Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch) - Carl  Spitteler


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eine zweite, hierauf eine dritte Kellnerin Josephine zur Aushilfe beigeordnet werden.

      Die Durchbrechung der hergebrachten Platzregel aber, mit ihrer Unordnung, mit ihren Zwischenfällen, wie sie Unvorhergesehenheit und Ratlosigkeit im Gefolge zu haben pflegen, bewirkte eine knabenhafte Ferienstimmung, so daß die Gesellschaft ihre lästige Leichenfeierlichkeit verabschiedete und sich freier Fröhlichkeit hingab. Während das Landvolk diese hauptsächlich durch steiferen Trunk betätigte, hielten sich die stubenmüden Städter mehr an die Geschenke der Natur. Vor allem die unscheinbare Quelle, die aus der Matte rieselte, beschäftigte die kleinen und großen Stadtkinder. Als ob das ein Jungbrunnen wäre, umstanden sie sehnsüchtig das flüssige Wunder, sinnend und träumend. Von den vielen Luftgebilden, die da von Herz und Hoffnung in den Frühling gebaut wurden, entstand eine ganze Phantasiestadt.

      So geriet Conrad ohne sein Zutun an die Spitze einer Geschäftsherrschaft. Es bildeten sich zwei Lager, ein oberes, wo der Vater schaltete, und ein niederes, dem Sohn untertan. Dort ließ sich vorwiegend das behäbigere Alter nieder, hier die laute Jugend. Da aber die frischen Ankömmlinge mit Vorliebe nach der Wiese abschwenkten, teils der Abwechslung und Ausnahme wegen, teils weil dort bewegteres Leben winkte, schwoll das untere Lager stetig an, während das obere schwand. «Wie ein Vorzeichen», dachte Conrad.

      Mißgünstig beobachtete der Alte den Zuwachs des gegnerischen Regiments, und bei jedem neuen Platztausch rollten seine Augen: «Man sollte fast meinen, es verzapfe einer unten bessern Wein als oben», brüllte er, «und stammt doch aus dem nämlichen Faß.»

      «Es angelt ja niemand nach ihnen», rief Conrad zurück, «und mit Gewalt kann ich sie doch nicht zurücktreiben.»

      Bei alledem machte jedoch keiner dem andern sein Volk abspenstig; dazu waren sie beide zu geschult und zu klug. Im Gegenteil, sie halfen sich aus und spielten sich in die Hände. Mit der Zeit, als der Raum unten allmählich anfing knapp zu werden, füllte sich's auch oben wieder, so daß schließlich ein ebenmäßiger Ausgleich stattfand.

      Wie sie nun so gemeinschaftlich einheitlicher Arbeit pflogen, jeder auf seinem Posten, rückte der innere Herzensgegensatz bis auf weiteres in den Hintergrund. Eine Art Achtung voreinander gewann die Oberhand. Mitunter, nachdem der Alte einen prüfenden Blick in die Matte geschickt hatte, grunzte er unverständliche Worte vor sich hin, was bei ihm Zufriedenheit besagen wollte. Conrad seinerseits mußte zugeben, daß des Vaters fürchterliche Blicke musterhafte Ordnung hielten.

      Hierüber regte sich sein Gewissen.

      «Josephine», befahl er, «Josephine, seid so gut und geht zum Vater. Ich ließe ihm sagen, es setze heut abend Streit im Tanzsaal, ich wisse es ganz bestimmt.» Josephine ging und kam zurück.

      «Was hat er geantwortet?»

      «Nichts, nur so geschnarcht.»

      «So geht noch einmal; ich lasse ihn eindringlich ersuchen, meine Warnung nicht auf die leichte Achsel zu nehmen. Es sei eine abgekartete Sache; ich hätte es von den Waggingern selber gehört.»

      Abermals ging und kam Josephine.

      «Es sei gut», berichtete sie, «er habe es bereits das erste Mal begriffen. Man brauche ihm etwas nicht zweimal zu sagen, da er gottlob weder taub noch töricht wäre.»

      «Dann basta! Fertig! Zum dritten Mal sage ich ihm's nicht.»

      Doch nach einer Weile beunruhigte ihn seine Verantwortlichkeit gleichwohl wieder. «Josephine», bat er, «sagt dem Vater, es tue mir aufrichtig leid, zum dritten Mal darauf zurückzukommen; allein es lasse mir in Gottes Namen keine Ruhe. Um sechs Uhr gehe es los. Nach meiner Meinung müßte man für ein paar Dutzend handfester Burschen sorgen.»

      Diesmal kehrte Josephine laut schluchzend zurück. «Euer Vater ist ein Ungeheuer. So lasse ich mich nicht behandeln!»

      «Was hat er gesagt?»

      «Ein ausgeschämtes, niederträchtiges Mensch hat er mich genannt!»

      «Das habt Ihr allerdings nicht verdient, Ihr am allerwenigsten. Nehmt meine Entschuldigung statt der seinigen. Es tut mir also leid. Aber ich meine, was er Euch für einen Bescheid für mich mitgegeben hat?»

      Heftig platzte sie heraus: «Ihr brauchtet Euch nicht um umgelegte Eier zu kümmern. Er wisse schon selber, was ihm zu tun obliege, und brauche keinen Lehrmeister. Übrigens, wenn Ihr denn so ein Hasenfuß wäret, so könntet Ihr Euch ja unter Jucundens Unterrock verstecken.»

      «Oho!» knirschte Conrad, vom Boden aufjuckend und die Fäuste ballend. Darauf stampfte er zornig auf und ab. «Tod und Teufel sollen mich holen», schwur er, «wenn ich heute abend einen Finger rühre.» Dieser Schwur schaffte ihm zunächst wieder Frieden, aber einen finstern Höllenfrieden.

      Derweilen schnurrte oben Cathri zu Anna heran, rot wie eine Klatschrose. «Im Tanzsaal bediene ich länger nicht», rief sie, die Arme schmeißend.

      «Warum?» schien Anna zu fragen, denn hören konnte man ihre leise Frage von unten nicht.

      «Darum!» wetterte Cathri. Hernach entfuhr es ihr: «Weil es Schweine sind!»

      Der «Pfauen»-Wirt, der dabeistand, lüpfte verächtlich die Schultern, Helene, in der Nähe wirtschaftend, rümpfte spöttisch den Mund, und Anna maß die Bernerin mißtrauisch von oben bis unten. «Es wird wohl noch ein anderer Grund dabei sein», entgegnete sie anzüglich, mit erhobener, langsamer Stimme, damit es der Bruder höre: «Ihr bedientet wohl lieber an einem andern Ort.» Damit blinzelte sie zu ihm herunter.

      «Zwingen kannst du sie nicht», vermittelte Conrad, an die Mauer tretend.

      «Wie soll ich dann einer andern zumuten, was sie verweigert», rief sie gereizt zurück. «So übernimm doch du das Servieren im Tanzsaal!»

      Nun ward er unwillig.

      «Im Tanzsaal serviere ich höchstens mit dem Stock oder mit der Reitpeitsche», rief er.

      Bei diesem unbedachten Spruch rückte der Alte herbei, hart an die Mauer, zornbeladen, mit blutunterlaufenen Augen.

      Die Kellnerinnen ihrerseits hatten sich in die Nähe gezogen, um die Verhandlung aufzufangen, die sie alle anging. Darüber wurden die Gäste aufmerksam, von denen die nächsten sich gierig erhoben, damit sie keine kostbare Silbe des Wortwechsels verlören. Es drohte ein Auflauf, ja, falls der Alte den Mund erschloß, Schimpf und Schande. Denn an seinen Augen konnte man ablesen, was ihm ungefähr unter der Zunge kochte. Gleichzeitig lärmte vom Tanzsaal ein Aufruhr wegen der mangelnden Bedienung. Kurz, es entzündete sich.

      «Wozu ist denn die Brigitte auf der Welt, daß keiner an sie denkt?» schmälte Josephine ablehnend. «Die nimmt es doch, wenn's sein muß, mit dem heiligen Antonius in Person auf, mitsamt seinem Schwein.»

      Kaum vernahm Brigitte die trauten Töne ihres Namens, so begriff sie sofort, daß sie damit gemeint sei, denn sie verstand ihren Namen und ihre Person geschickt aufeinander zu beziehen.

      «Was!» plärrte sie aufgebracht. Es dauerte eine Weile, bis man ihr beigestoßen, worum es sich handle. Dann zuckte sie überlegen die Schultern.

      «Die Wagginger sind so gut Menschen wie andere Leute», erklärte sie entrüstet, mit einem anzüglichen Blick auf Cathri. «Deswegen sind sie noch lange keine Schweine, weil sie zufällig zwei Beine haben, statt vier, wie mancher andere.» Und ohne weiteres stürmte sie mit unternehmender Gebärde die vier Stufen des Treppchens hinan in den Tanzsaal.

      So löste sich die Verwicklung und verteilte sich die Entzündung, indem jedes friedlich auf seinen Platz zurückkehrte, ein bißchen ungern, denn wenn man einmal den Hahn gespannt hat, ist es mühsamer, ihn wieder abzuspannen als ihn loszuschnappen.

      Cathri aber stattete Conrad von ferne eine scherzhafte Verbeugung ab zum Dank für seine Unterstützung. Und sooft ihre Arbeit sie längs der Mauer vorbeiführte, erteilte sie ihm ein unauffälliges Zeichen des Einverständnisses mit Blick oder Gebärde, oder auch einfach durch Räuspern, das sie mittels der vorschützenden Hand in ein kleines, schüchternes, verstohlenes Kußhändchen auszumünden wußte.

      «Anna!»


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