Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler
fassen.» – «Bravo, Conrad!» – «Jetzt kann er ihm nicht mehr aus den Händen.» – «Stille doch! ruhig! zum Teufel! Absitzen! Von den Tischen herunter! Ihr verratet ja sonst den Braten!» – «Jetzt, jetzt, Conrad, drauf, pack ihn an der Gurgel!» – «Worauf wartet er nur?» – «Er hält an – es ist unbegreiflich.» – «Er fuchtelt mit den Armen, als ob er mit jemandem disputierte, und ist doch allein. Hat er denn plötzlich den Verstand verloren?» – «Er war schon hier so wunderlich.» – «Es muß ihm jemand Mißgünstiger etwas Dummes ins Ohr geschwatzt haben, das an ihm frißt», urteilte Cathri mit hartem Ton, stirnrunzelnd und einen feindseligen Blick nach der Eßstube sendend.
«Ja, natürlich, jetzt ist es zu spät! Jetzt hat ihn der andere entdeckt. – Er läßt den Stein fahren. Es ist zum Rasendwerden.» – «Warum steckt ihr aber auch alle die Köpfe zusammen wie eine Schafherde?» – «Gleichviel! Entrinnen kann er ihm doch nicht.» – «Endlich, endlich, Gott sei Dank! Hurra! Er hat ihn.» – «Hau ihn! streck ihn zu Boden!» – «Halt, was ist das? Er verliert den Helm.» – «Aber der andere purzelt auf den Boden.» – «Ja, aber er steht wieder auf» – «Warum läßt er ihn denn wieder aufstehn?» – «Wahrhaftig, nein, es ist nicht zum Ansehn! Weiß Gott, er läßt ihn laufen!» – «Punktum! Fertig! eine gefehlte Geschichte.»
«Was hab' ich gesagt?» polterte der Wachtmeister. «Hab' ich jetzt recht gehabt oder nicht?»
Und ärgerlich, als ob sie übervorteilt worden wären, setzten sie sich wieder zum Trunke, geräuschvoll anstoßend, um zu vergessen und zu verwinden.
Cathri aber blieb aufmerksam beobachtend auf dem Flecke stehen. Nach einer Weile bemerkte sie: «Es gefällt mir etwas nicht.»
«Warum? Wieso? Er kommt ja zurück! Er ist ja bereits auf der Straße.»
«Ja, aber, er hält sich so sonderbar.»
«Ihr habt ja selbst gesagt, es plage ihn etwas inwendig?»
«Es ist nicht das. Wenn er nur nicht am Ende einen bösen Hieb oder etwas dergleichen abbekommen hat!»
«Warum nicht gar! Dazu hätte er im Tanzsaal bessere Gelegenheit gehabt! Der starke Conrad Reber, und einen bösen Hieb! von einem einzigen! und noch dazu von was für einem! Übrigens, das wird er uns alles gleich selber am besten erklären, seht, da ist er ja schon an der Hausecke.»
«Jesus, Gott und Vater», schrie Cathri, «wo habt ihr eure Augen? Er ist ja bleich wie ein Leintuch!» Und die Vorstehenden gewaltsam beiseite stoßend, hastete sie ihm mit Riesensprüngen entgegen.
In diesem Augenblick schaute Anna aus dem Eßzimmer, warf einen Blick auf Cathri, einen zweiten nach dem Bruder, erblaßte und schwang sich mit einem einzigen Sprung auf die Erde.
«Conrad, was fehlt dir?» jammerte sie, ihn angstvoll umklammernd. «Sag's, sag's mir, der Schwester.» Zugleich stieß sie die herbeieilende Bernerin beiseite.
Conrads Lippen zitterten: «Ich bin gestochen», flüsterte er.
Da entfuhr ihr ein markerschütternder Schrei, der alles Volk aufschreckte. Nur die Musik dudelte weiter.
Er fuhr fort: «Ich habe den Helm verloren. Er liegt unter dem Nußbaum. Er gehört dem Leutolf. Ich mag jetzt doch nicht essen, ich habe keinen Appetit mehr. Wo bleibt denn nur die Mutter? Ich wußte ja nicht, daß sie gemütskrank war. Sag ihr das. Der Vater ist ein Ungeheuer, ein herzloses, wildes Tier, ja, das ist er. So holt doch den Helm, er ist ja nicht mein, er gehört dem Leutolf. Ich konnte ihn leider nicht selber aufheben.»
«Herr Reber», grüßte Cathri weinerlich.
Er wandte den Kopf nach ihr, aber sein verstörter Blick irrte über ihr Gesicht wie über einen leblosen, fremden Gegenstand. Und abermals von Anna weggestoßen, trat sie beiseite, an die Mauer, beschämt, gekränkt, beleidigt.
Indessen war eine entsetzte Menschenmenge herbeigesprungen, unter ihnen, außer Atem, der Doktor: «Wo?» fragte er, indem er mit tastenden Händen über Conrads Körper reiste. Und sich zurückbiegend: «Musik aufhören!» zürnte er. «Musik aufhören!» tönte ein vielstufiges Echo.
«Weshalb aufhören?» beklagte sich Conrad leise. «Warum sind überhaupt so viele Menschen da? – Warum starren sie mir alle ins Gesicht? – Was will man denn eigentlich von mir? Der Doktor soll doch weg, er tut mir weh. Anna, komm, wir wollen zusammen ins Haus, ich möchte allein sein.»
Kaum hatte er das gesagt, so wurde er erdfahl und brach in sich zusammen, unter des Doktors Händen weg, wie ein Holzstoß über dem Feuer, erst in den Gelenken, dann platt auf den Boden.
Anna warf sich über ihn, unaufhörlich seinen Namen rufend, in den süßesten Schmelzlauten, flötend, lallend, gurrend, auf und ab, durch alle Tonlagen der Kehle und aus allen Kammern des Herzens.
Andächtig verstummte das Volk vor dem schauerlichen Wohlgesang.
Der Doktor aber fiel auf die Knie, riß sein Besteck aus der Tasche, das er auf die Erde breitete, prüfte dann aufmerksam den Puls, erst am Handgelenk, hierauf, Anna wegschiebend, auch am Herzen. Allmählich zog er eine bedenkliche Miene. Endlich stand er, seine Instrumente einsteckend, langsam auf. Und während alle Augen an seinem Munde hingen, murmelte er gedämpft, als ob er für sich allein spräche: «Hier wird wohl wenig mehr zu operieren sein.»
Anna hatte das Wort vernommen und verstanden. Ihr Gesicht ward schlaff, und lautlos sank sie hin. Doch ehe noch jemand sie zu stützen vermochte, war sie wieder aufgesprungen, die geisterhaften Augen nach dem Hause emporgerichtet.
«Habt Ihr jetzt, was Ihr wollt? Seid Ihr nun zufrieden?» gellte sie, als hätte sie's durch die Mauer schreien mögen. «Jetzt bereitet er Euch keinen Kummer mehr! jetzt gibt er niemand mehr den mindesten Anlaß zur Klage! jetzt ist er nicht mehr zu vornehm! jetzt will er nicht mehr alles besser wissen, jetzt lacht er nie mehr zur Unzeit, Euer vielgeschmähter Conrad, der arme, arme Conrad!» Und wieder fiel sie über den Leichnam, diesmal mit wildem Röcheln, wie ein junger Jaguar.
Eine einzige Silbe wandelte feierlich durch das Volk: «Tot.» Flüsternd in den vorderen Reihen, gedämpft im Hintergrund, jenseits mit empörten Protestrufen des Unglaubens.
«Was?» – «Wo?» – «Wer?» – «Der ‹Pfauen›-Wirt?» – «Nicht der Alte, sondern der Junge, der Conrad, der Leutnant.» – «Warum nicht gar!» – «Das ist nicht möglich; das kann ja nicht sein.» – «Das hat ja keinen Sinn.»
Und von atemlos herbeirennenden Leuten füllte sich die Terrasse bis ins Dorf. Die Kellnerinnen standen leise weinend im vordersten Kreise, die gefalteten Hände vor dem Gesicht, als ob sie die Augen schützen wollten, damit sie die schreckliche Wahrheit nicht sähen. «Was das nicht ist!» – «Ist's auch möglich?» – «Wenn ich nur das nie hätte erleben müssen!» – «Der arme Meister! Und so gut! So herzensgut! Jesus, Jesus!» – «Und wenn jetzt der Vater und die Mutter das sehen!»
Cathri, abseits an der Mauer, starrte geistesabwesend ins Leere, mit gerötetem Gesicht und bebenden Lippen.
«Oh, der Elende, der Schurke! – Der beste, bravste, gutmütigste Tropf auf Gottes Erdboden! – Und von solch einem elenden Wicht!»
Während sie sprach, stupfte sie unablässig mit dem Fuß an die Mauer, immer heftiger, in steigender Empörung. Und ihre Finger nestelten krampfhaft am Schürzenband, bis es entzweiriß.
In ihrer Nähe, ebenfalls an der Mauer, und von dem übrigen Volk gesondert, standen die Waldishofer gruppiert, in deren Mitte der Wachtmeister gedämpften Tones eifrig redete. Sooft Zuzügler sich herbei machten, wurde ihnen etwas zugeflüstert, dann tauschten sie finstere Blicke und einen kräftigen Handschlag wie zu einem Eide.
Offenbar bildete sich hier eine Verschwörung.
Eine Bewegung entstand, eine Gasse tat sich auf. Von bedauernden, mahnenden, zusprechenden Menschen gehemmt, die sich ihm in den Weg stellten, ihn hinderten, zurückhielten, wankte der alte «Pfauen»-Wirt ruckweise daher, wie eine von Ameisen überfallene Raupe, welche die Last ihrer Peiniger mit sich schleppt.
«Laßt