Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch) - Carl  Spitteler


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weit; und leer, zum Verzweifeln leer, als hätte sie sich irgendwo in der Ewigkeit verloren.

      Bei der Kegelbahn begegneten ihr zwei schwebende Gestalten, vereint zum Paar, die Hände verschlungen, die traumschönen Häupter strahlend vor Glück und Hoffnung: sie und Conrad. Vor diesem Bilde schmolz ihre Seele, daß sie meinte, das überquellende, ungebärdige Weh wolle sie zu Boden werfen, auf das geweihte Fleckchen Erde, wo sie vor einer kurzen Stunde zusammen einen Bundesbaum gepflanzt, mit lustigen Wimpeln und Fähnchen. Wie mit hundert starken Armen der Natur zog es sie nieder, damit sie dort auf der heiligen Stelle ihr Leid ausweine, demütig, sehnsüchtig und inbrünstig. Aber der Stolz hielt sie aufrecht, und der Trotz stieß sie von hinnen. Sie verbarg das Gesicht in den Arm und weinte in den Ellbogen.

      «Und gerade in einem solchen Augenblick», schluchzte sie, «wo man meint – wo man glaubt – wo man das Glück...»

      Dann tauchte sie in die Dämmerung, längs dem Rebberg hinab in gleichmäßigem Geschwindschritte, den Abend mit dem tiefen, sonoren Wohlklang ihres Trauergeheuls erfüllend. Bald aber entstieg dem Schmerze der Zorn. «Warum kommt man denn», meuterte sie, «und sucht mich auf und bittet und bettelt himmelhoch, daß ich die Gefälligkeit haben möchte? Ich war ja im Kurbad vortrefflich aufgehoben. Dort ehrt man mich und weiß mich zu schätzen. Ja, wenn ich wollte, wenn ich nur im mindesten ein Zeichen gäbe! – ‹Intrigantin! – Mannsschleicherin!› Wer? Ich? Ich bin nicht darauf angewiesen, Herrschaft zu erschleichen; ich könnte sie auf dem Teller haben und noch dazu eine vornehmere als den ‹Pfauen› – und habe auch nicht nötig, einen Mann zu erschnappen-, sie bieten sich mir ja alle an! Aber ist denn das meine Schuld? Ich bin wahrlich nicht diejenige, die ihnen entgegenkommt. Ich begehre nur einen einzigen, den ich gern habe und den ich achten kann; und dazu habe ich das heilige Recht, so gut wie jede andere. – Es ist wahr, sie hat die Vollmacht, sie hat die gesetzliche Befugnis und Berechtigung, sie kann mir das Haus verbieten, obschon, obschon – es kostete mich ja bloß ein Wörtchen, und er stellte mich öffentlich als seine Braut vor, er hatte ja die Absicht! Ich hätte dann sehen mögen, wer mir meinen gebührenden Platz an der Leiche meines Bräutigams verwehrt hätte! Ihn nicht einmal mehr sehen und anrühren zu dürfen! nicht einmal einen Kuß auf seine bleichen Lippen zu drücken! – den ersten und letzten! – Doch verlobt oder nicht verlobt, gleichviel, es gibt eine Wahrheit und eine Treue. Ein Wort ist ein Wort, ob nun öffentlich gesprochen oder unter vier Augen. Und wenn einmal zwei Worte sich gekreuzt haben, unter rechtschaffenen Menschen, so gilt es, auch ohne Ring und Zeugen oder Pfarrer und Zivilpfarrer. Mir hat er das Versprechen gegeben, das heißt, auf ehrlich, er gehört mir, mir allein, in alle Ewigkeit, tot oder lebendig, und keiner anderen, mag sie noch so sehr einen lächerlichen Abgott aus ihm machen! Daß er mich zuletzt nicht wiedererkannte, das beweist nichts, gar nichts, nicht das mindeste, denn das begreift sich doch: wer mit dem Tode zu kämpfen hat, der hat genug zu tun, er kann nicht den Geist auswärts beschäftigen.»

      Dann kam ein neuer Schub von Jammer, so daß sie laut aufstöhnte; in das Stöhnen aber mischte der Zorn bellende Laute. Plötzlich hielt sie an und drehte sich um, das Gesicht nach dem «Pfauen» emporgerichtet.

      «Übrigens, ist sie denn verlobt?» Sie schloß gewaltsam die Lippen und zerdrückte ein böses Wort zweimal und dreimal. Endlich konnte sie sich's doch nicht versagen: «Wenn eine Gewisse wüßte», entfuhr es ihr, «was ein gewisser Doktor mir für Augen gemacht hat.» – Hernach reiste sie weiter. – «Ich gehe einfach wieder ins Kurbad», schloß sie ab.

      Unten im Rank, wo die Herrlisdörferreben sich nach den Rubisthaler Flühen zurückziehen, folgte ihr ein kicherndes Hohngelächter aus dem Weinberg.

      Kein Zweifel, es waren die Wagginger, denn nur der Feind triumphiert über ein Weh. Flugs machte sie Front und wetterte mit mähenden Armen wie der Pfarrer in der Kirche eine Buß- und Karfreitagspredigt in den Weinberg: «Fluch und Schande über euch gottvergessene Mordbuben! Möge jedem von euch dereinst in der Sterbestunde das Gewissen in die Gurgel steigen, daß euch die Hölle, der ihr sicher nicht entrinnt, schon auf dieser Welt den Borst sengt und brenselt. Ich bete nicht, der Donner des Himmels möge euch erschlagen, denn unseres Herrgotts gesunder, reinlicher Blitz ist viel zu sauber für schmutzige Wiedehopfe eurer Gattung. Er würde ja zeitlebens stinken, der Blitz, wenn er euch anrührte! – Männer will das vorstellen? Männer, dieses krumme, mißgeborene Bastardgezücht, diese siechen Hämlinge ohne Mut, ohne Kraft, ohne Muskel, ohne Stimme? Aber getrost. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, wie er ihn gestochen hat und wer ihn gestochen hat, und mit mir hundert andere. Man kennt ihn, und man kann ihn nennen. Der Matthiesen-Michel von Niederwaggingen ist's und niemand sonst. Ich habe ihm im Tanzsaal die Hand übers Maul geschlagen, ich werde ihm im Gerichtssaal den Zeigefinger in die Augen stecken und sagen: ‹Du bist's›, und ich mache mich anheischig, es eidlich zu beschwören. Und wenn – gesetzt der Fall – die eigene Familie nicht klagen will, so klage ich und gehe zum Staatsanwalt und lasse nicht nach und verlange Recht und Sühne. Und wenn er nicht will, so zwinge ich ihn mit seiner Pflicht und seinem Beruf und mit dem Regierungsrat und mit der Zeitung, bis er muß.»

      Und als jetzt zur Warnung ein Kieselsteinchen an ihr vorbeitänzelte, ersprang sie über zwei Stapfeln das Mäuerlein, riß einen Stecken von den Reben und wies ihn drohend vor, wie man einem Hunde droht. «Eia, ich bin nur eine schwache Jungfrau», rief sie, «aber mit einem halben Dutzend eures Gelichters wollt' ich mir's im Notfall noch getrauen aufzunehmen.» Dann, nachdem sie eine Weile in der herausfordernden Stellung verharrt, schleuderte sie mit verächtlicher Gebärde den Stecken fort und zog ihres Weges, der Eisenbahnböschung entlang, dem Bahnhof zu.

      Schlurpende Schritte hasteten ihr nach, und jemand tippte ihr auf die Schulter. Trotz der Dunkelheit erkannte sie den Oberwagginger Fürsprech.

      «Ihr, Cathri, oder wie Ihr heißt, seid Ihr Euch denn aber auch der Verantwortlichkeit bewußt, was das sagen will, sein Gewissen mit einem Eide belasten?» munkelte er.

      «Jawohl», antwortete sie höhnisch, ohne den Schritt zu verkürzen. Der Fürsprech zupfte sie am Rock.

      «Ihr habt ja doch auch ein fühlendes Herz; Ihr werdet gewiß nicht unnötigerweise einen Menschen ins Unglück bringen wollen, der vielleicht mehr aus jugendlichem Übermut» – zugleich ließ er ein großes weißes Fünffrankenstück schimmern. Da versetzte sie ihm mit dem Ellenbogen einen Stoß in den Magen, daß das Geldstück auf dem Weggestein klimperte, wonach der Fürsprech schimpfend zurückblieb, um seinen Fünfliber zu fischen.

      Beim Stationsübergang überstieg sie schlankweg die geschlossene Barriere. «Heda, he! halt, halt!» wehrte aufgebracht der Wächter, «es kommt ein Zug.»

      «Meinetwegen», erwiderte sie kurz und war schon über dem Geleise.

      Eine ziemliche Menge Volkes war vor der Station versammelt, in feierlicher Haltung, wie zu einem Begräbnis, gedämpft sprechend, ereignisschaudernd und neuigkeitslüstern. Obschon der «Pfauen» von hier aus nur stückweise sichtbar war und das sichtbare Stück überdies in der Dämmerung versank, schaute doch alle Welt nach dem Gasthof empor, auf der äußersten Kante der Wartehalle stehend, Belehrungen über die Ortsverhältnisse, wo sich das Ereignis begeben hatte, austauschend. Cathris Ankunft weckte ein Flüstern, und während aller Augen sich nach ihr richteten, machte man ihr ehrerbietig Platz.

      Der Vorstand nahm höflich grüßend die Mütze ab. «Ist es denn wirklich wahr?» wagte er schonend.

      Cathri erhob die Stimme: «Wahr ist», rief sie, «daß auf dieser Welt die Besten unterliegen und die Schlechtesten obenauf sind.»

      Die Neuberin, die Pintenwirtin, ergriff sachte ihren Arm. «Wolltet Ihr nicht lieber ein bißchen aus dem Gedränge, bis Euer Zug kommt? Es dauert noch reichlich eine Viertelstunde.»

      «Der Zug Nummer zwölf hat überdies zweiundzwanzig Minuten Verspätung», ergänzte der Vorstand verbindlich.

      «Kommt», drängte die Neuberin. «Sitzt ein wenig ab, Ihr habt Ruhe nötig.»

      Da ließ sie sich wegführen, über die Straße ins Gärtchen, ins Läubchen. «Hier seid Ihr vollkommen ungestört», tröstete die Neuberin einladend; «Ihr müßt freilich sehr, sehr vorlieb nehmen», entschuldigte sie, «es ist halt alles gar entsetzlich einfach


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