenfalls ihm? Und wieso denn?

      Zunächst vermochte er keine Worte zu unterscheiden, denn der Doktor redete gleichzeitig auf den Alten ein, so daß die Silben beider, einander deckend, sich in seinem Ohr verwirrten. Endlich lamentierte der Alte einen Augenblick allein. «Den Todesstoß versetzt», vernahm er. Nichts als diesen Brocken eines Satzes; doch wie ein Blitzstrahl erleuchtete und vernichtete ihn dieses Bruchstück.

      Also, so war es von nun an gemeint? Märtyrermienen und anklagende Seufzer, Blicke, Gebärden, Anspielungen bis ans Ende der Tage? Hernach ein Grabstein, auf dem mit ewiger, unauslöschlicher Schrift geschrieben stand: «Du, mein eigener Sohn, du bist mein Mörder!» Und wie sollte er dem begegnen? Mißhandlungen kann man dulden oder sich dagegen auflehnen, Reden widersprechen, aber vor stummen Vorwürfen gibt es keine Rettung. Er schauderte, und schwarze Verzweiflung umnachtete seinen Geist. «Ich verfluche ihn doch», schrie es in ihm, und seine Hände griffen wild umher, erschlafften aber sofort und sanken mutlos längs dem Körper dahin. Er wußte nicht mehr, was er tat und was er vorhatte. Aber der Wille, der ihn dahergetrieben, stieß ihn auf der vorbestimmten Bahn fort wie eine Maschine auf dem Geleise.

      «Conrad, laß es gut sein, du hast für heute genug getan», rief ihm die Schwester nach, die aus seinem schleichenden Gehaben seine ursprüngliche Absicht erraten hatte, während ihr seine Umstimmung verhohlen blieb, weil ihr sein Gesicht entging.

      Doch Cathri widerhielt ihr: «Der Herr Reber wird schon selbst am besten wissen, was er zu tun hat», entgegnete sie mit impertinentem Tone.

      Also zog er seines krummen Weges und verschwand um die Hausecke.

      Mittlerweile waren die Feuermänner, welche Conrad vermißten, von Cathri über den mutmaßlichen Grund seines Verschwindens verständigt worden, so daß sie die Köpfe streckten, um sich an der Abstrafung zu weiden; leichtsinnig gespannt, wie wer einem ergötzlichen Schauspiel entgegensieht. Da der Abend schon merklich düsterte, benutzte Leutolf den Feldstecher, um besser zu beobachten. Um aber den Vorteil seiner bevorzugten Gesichtsbedingungen nicht plumperweise allein zu genießen, teilte er das Ergebnis seiner Beobachtungen mit: «Dort, hinter dem Nußbaum bei der Scheune steckt er – er hat den Arm voll Kieslinge. Aber er ist unsicher, er sucht das Ziel. – Ein langer, schlottriger Schlingel, hat eine Schnauze wie eine Schnecke und Ohren wie ein Elefant. Ich müßte mich sehr täuschen, oder es ist der nämliche Halunke.» «Der Messerstecher?» «Der Matthiesen-Michel?» fragten empörte Stimmen.

      «Zeig, gib her», heischte der Wachtmeister und nahm ihm den Feldstecher weg. «Das ist ja genau der nämliche glatte, schlüpfrige, bartlose Schuft!» schäumte er, mit den Füßen stampfend. Und zornig das Fernglas wegwerfend, fuhr er Leutolf aufgebracht an: «Da habt Ihr's jetzt mit Eurer diplomatischen Mäßigung. Was habt Ihr nun davon? Hätte man mich machen lassen – er stände jetzt nicht unter dem Nußbaum mit Kieselsteinen, er läge irgendwo, und es fehlte ihm etwas an den Knochen, daß ihn der Doktor wieder zusammenlöten müßte.»

      «Er verliert nichts mit dem Warten», entgegnete Leutolf gelassen, «der Reber Conrad wird ihm schon verabfolgen, was er ihm schuldig ist; er zahlt ihm's jetzt gleich alles miteinander.»

      Der Wachtmeister verwarf ärgerlich die Arme. «Ach was!» schalt er, «der Conrad ist nicht, was er sein könnte und wie ich ihn haben möchte. Muskeln wie ein Leu, Nerven wie Sprengpulver und ein Herz wie ein Jüngferchen. Im ersten Augenblick meint man, er wolle die ganze Welt windelweich schlagen, und kaum daß er die Obmacht hat, läßt er sie laufen. Solch eine heimtückische, boshafte Hyäne verdient keine Gnade; da ist Großmut nichts als Schwäche.»

      Damit wandte er sich mißmutig um und verließ grollend die Kameraden, um abseits einsam hin und her zu stiefeln, mit unwilligem Maulen.

      Inzwischen machte der Feldstecher die Runde; einzig Cathri lehnte ihn hochmütig ab. Sie brauche keine Augenkrücken, behauptete sie geringschätzig, sie sähe ohnehin in der Welt mehr, als ihr lieb wäre. Plötzlich frohlockte sie wie über ein fröhliches Wiedersehen: «Dem hab' ich im Tanzsaal zweimal die Hand ums Maul geschlagen», prahlte sie mit Genugtuung. «Es reut


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