Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler
seine gerechte Sache bekräftigend, seine versöhnliche Gemütsart beteuernd.
«Ich begehre ja nichts mehr für mich! Er hat ja jetzt alles, was er will!» Als er aber durch die Menschengasse seiner Tochter über dem Leichnam ansichtig wurde, schüttelte er den Kopf wie ein Stier. «Muß er mir denn ewig und ewig nichts als Kummer verursachen!» brüllte er.
Da wandte ihm Anna langsam ihr Schmerzensantlitz zu, das welt- und toddurchdringende Liebestreue mit überirdischer Schönheit verklärte: «Sieh, Vater, das ist jetzt unser Conrad», sang sie mit sanftem Dulderton, während ihr Mund fürchterlich zuckte.
Jetzt zerrte er sich gewaltsam los und humpelte dem Leichnam zu. Er wollte sich niederwerfen; allein seine geschwollenen Gelenke versagten dem Willen. Nun tanzte er auf seinen dicken Klumpenbeinen vor dem Leichnam auf und ab wie ein angeschossener Elefant. Plötzlich stieß er den Doktor wütend vor die Brust. «Lebendig machen! Wieder lebendig machen!» grölte er.
Der Doktor hielt ihm eine priesterliche Miene entgegen. «Lebendig machen», sprach er feierlich, «das steht leider nicht in unserer Macht.»
Von der Mauer aber warf Cathri in schneidendem Ton herüber: «Ja, lebendig machen, das ist jetzt zu spät! Hättet Ihr's benutzt, als es Zeit war!»
Anna schnellte auf und zuckte gegen Cathri einen Blick, scharf wie eine Lanze.
Während man sich umsonst bemühte, den Alten von hinnen zu schaffen, wandelte sich sein Toben jählings zum wehklagenden Wimmern. Er hatte seine Frau, die «Pfauen»-Wirtin, bemerkt, die von der Dorfseite um die Hausecke mit geknickten Knien mehr rutschend als gehend sich an der Wand entlang tastete. «Ist's denn wirklich wahr?» flehte die Angst aus ihren erloschenen Augen.
Hierauf, wie ihr das unzweideutige Bild: die Ansammlung des Volkes um eine nämliche unsichtbare böse Stelle, der Schatten des Unheils, der von dorther jedes Antlitz verdüsterte, die entsetzliche Wahrheit bestätigte, krampfte sie die Finger in das Gestein, um nicht zu fallen.
Anna flog ihr entgegen, ihr nach bewegte sich schwerfällig der Alte, überholt von mitleidigem Gesinde und Nachbarvolk.
Sie fiel, aber in befreundete Arme. «Conrad», winselte sie, «warum hast du mir das angetan?»
Betroffen tauschten die Herumstehenden Blicke. Und Bertha wandte sich zu Cathri um: «Es ist, als ob sie glaubte, er habe sich selber ein Leid zugefügt», flüsterte sie.
«Das böse Gewissen», versetzte Cathri bitter.
Und das sagte sie in ihrer rückhaltslosen Weise mit lauter Stimme. Abermals drückte Anna einen Blick gegen sie ab, diesmal einen drohenden.
Der Alte aber entschuldigte sich ehrfurchtsam vor dem mütterlichen Schmerze.
«Ich hatte ihm ja alles gewährt, was er nur verlangte. Ich kann nicht begreifen. Er hatte durchaus nicht die mindeste Ursache. Es muß ihn im Streithandel ein Stich getroffen haben, wie man erzählt.»
Der Doktor, der Feuerleutnant, nebst andern, welche Freundschaft oder Gemüt oder auch der Zufall der Nähe dazu berief, nahmen die «Pfauen»-Wirtin auf und förderten sie halb schiebend, halb tragend an dem Leichnam des Sohnes vorbei, den sie angelegentlich mit ihren Leibern verdeckten, der Haustüre entgegen. Der Vater hinkte greifend nach, Anna wachte zur Seite über beide. Es war wie ein Leichenzug.
«Ich muß doch Abschied von ihm nehmen; ich muß ihn doch um Verzeihung bitten», jammerte die «Pfauen»-Wirtin.
«Ja, jetzt hat sie Grund zum Jammern und Seufzen», rief Cathri unwillkürlich, im Drange der Wahrheit.
Nun aber riß sich Anna los und stürzte ihr entgegen: «Mensch ohne Gemüt, Weib ohne Herz!» schrie sie ihr ins Gesicht. «Egoistin! härter als Stein und Eisen! Ihr, Ihr, und niemand anders, habt ihn auf dem Gewissen! Statt ihn zurückzuhalten, habt Ihr ihn noch angestachelt!»
Cathri maß die Gegnerin kaltblütig mit haßerfülltem Blick.
«Immer noch besser», entgegnete sie, «ein Unglück im Hause als ein Verbrechen.»
«Wie meint Ihr das?» kreischte Anna außer sich.
«Ich meine», erwiderte Cathri fest, «wenn es doch einmal geschehen mußte, immer noch besser von fremder Hand als...» Hier stockte sie.
«Als?» verlangte Anna. «Als?» Dann plötzlich, ohne die Ergänzung abzuwarten: «Fort von hier! Heuchlerin! Intrigantin! Mannsschleicherin! Fort! Fort noch in dieser Stunde! Ich, als Tochter des Hauses, befehle Euch, Euch, der Dienerin: Fort aus dem ‹Pfauen›, und zwar augenblicklich!»
Cathri richtete sich hoch auf: «Ich verwahre mich ausdrücklich dagegen», sprach sie, «daß man mich Knall und Fall von hinnen jagt, wie eine ungetreue Magd, mit Schimpf und Schande, als ob ich gestohlen hätte. Es ist nicht wahr, daß ich irgendwelche eigennützige Absicht hierher trug. Und vor dem letzten Zuge mich zu entlassen, dazu hat niemand das Recht, nachdem man mich bis zum letzten Zuge gedungen hat. Übrigens, meinetwegen, ich habe nichts dagegen, jawohl, ich gehe. Aber nicht etwa, weil Ihr mir's befehlt, denn Ihr habt kein Recht dazu, sondern freiwillig, weil mir vor diesem gottverlassenen Hause des Hasses und des Haders ekelt, weil ich lieber bei bettelarmen Leuten in der geringsten Strohhütte dienen möchte, wo der Friede wohnt, als hier unter dem protzigen Ziegeldach im Unfrieden. Verzehrt Euch in Reue! Schiebt einander gegenseitig die Verantwortlichkeit zu! Ich ziehe meiner Wege. Das aber sag' ich: Eure Schuld ist's, Eure Schuld und einzig Eure Schuld, nicht meine. Hätte ihm nicht jemand Gift eingegeben, daß er inwendig zu tun hatte, niemand hätte ihm das mindeste anhaben können. Übrigens, es ist gekommen, wie es kommen mußte. Geschah es heute nicht, so wäre es morgen oder übermorgen geschehen, wenn nicht auf diese Art, auf jene und möglicherweise noch schlimmere.»
Damit warf sie trotzig den Kopf in den Nacken und stolzierte ins Haus nach dem Portierstübchen, schleuderte dort das Geldtäschchen weg, setzte den Strohhut auf, rückte ihn vor dem Spiegel zurecht und wandte sich abzuziehen.
Allein die Köchin, die alte treue Lisabeth, vertrat ihr den Weg.
«Euer Lohn», mahnte sie mit eisiger Stimme, indem sie ihr so beleidigend als möglich ein Goldstück entgegenhielt.
Cathri brauste in heller Empörung auf, bereit, die Hand wegzustoßen. Doch sofort besann sie sich: «Ich habe den Lohn redlich mit fleißiger Arbeit verdient», sprach sie, «ich brauche mich seiner nicht zu schämen. Es ist kein Geschenk, was ich annehme.» Sie nahm also das Goldstück und steckte es ein. Hernach schritt sie in aufrechter Haltung zur Türe hinaus auf die Terrasse.
Vor dem Volke angelangt, verkündete sie mit lauter Stimme: «Ich rufe Gott und mein Gewissen zu Zeugen an, daß man mir unrecht tut, daß ich diese schmähliche Behandlung nicht verdient habe.»
In diesem Augenblick trugen sie Conrads Leichnam ins Haus, an ihrer Seite vorbei. Zwar den Rumpf verdeckten die Träger; auch wandte sie sich unwillkürlich ab, von Schmerz und Schauder überwältigt; nichtsdestoweniger streifte ihr widerwilliger Blick den Stiefel des linken Beins, dessen herabhängendes Ende auf dem Boden schleifte, und jählings trat ihr bei diesem Anblick das Bild ihres Baschi vor Augen, wie sie ihn auf der Bahre heimbrachten. Also von doppeltem Leid gleichzeitig überfallen, zersprang ihre starke Fassung, so daß ihr das übermäßige Elend in heulendem Tonschwall aus dem Herzen stürzte. Und also heulend schritt sie mitten durch die Menge, in der Richtung nach dem Rebberg, wo der Verkehr am spärlichsten war, stolz und bolzaufrecht wie immer, und ohne jemandem einen Blick oder Gruß zu verabfolgen.
Erschüttert machte das Volk ihr Platz, mit gemischten Gefühlen, zugleich bewundernd und grausend, teilnehmend und verdammend. Es war anzuschauen wie ein Strafgericht und doch wieder wie jemand, der in überlegener Unschuld, unberührt von dem Urteil der Menschen, geraden Weges einherwandelt.
Josephine und Bertha eilten ihr nach. «Ihr müßt das nicht so wörtlich auffassen», tröstete Josephine, «es ist nicht so buchstäblich gemeint.»
«Ihr dürft nicht einen so strengen Maßstab anlegen», mahnte Bertha, «Ihr müßt dem Schmerze der Schwester auch etwas zugute halten.»
Die