Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler
so würden sie sie heute wahrscheinlich mit meinem Namen nennen.
Auf der Straße zog er die Uhr: «Halb zwölf; reicht zur Not gerade noch zu Frau Steinbach vor dem Mittagessen. Ein wenig weit zwar von der Münstergasse ins Rosental, allein wenn man ein bißchen auszieht...» – und das trauliche Gärtchen mit den Astern im Herbstsonnenschein leuchtete ihm ins Gedächtnis. Rüstig machte er sich auf den Weg, glücklächelnd ob der Vorstellung, die Freundin wiederzusehen. Und je länger, desto rascher trieb ihn das Verlangen. Vor dem Gartentürchen jedoch stutzte er: «Natürlich wahrscheinlich ebenfalls nicht zu Hause, denn wenn das einmal anfängt, so geht es wie eine Seuche.»
Doch nein, Wunder! ein Freudenruf erscholl oben aus dem Fenster, und freundschaftstrahlend eilte sie ihm entgegen, die Treppe herab. Wenig fehlte, so wären sie sich um den Hals gefallen. An beiden Händen zog sie ihn mit sich: «Sind Sie's auch wirklich? – Und nun setzen Sie sich und erzählen Sie mir! Vor allem, lieber Freund, wie geht es Ihnen?»
«Wie soll ich das wissen?»
Laut auf lachte sie vor Vergnügen: «Daran erkenne ich Sie wieder! Also: reden Sie, sprechen Sie, einerlei was! Nur daß man Ihre Stimme hört! Damit man auch ganz sicher weiß, Sie sind es leibhaftig, und es ist nicht etwa bloß ein schönes Märchen. Denn bei Ihnen, mein Herr, geht ja Phantasie und Wirklichkeit derart durcheinander, daß man sich nicht wundern würde, wenn Sie einem plötzlich wieder unter den Augen verschwänden.»
«Ein bißchen aus dem Geleise, der Gedankenzug», scherzte er, «nicht ganz tadellos gekuppelt. Befehlen Sie übrigens, daß ich mich rundherum drehe, um Sie von meiner Leibhaftigkeit zu überzeugen?»
«Nein, geben Sie mir lieber noch einmal die Hand. – So! Nun halte ich Sie aber fest. – Nein, diese Überraschung! Wann sind Sie denn eigentlich angekommen?»
«Gestern abend. – Aber wissen Sie auch, daß Sie je länger, je jünger und hübscher werden? Und – natürlich, das fehlt nicht, immer mit dem erlesensten Geschmack gekleidet!»
«O lala! Schweigen Sie! Eine alte dreiunddreißigjährige Witwe! Und Sie – etwas kräftiger und männlicher, scheint mir, als vor vier Jahren; wie soll ich sagen – sicherer, mutiger!»
«Übermütig sogar, unternehmend, angriffslustig!»
«Möge es so bleiben. Dann darf man also bald etwas Großes, Schönes von Ihnen erwarten? Sie wissen, wie ich darauf zähle.»
«Ach Gott, was das betrifft», seufzte er und sann sorgenvoll vor sich hin.
«Und wenn Sie noch so ein kummervolles Gesicht machen», lachte sie, «so habe ich doch kein Mitleid mit Ihnen, nicht das mindeste. Vollendungswehen, Siegessorgen!»
Da summte vom Münster drüben die Mittagsglocke ihren tiefen Sang. «Wissen Sie was», schmeichelte sie, während er sich erhob, «kommen Sie diesen Nachmittag zu einer Tasse Tee, ganz allein unter uns.»
Schon wollte er freudig zusagen, da erinnerte er sich: «Leider schon anderswo verpflichtet», bedauerte er verstimmt.
«Ei, sieh doch! Gestern abend erst angekommen und heute schon vergeben? Indessen, ich will mich nicht in Ihre Geheimnisse drängen.»
Ungern gestand er, doch gerade deshalb tat er's, denn er gestattete sich keine Feigheitchen. «Es ist kein Geheimnis», sagte er, «für niemand, geschweige denn für Sie. Ich habe mich nämlich auf drei Uhr nachmittag bei Direktor Wyß angemeldet.»
Befremdet schaute sie ihn an: «Was in aller Welt haben Sie in dem demokratischen Tugendtempel verloren? Kennen Sie denn den Herrn Direktor?»
«Ihn nicht, hingegen sie.»
Jetzt verwandelte sich ihr Gesicht und nahm einen kalten Ausdruck an. «Ich weiß, ich weiß», sagte sie, sich abwendend, «Sie haben sie vor vier Jahren einmal flüchtig an einem Kurorte getroffen. Ein oder zwei Tage, glaub' ich.»
«Flüchtig!» rief er empört, «flüchtig? Das sagen Sie, die Sie es doch besser wissen? ‹Ein oder zwei Tage?›, was heißt das: ‹Tage?› Mißt man den Wert des Lebens mit dem Kalender? Ich denke, es gibt Stunden, die schwerer wiegen als dreißig Jahre der Gewöhnlichkeit; Stunden, die ewig leben, so gewiß wie irgendein Kunstwerk, gewisser sogar; denn der Künstler, der sie schuf, ist der heilige Weltgeist der Schönheit!»
«Was sie leider nicht davor schützt, zu vergehen und vergessen zu werden.»
«Ich kenne kein Vergessen, ich dulde keine Vergangenheit.»
«Sie mit Ihrer Phantasie nicht; dafür andere Leute; namentlich wenn die Gegenwart alle ihre Wünsche befriedigt. Glauben Sie wirklich, daß Frau Direktor Wyß Ihren Besuch erwartet oder ihn sonderlich vermissen würde, wenn er ausbliebe?»
«Das glaube ich allerdings nicht, bezwecke auch mit meinem Besuche keineswegs ihr Vergnügen.»
Frau Steinbach schwieg eine Weile, dann redete sie wie für sich selber, doch laut und nachdrücklich: «Die schöne Theuda Neukomm ist jetzt ein abgeschnitten Stück Brot; zufrieden in glücklicher Ehe. Ein gebildeter, angesehener und hochachtungswerter Mann, den sie liebt und der ihre Liebe auch wert ist; ein reizendes Kind (ein wahrer Engel von einem Buben, sage ich Ihnen; ein kecker, schwarzlockiger Trotzkopf wie seine Mutter; fängt sogar schon zu sprechen an. – Ja, machen Sie nur ein Gesicht, als ob Sie mit der Achsel zuckten. Ihnen mag das Nebensache sein, der Mutter aber nicht!) – dazu ein reicher Sippschaftssegen von Freunden und Verwandten, in denen ihre Wonne schwimmt; allen voran ihr Bruder Kurt, der Wundermensch, das große Genie, ihr Abgott.» Hier unterbrach sie sich und lächelte ein wenig vor sich hin. «Übrigens, da fällt mir eben ein, sie ist ja diesen Nachmittag gar nicht einmal zu Hause; sie fährt mit dem Gesangverein über Land.»
«Verzeihen Sie, sie wird zu Hause sein!»
«Ah, wenn Sie das so bestimmt wissen, so füge ich mich natürlich.» Dann plötzlich, ihn ernst anschauend: «Lieber Freund, sagen Sie mir aufrichtig, was wollen Sie von Frau Direktor Wyß?»
«Nichts!» schnitt er unwillig ab.
«Um so besser, sonst würden Sie einer empfindlichen Enttäuschung entgegengehen. – Also dann ein andermal. Wann immer Sie mögen. Bei mir, das wissen Sie ja, sind Sie jeden Tag, zu jeder Stunde willkommen.» – Und während sie ihn hinausgeleitete, sagte sie noch einmal nachdrücklich: «Die schöne Theuda ist jetzt ein abgeschnitten Stück Brot.»
Wie auffällig sie den Spruch vom abgeschnittenen Stück Brot wiederholt hatte! Sie wird doch nicht etwa glauben...? O nein, meine Teuerste, der Bräutigam der hehren Imago ist gegen eine Frau Direktor Wyß gefeit. – Also das ist jetzt ihr neuester Sport: Buben in die Welt zu setzen? Bitte, gnädige Frau, lassen Sie sich ja nicht etwa stören. Zwillinge, Drillinge, meinetwegen Zwölflinge, tun Sie ganz, als wenn ich nicht da wäre. – Doch halt, daß ich antwortete, ich wollte nichts von ihr, war nicht genau; das müssen wir berichtigen. Und ließ ungesäumt durch den Aufzugsknirps Frau Steinbach einen Zettel zustellen.
«Liebe Freundin, eine Berichtigung: Nicht ‹nichts› will ich von ihr, sondern daß sie die Augen vor mir niederschlage, das will ich von ihr. Ihr getreuer Viktor.»
Im Speisesaal langweilten sich die Gäste längs den Wänden auf und ab; bald zum Fenster hinausstierend, bald zerstreuten Geistes die Bildertafeln betrachtend, bis das Mittagessen endlich käme.
Vor dem schwarz umränderten Kopfbilde eines Staatsmannes (der Name war natürlich unleserlich) blieb Viktor stehen. Ein kräftiges Gesicht; mit derben, markigen Zügen, wie nach dem Muster eines Holzschnittes geboren. Uneigennützigkeit und Zielbewußtsein im Ausdruck, feurige Überzeugungshaltung, blicklose Vereinsaugen, nicht gewohnt, Mann gegen Mann zu trotzen, sondern gegenstandslos über eine Menge zu gleiten. Des Mannes Kernspruch vermochte er zu buchstabieren: «Alles durch die Volksschule!» Ja, danach sah der gerade geschrobene Herr aus. Die Welt als eine Erziehungsanstalt aufgefaßt; Zweck des Lebens lernen, hernach lehren; keine Wahrheit, sie schmecke denn nach Weisheit, und keine Weisheit, oder sie röche nach Ermahnung. Das Unheil, das der angestiftet hätte, mit seinem wandtafeligen Überzeugungs-Viereck, wenn ihn das Schicksal statt in die unschädliche