Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler
einsteigen», brüllte er.
«In einem Schweinestall herrscht mehr Ordnung und Manier», rief Cathri aufgebracht.
Darob entspann sich ein Schimpfgefecht zwischen den beiden Schaffnern, während Cathri gebieterisch nach dem Zugführer verlangte.
Außer sich über die Verzögerung, eilte der Vorstand herbei. Sowie er Cathri erkannte, grüßte er verbindlich und geleitete sie persönlich in eine Abteilung erster Klasse.
«Fertig, fort!» schnarrte er.
«Wijüh!» bestätigte die Pfeife des Zugführers.
Und mit mächtigem Stampfen setzte sich der schwere Zug in Bewegung, begleitet von Grillengezirp und Sternengeflimmer, hart an der Lissi vorbei, die ihre heimatgierigen Nüstern ungeduldig über den Hemmbalken vorschob, und an der Pinte vorüber, wo Jucundens trostloses Wehklagen weithin durch die schwarze Nacht zitterte – dem Kurbade entgegen.
Imago
In der Hölle der Gemütlichkeit
Viktor im Zweikampf mit Pseuda
Die Heimkehr des Richters
«Warten mit dem Aussteigen! Warten denn, bis der Zug hält!» – «Dienstmann gefällig? Dienstmann?» So, das wäre jetzt also die Heimat, nach welcher man sich das Herz aus dem Leibe gesehnt hat! Dem Landjäger, der dort in der Halle lungert, würde man's auch nicht ansehen. Ich glaube gar, er gähnt. Heimat und Gähnen!
«Haben Sie noch Großgepäck?»
Ein Bahnhofplatz wie ein anderer; starre Häuser, hart und grau wie überall; nichts von Purpurschein und Goldschimmer. Waren denn eigentlich früher die Gassen auch so zugig und leer? Puh, diese Staubwolken! Und was für ein eiskalter Wind, anfangs September! Vor einem jedenfalls, Viktor, bist du in dieser steinernen Nüchternheit sicher: vor Liebesanfechtungen. Oh, keine Gefahr!
Allein der täppische Dienstmann mit seinem zudringlichen Geschwätz erlaubte keine Besinnung. «Würden Sie mir vielleicht eine große Gefälligkeit erweisen?» ersuchte ihn Viktor. «Dann gehen Sie, bitte, langsam, aber ja recht langsam, um diesen Pfeiler, und zählen Sie genau die Schritte. – Wieviel? Sechs? Gut, ich danke; und jetzt, wenn Sie einverstanden sind, ziehen wir weiter.» Da fiel dem Männlein vor Verblüffung der Unterkiefer herunter, daß er auf dem ganzen Wege kein Wort mehr hervorbrachte.
Kaum im Gasthof angekommen, verlangte Viktor das Adreßbuch. Wie heißt sie doch gleich, gegenwärtig, die Treulose, mit ihrem angeheirateten Namen? Wyß, glaube ich, Frau Direktor Wyß. Aber wovon Direktor? Es gibt Eisenbahn-, Bank-, Gas-, Zement-, Gummi-, alle möglichen und unmöglichen Direktoren. Nun, wir werden's ja gleich lesen. Richtig, da steht sie; natürlich vorsichtig hinter ihrem Manne versteckt: Dr. Treugott Wyß, Professor, Direktor des städtischen Museums und der Kunstschule, Vorstand der kantonalen Bibliothek, Mitglied der Waisenhauskommission, Münstergasse 6.
Hu, wieviel Weisheit! was für ein Haufe voll Würden! Eigentümlich, ein Bankdirektor wäre mir fast lieber gewesen. Zwar also jedenfalls ein hochgebildeter Herr. Trotzdem – ich weiß nicht warum, es ist nicht meine Schuld –, ich kann mir diesen braven Ehefriedrich nicht anders als klein, unansehnlich und ein bißchen unbeholfen vorstellen, ich will nicht gerade sagen komisch.
Also morgen vormittag Münstergasse sechs. Gelt, schöne Dame, das sagt dir dein kleiner Finger auch nicht, daß morgen dein Richter naht?
Und am folgenden Morgen zur Besuchsstunde machte er sich nach der Münstergasse auf den Weg.
Wie sie wohl meinen Anblick bestehen wird? Zweierlei ist möglich. Entweder sie erbleicht und wankt aus dem Zimmer, oder sie errötet, faßt sich, trotzt mir und sieht mir dreist ins Gesicht. In diesem Falle werde ich meinen Blick mit Erinnerung laden und sie zwingen, die Augen vor mir niederzuschlagen. Hernach wende ich mich zu ihm, dem Friedrich: «Hochgeehrter Herr, die rätselhafte Pantomime, die wir soeben vor Ihren erstaunten Augen aufgeführt haben, Ihre Frau und ich, verlangt eine Erklärung. Selbstverständlich bin ich bereit, sie Ihnen zu geben, halte es aber für ritterlicher, das Wort Ihrer Frau zu überlassen. Denn ob ich schon ihr Gläubiger bin, ihren Ankläger will ich nicht spielen. Von ihr also mögen Sie sich erzählen lassen, warum und wieso ich der rechtmäßige Eigentümer Ihrer Gattin bin und Sie, mein Herr, bloß mein Stellvertreter und getreuer Statthalter, dank meiner Erlaubnis. Entschlagen Sie sich indessen aller Besorgnisse; nachdem ich Sie stillschweigend als meinen Ehestatthalter anerkannt, bin ich mir bewußt, die Anstandspflicht übernommen zu haben, Ihre Ehe, Ihren Frieden, Ihr Glück in keiner Weise zu stören. Ihr Herd ist mir heilig, und meine klare Aufgabe lautet, mich zu verneigen und zu verschwinden; Sie werden an mir, Herr Direktor, die Tugend der Unsichtbarkeit schätzen lernen. Wie ich denn auch zum ersten und zum letzten Male Ihre Schwelle übertreten habe; und wenn ich heute erschienen bin, so geschah das bloß, um einmal in meinem Leben, ein einziges Mal und nie wieder, Ihrer geehrten Frau Gemahlin ergebenst meinen Mangel an Hochachtung auszudrücken. Dort liegt sie, das fleischgewordene Schuldgeständnis. Das genügt mir. Falls es Ihnen nicht genügen sollte, so wohne ich da und da und stehe jederzeit vom Morgen bis zum Abend zu Ihrer Verfügung.» So ungefähr werde ich zu ihm sprechen. – Hausnummer vierzehn; da bin ich in Gedanken vorübergegangen. Rückwärts denn: Nummer zwölf, zehn; jetzt kommt es näher; acht – also das nächste Haus. Nicht übel, das Häuschen; wie reinlich, wie wohnlich mit den weißen Spitzenvorhängen und dem weit ausladenden Erker; wer würde ihm von außen die Falschheit ansehen, die es birgt? Einen Kanarienvogel hört man auch; und Kinderlachen. Ein Kind? Wie kommt ein Kind da hinein? sollte ich mich in der Hausnummer getäuscht haben? Nein, es ist richtig Nummer sechs. Nun, es können ja mehrere Familien in einem Hause wohnen.
Als er an der Tür den Namen Wyß las, begannen urplötzlich seine Pulse ein Wettrennen im Galopp. «Ruhig dort innen!» herrschte er, «Beklemmung geziemt ihr, nicht mir, dem Richter!» Zog die Klingel und eilte die Treppe hinauf, die Stufen überspringend.
Es tue ihr leid, flötete das Dienstmädchen mit süßlicher Miene, Herr und Frau Direktor wären ausgegangen.
Darob knirschte sein Unwille. Auf jeden Empfang war er gefaßt gewesen, nur nicht auf keinen. Überhaupt liebte er nicht, wenn jemand, den er besuchen wollte, nicht zu Hause war. «Ausgegangen!» Die geht also am hellen, lichten Tage mit jenem aus?! Freilich, das Recht dazu hatte sie, allein es gibt nicht bloß ein Recht, es gibt auch eine Scham. «Hier meine Karte, und ich würde um drei Uhr nachmittag wieder vorsprechen.»
«Frau Direktor werden schwerlich heute nachmittag zu Hause sein», wagte das Dienstmädchen.
«Sie wird zu Hause sein!» befahl er, kehrte sich und ging. Was für eine boshafte Person, dieses Dienstmädchen!