Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler
das Bild betrachtete. «Nicht wahr, ein prächtiger Charakterkopf?» urteilte der Unbekannte bewundernd. Andere Gäste sammelten sich herbei, wie die Fliegen um ein Zuckerstück, und aus der Gruppe kam zum zweiten Mal das ehrfürchtige Urteil: «Ein prächtiger Charakterkopf.» Er mußte wohl ein gewichtiger und volksbeliebter Herr gewesen sein, der Charakterkopf; denn das Gespräch blieb bei ihm hangen, nachdem man sich schon längst zu Tisch gesetzt hatte. Beiläufig verlautete auch sein Name – Neukomm. Halt, hast du gehört? Neukomm? So hatte ja auch sie geheißen. Vielleicht gar ein entfernter Verwandter von ihr?
«Hat er eigentlich Kinder hinterlassen?» munkelte eine Frage. «Zwei», meldete die Antwort; «einen Sohn und eine Tochter. Mit dem Sohne ist nicht viel, er dichtet; die Tochter dagegen ist an den bekannten Herrn Direktor Wyß verheiratet. Ein Prachtweib, sag' ich Euch; alles dreht sich auf der Straße nach ihr um. Groß, stolz, schwarz wie eine Südländerin (ihre Großmutter war eine Italienerin) und hitzig, potzteufel! Übrigens durch und durch brav und sittsam; kein Mensch kann ihr das mindeste nachsagen. Und eine überzeugungseifrige Patriotin wie ihr Vater selig.» – Der Charakterkopf ihr Vater! So wach doch auf, o meine Vernunft, und reg dich, denn daraus folgt ja eine ganze Menge wichtiger Betrachtungen. Nachlässig bewegte sich seine Vernunft, hob ein wenig den Kopf, dann legte sie sich gleichgültig wieder zur Ruhe, wie ein auf der Straße lagernder Hofhund, wenn der Milchmann vorübergeht. «Die Tatsache ist mir zu dumm», erklärte sie.
Nach dem Essen erkundigte sich Viktor beim Oberkellner: «Wohin jetzt, um Zeitungen zu lesen?»
«Da gehen Sie am besten ins ‹Café Scherz› beim Bahnhof; jedes Kind kann Sie weisen.»
Im vollen Saale fand er noch ein Tischlein am Fenster mit zwei unbesetzten Plätzen. Leute gingen, Leute kamen, sahen sich um; doch niemand nahm ihm gegenüber Platz. «Hier wie überall! Entschieden, Viktor, du hast nichts Einladendes, du bist nicht ‹gemütlich›. – Ein fröhlicher Gedanke: Wenn jetzt mitten unter all dem Volk mein getreuer Statthalter säße? warum auch nicht? Er wird sich doch wahrscheinlich auch seine Zeitungen gönnen. Etwa so einer wie der dort hinten, mit den flachsblonden Strähnen und der doppelten Brille im Schafsgesicht? Ein Adonis ist er gerade nicht, das könnte man mit dem besten Willen nicht behaupten; und mehr Geist, als zu einem Herrn Professor unbedingt nötig ist, scheint er auch nicht zu haben. Statthalter, Statthalter, wenn ich dir raten darf, verlaß dich nicht allzusehr auf deine Gelehrtheit, sonst tauft dich eines trüben Morgens deine schöne Juno, auf die du dir so viel einbildest, ‹Doktor Überdruß›. Eigentlich nach den Gesetzen der Schicklichkeit müßte man zu ihm hinüber und ihn ein wenig hänseln. Wenn ich nur ganz sicher wäre, daß er's ist! Nun, wir werden's ja bald erwähren. Zehn Minuten nach zwei Uhr; noch drei Viertelstunden. Wie die Zeit schleicht! – Ha! was für ein stattlicher Mann kommt jetzt hereinspaziert! Brr! Ein Held für Mädchenträume. Etwas zum ‹sich ablehnen›, zum ‹sich emporranken›, ‹eine Stütze fürs Leben›! Könnte ich singen, ich sänge: ‹Er, der Herrlichste von allen!› Und Jupiterlocken hat er auch! An wen erinnert mich doch dieser minnesame Herkules? – Richtig, an den Herzkönig im Kartenspiel. – Wehe, ihr Jungfrauen, weinet! Schauet den Ehering! Sogar bereits Papa, denn so weltzufrieden schreitet bloß, wer Vatergefühle kennt. – Wie sorgsam er seinen Überrock faltet! und die feine, tadellose Wäsche, die jetzt zum Vorschein kommt! Was noch gar! Ich glaube wahrhaftig, er steuert zu mir. Willkommen, Herrlichster von allen!»
Mit einer höflichen Verbeugung ließ sich der Herzkönig nieder; darauf zog er eine Zigarrentasche hervor: «Darf ich mir vielleicht erlauben?»
Dankend erwiderte Viktor: «Ich rauche nicht.» Aber hast du die kunstvoll gestickte Zigarrentasche gesehen? Jedenfalls von seiner Frau.
Jetzt griff der Herzkönig – «Ist es gestattet?» – eine illustrierte Zeitung auf und schaute wohlwollend, fast gnädig hinein, mit halber Aufmerksamkeit; dazu trommelte er mit den Fingern auf den Tisch. Was für gepflegte Fingernägel!
Dem Herzkönig schien jedoch nicht sonderlich ums Lesen zu tun; eher ums Plaudern; offenbar hatte ihm das Mittagessen geschmeckt. «Sie als Fremder», begann er mit zögernder Einleitungsstimme die Unterhaltung, als sich die Kehllaute in ihrer Nähe kräftiger vernehmen ließen, «werden wohl auf unseren etwas rauhen Dialekt nicht besonders günstig zu sprechen sein?»
«Nicht Fremder», berichtigte Viktor, kurz ablehnend, «hier geboren und aufgewachsen; bloß viele Jahre in der Fremde gewohnt.»
«Ah, um so besser; dann habe ich also das Vergnügen, einen Landsmann in Ihnen zu begrüßen.»
Hiernach hüllte er sich wieder hinter die Zeitschrift und begann vor sich hin zu schmunzeln. «Er lutscht an seinem Eheglück wie an einem Lakritzenstengel», dachte Viktor.
Als der Lakritzenstengel zu Ende war, zeigte der Herzkönig auf ein Wertherbildnis in seiner Zeitung. «Was ist Ihre Ansicht», hub er nach einigem Zaudern an, «glauben Sie, daß solch eine leidenschaftliche, schwärmerische Liebe heutzutage noch vorkommen könnte?»
«Natur kommt immer vor», entgegnete Viktor.
Der Herzkönig schmunzelte. «Nicht übel. Es kommt eben alles darauf an, wie eng oder wie weit man den Begriff Natur faßt. Also Sie glauben allen Ernstes, in unserem realistischen Zeitalter...»
«Es gibt keine realistischen Zeitalter.»
«Wenn Sie so wollen, allerdings nicht. Immerhin, es gibt doch, das werden Sie zugeben, verschieden gestimmte Zeitalter; zum Beispiel solche, in welchen gewisse Seelenzustände, die früher beobachtet wurden, einfach undenkbar wären. Oder könnten Sie sich zum Beispiel einen Johannes der Täufer, einen Franz von Assisi oder, um bei unserem Beispiel zu bleiben, einen Werther mit einem hohen, steifen Hemdenkragen vorstellen? – Verzeihen Sie, ich sagte das ohne die mindeste Anzüglichkeit. Nein, wirklich, ich bitte, glauben Sie mir, es war durchaus harmlos gemeint.»
Viktor begütigte lächelnd: «Ich mache keinen Anspruch auf den Titel eines Täufers oder eines Heiligen – ob jedoch der Heilige Geist vom Heuschreckenessen komme oder die Ekstase vom Hemdenkragen abhange, möchte ich bezweifeln. Übrigens pflegte sich der Schöpfer des ‹Werther›, wenn ich nicht falsch berichtet bin, zierlich, sogar geziert zu kleiden.»
Und da nun eine längere Pause entstand, fuhr dem Viktor von der Seite ein Gedanke in den Kopf, den er je länger, je weniger los wurde. «Kennen Sie vielleicht», wagte er endlich unvermittelt, mit banger Stimme, «kennen Sie vielleicht zufällig hier in der Stadt einen gewissen sogenannten Herrn Direktor Wyß?» – Kaum hatte er den Satz draußen, so spürte er, daß er heiß errötete.
Der Herzkönig schaute überrascht auf. «Gewiß; warum?»
«Was ist er für eine Spielart von Mensch? ich meine: wie sieht er aus? groß oder klein? jung oder alt? garstig oder angenehm? jedenfalls ein hochgebildeter Herr, nicht wahr? nach seinen Titeln und Ämtern zu schließen?»
Der Herzkönig zog ein überaus schlaues Gesicht und lächelte belustigt vor sich hin. «Nun, er hat wie jedermann seine zahlreichen Fehler; daneben vielleicht auch, wie ich mir wenigstens schmeichle, einige erträgliche Eigenschaften. – Doch erlauben Sie mir, daß ich mich Ihnen vorstelle: Direktor Wyß ist mein Name.»
Das kam so anmutig, mit so liebenswürdiger Ironie heraus, daß Viktor, der nichts höher schätzte als Gefühlsfeinheit, jählings von Sympathie erfaßt aufsprang und ihm die Hand anbot, welche der andere eifrig ergriff und schüttelte. Es entstand wie ein Freundschaftsbund zwischen den beiden.
Nachdem dann Viktor auch seinen Namen genannt hatte, rief der Direktor hocherfreut: «Da sind Sie also offenbar der Herr, der uns heute morgen die Ehre seines Besuches zugedacht hatte. Wir bedauern aufrichtig; besonders meine Frau, mit der Sie, glaub' ich, wenn ich nicht irre, einmal in einem Meerbade zusammengetroffen sind.»
«Nicht in einem Meerbade», verbesserte Viktor verstimmt, «sondern in einem Bergkurort.»
«Leider muß sie auch diesen Nachmittag auf das Vergnügen verzichten, da sie einen Ausflug mit den Damen des Gesangvereins verabredet hatte; ich komme soeben von der Eisenbahn. Hoffentlich lassen Sie sich indessen dadurch nicht abschrecken, und wenn Sie mir's nicht als eine Zudringlichkeit auslegen