Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler
schüttelte verneinend den Kopf und entfernte sich mit beschleunigtem Schritt, als besorge er, es möchte ihn gereuen. Und unwillkürlich nahm er dabei einen nachlässigeren Gang an als gewöhnlich.
«Aber das ist ja geradezu eine Unhöflichkeit, eine Beleidigung», rief sie ihm empört nach. Doch er verschloß die Ohren.
Cathri erwartete ihn an der Mauerecke. Ihr Auge schillerte falsch und noch etwas feindselig, im Nachklang der ausgestandenen Eifersucht. «Warum seid Ihr denn nicht gegangen, das feine Stadtfräulein zu begrüßen?» tadelte sie verdreht, mit heuchlerischem Vorwurf.
«Des Menschen Seele ist doch ein verwickeltes Ding», dachte er. Nämlich auf der Oberfläche fand er Unbefangenheit genug, um sich über diese kleine weibliche Verlogenheit in Cathris Mund zu wundern, denn er hatte gemeint, Grobheit wäre eine Bürgschaft für Wahrhaftigkeit; während er gleichzeitig inwendig die Brust voll Wärme spürte, ohne Vorbehalt noch Abzug. «Weil ich vorziehe, mich mit meinem guten Geiste zu unterhalten», antwortete er, mit bebendem Tone, denn die Notwendigkeit der Wahl hatte ihn ergriffen.
Da schenkte sie ihm einen sonnigen Freundschaftsblick: «Ich danke», bemerkte sie schlicht. Sie blieb noch ein Weilchen nachdenklich vor ihm stehen, hin und wieder zu ihm emporschauend, halb prüfend, halb liebend. Und als sie ihn verließ, berührte sie verstohlen seine Hand.
Kaum war sie fort, so schlenderte eben das Fräulein mit ihrer Mama dicht hinter ihm vorüber, dem Rebberg zu, begleitet von Anna. Obschon er ihr zufällig den Rücken kehrte, hatte ihn doch der unbestimmte Schein ihrer geschmeidigen Gestalt und ihres leichten Schrittes flüchtig getroffen, zugleich mit dem farbigen Eindruck ihrer Kleidung, hell und fröhlich, aber weich und gedämpft wie ein Moll-Akkord.
Das übrige ergänzte seine aufgeregte Erinnerung. Gewaltsam beharrte er auf dem Fleck und hütete sich, daß er sich nicht rührte, damit er sie nicht sehe. Erst nachdem er vollkommen sicher war, daß sie sich weit entfernt hatte, atmete er auf, mit dem erhebenden Gefühl, auf etwas verzichtet zu haben, worauf er sich keinen Anspruch erlauben sollte und durfte.
Endlich, als er Anna einsam zurückkommen sah, nahte er erleichtert seinen Waldishofern.
Sie empfingen ihn mit ehrerbietiger Vertraulichkeit, zwar sich erhebend, aber zugleich die Hand vorstreckend und das Glas zum Willkomm darbietend. Er tat manchem Bescheid und drückte jedem die Hand, sorgsam darauf bedacht, daß er auch nicht einen einzigen übergehe. Als aber die Reihe an den Wachtmeister gelangte, war es mit seiner Freiheit vorbei. Denn der nahm ihn mit seiner gewalttätigen Herzlichkeit für sich allein in Beschlag und gab ihn nicht mehr los, umarmte ihn, preßte ihn an die Brust, paukte ihn auf den Rücken und fiel ihn unersättlich von neuem an, während er ihm seinen pechschwarzen Zimmermannsbart, der ihm von den Wangen bis ans Zwerchfell reichte, um das Gesicht rieb. «Conrad», gurgelte er unaufhörlich, indem er die wilden Augäpfel verdrehte wie ein schmachtender Grislybär.
Leutolf, der Feuerleutnant, erlöste ihn endlich, nicht ohne Mühe, von dem Freundschaftswüterich. «Was für ein geheimes Liebchen hattest du denn eigentlich heute nachmittag im Zuge sitzen, daß du Hören und Sehen vergaßest? Wir riefen uns im Vorbeifahren beinahe die Lunge nach dir aus, allein du hattest Augen und Aufmerksamkeit offenbar an einen wichtigeren Gegenstand zu vergeben.»
«Das geheime Liebchen hat weiße Haare und ist zweiundsiebzigjährig», belehrte Conrad, und ein gutes Lächeln schlich ihm über Herz und Mund, als er der Hexenbase gedachte.
Leutolf hatte sich inzwischen in seinen Arm gehängt und drehte ihn jetzt mit sich in halber Wendung um: «Was für eine unmenschliche Masse Volkes wieder einmal bei euch im ‹Pfauen› ist!» rief er bewundernd, mit Augenzwinkern.
«Und was für ein wundervoller Abend», ergänzte Conrad ablenkend.
«Glückspilz!» fuhr Leutolf fort, Conrads Arm schüttelnd, «wenn's bei dir einmal ans Erben geht!» Dabei pfiff er mit den Lippen.
«Pfui!» wehrte Conrad, aufrichtig beleidigt.
«Erben ist keine Sünde», versetzte der Feuerleutnant unbeirrt. «Und dem Anschein nach spinnt er keinen langen Faden mehr, dein Alter. – Hast du denn aber auch für ein appetitliches Frauchen gesorgt?» Und da eben Cathri vorübereilte, mit Flaschen und Gläsern beladen, stupfte er den Freund mit der Schulter: «Ist das etwa diejenige, welche?» munkelte er.
Conrad überlegte; die Frage schien ihm ungehörig, die Antwort schwierig. «Ich bin selber noch unschlüssig», erklärte er endlich mißmutig.
«Verdammt schön ist sie, unverantwortlich schön, unmöglich schön sogar», meinte der Waldishofer. «Aber hat sie denn auch Bildung?»
«Ich habe ja ebenfalls keine.»
«Du und keine Bildung? Artillerieoffizier und ehemaliger Industrieschüler und immer mit den ersten Preisen! Faxen! – Also ist es diejenige, welche, da du dich bereits über solch einen Hauptmangel hinwegsetzest. – Ich hatte erst einen Augenblick eine andere im Verdacht, eine, die besser zu dir paßte und die sich auffallend nach dir umsah. Aber, da du ihr so beharrlich den Rücken kehrtest, fällt meine Vermutung dahin.» Dann nach dem wüsten Gejohl im Tanzsaal horchend: «Was hast du denn da für einen absonderlichen Harmonieverein aufgelesen? Soll das etwa den Furienchor aus dem ‹Orpheus› vorstellen? Die singen ja wie kastrierte Lämmergeier.»
«Oder wie mondsüchtige Seehunde», meinte der Wachtmeister. Und indem jeder, des Beifalls zum voraus sicher, einen neuen Vergleich aus dem zoologischen Garten zum besten gab, lauschten sie belustigt dem schauerlichen Geheul.
«Den heisern Fistelstimmen nach zu urteilen, sollte man fast glauben, es wären die Wagginger», riet eine Stimme.
Und da Conrad nickte, erhob sich die Frage: «Die Oberwagginger oder die Niederwagginger?»
«Beide», gestand Conrad verstimmt.
Der Feuerleutnant schaute ihn bedenklich an: «Die Ober- und Niederwagginger zusammen? Acht Tage nach den Wahlen? Das könnte schief ablaufen.»
«Wohl möglich», bestätigte Conrad.
Der Wachtmeister aber klemmte ihm den Arm: «Nun, wenn's etwa dazu kommen sollte, gesetzt den Fall», erläuterte er, «so weißt du, daß du auf uns zählen kannst.» Und um dem Versprechen Nachdruck zu erteilen, ließ er einige Püffe in die Nieren folgen.
«Selbstverständlich!» bekräftigte die Schar.
In diesem Augenblick klapperte feines Hufgetrampel, und als er sich nach dem Geräusch umsah, gewahrte er seine Offiziere, den Obersten Allegri an der Spitze, wie sie zuhauf das Kirschensträßchen hinabzogen, zu drei und drei hintereinander im tänzelnden Trabschritt, leicht und lebhaft. Mit Kennerblicken schaute er ihnen wohlgefällig nach. Die Pferde bogen, meisterhaft hinter den Zügeln versammelt, den Hals und das Kreuz in anmutigen Wellenlinien, die Reiter saßen knapp und stramm. Ein Baumpaar nach dem andern legten sie zurück im pochenden Takt der Hufe, welche die trockene Bahn mit melodischem Holzton hämmerten, während ab und zu ein Säbel, vom flachen Abendsonnenstrahl getroffen, jäh aufleuchtend wie ein Blendspiegel Flammenbündel entsandte.
«Eine treue Seele, Papa Allegri», dachte Conrad. «Harmlos wie ein Kind.» War das ein gehörnter Einfall, ihn und den Vater zusammenzuflechten, ohne die entfernteste Ahnung, wie schlimm es zwischen ihnen stand! Welch eine unmögliche Lage! Er bemühte sich, dieselbe nachträglich possierlich zu finden, doch tief innen bewegte ihn Rührung. Eine geraume Weile friedlich neben dem Vater gestanden zu haben, ohne etwas Böses von ihm zu erleiden, sich gegenseitig unterstützt, einander entschuldigt, vor den Fremden gedeckt zu haben – ein unerhörtes Vorkommnis. Gewiß, es war ja bloß im Zwange der Not geschehen, nach außen hin, der Leute wegen. Gleichviel, es ergriff ihn dennoch. Beinahe hätte er seinen Vater darum liebhaben können. Und wie wenig, wie wenig brauchte es doch, damit er es wirklich vermochte! Ein halbwegs freundliches Benehmen, ein Ton, der ihn nicht durch seine Roheit reizte, eine Anrede, die ihn nicht beleidigte. Mehr nicht. Und sollte denn das so unendlich schwierig sein?
Er seufzte tief, und sein Gesicht verfinsterte sich. Immerhin sah er nun wieder einen blassen, winzigen Hoffnungsschimmer. Es dünkte ihn hinfort nicht