Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler
zu dürfen, wie ein Hund sich an seinem Herrn zu reiben liebt.
Also beharrten sie hinfort voreinander – schweigsam und zufrieden, vergessend und genesend. Sie in seinem Anblick schwelgend, er vor dem Bilde Cathris feiernd, das unbehindert von Jucundens Gegenwart ruhig und deutlich in seinem Gedächtnis leuchtete.
Die Natur tat das Ihrige, um Unruhe zu stillen und Unrast zu bannen. Die Kunst des Lenzes, zu prangen, ohne zu blenden, entfaltete sich nach der langen Regenzeit mit besonderer Kraft. Allüberall strotzte verhaltene Fülle, aus welcher Glut und Schatten gleicherweise Düfte lockten, nur andere. Man roch es wachsen. Eine hochschwebende, schneeweiße Schönwetterwolke schwamm herbei, um gleich einer Insel die Sonne wegzutragen, die Scheibe verhüllend, bloß an den Rändern einen blitzenden Strahlenkranz erlaubend. Darunter saßen sie nun wie unter einem Baldachin oder einem mit farbigen Gazen gedämpften Kronleuchter, kurz, unter etwas Großem, Hohem und Holdem, das sie vereinte und segnete. Sie urteilte offenbar nicht so strenge über die Jucunde wie die Menschen, die Sonne.
Ein paar Dutzend große silberne Tropfen sprühten aus der Wolke herab in weiten Zwischenständen wie durch ein Sieb. Obgleich sie augenblicklich verdunsteten, so daß sie kaum die Erde erreichten, wurden sie doch von sämtlichen Amseln des Tales mit einer verzückten Symphonie empfangen. Mit Wohlgefallen schaute sich Jucunde um: «Jetzt kann man bald mähen.»
«Herr Reber, Ihr verliert ja Euere Sporen!» belehrte der Knecht, der in Gemeinschaft mit der Neuberin aufräumte.
Das erwies sich als richtig. Der rechte Sporn war weg, vermutlich von den Bauern abgetreten; der linke, schiefgedrückt und über die Hälfte eingerissen, hing schlaff über den Absatz. Conrad bückte sich, um ihn vollends abzuknappen. Doch Jucunde kam ihm zuvor, indem sie wie ein Wiesel glittlings unter den Tisch schlüpfte. Oder vielmehr wie ein Murmeltier, denn für ein Wiesel war sie zu fett.
«Halt, das ist meine Sache», wehrte sie unter dem Tisch hervor, «dazu bin ich auf der Welt, Euch zu bedienen.»
Mit einem einzigen Ruck hatte sie den Sporn los, aber in ihrem Handballen klaffte eine häßliche Rißwunde, aus welcher Blut quoll. Erschrocken fuhr er auf und griff nach ihrem Arm. Sie aber entwand sich ihm lachend: «Oh, das ist gar nichts, das heilt in zwei Tagen», scherzte sie, «wenn man nur gesundes Blut hat!» Und da er immer noch bedenklich auf die Wunde starrte, deutete sie auf seinen Stuhl, daß er sich niedersetze. Er gehorchte, wenn auch zögernd. Hernach war alles wieder beim alten, außer daß sie von Zeit zu Zeit mit innigem Entzücken die verletzte Hand betrachtete, als wollte sie rufen: «Das hab' ich von Euch, als Geschenk, zum Andenken, wenn Ihr nicht mehr da seid», und daß er mitunter einen bedauernden Blick zu ihr hinübersandte, wobei sie jedesmal von erneutem Glück aufleuchtete, heiter und lustig.
Benedikt, der Kutscher von daheim aus dem «Pfauen», guckte über den Hag, sich räuspernd.
«Was gibt's schon wieder?» fragte Conrad unwillig.
Benedikt hüstelte: «Ich soll Euch ersuchen», munkelte er, «ob Ihr nicht vielleicht so gut wäret, die Lissi dem Herrn Regierungsrat abzulassen, ausnahmsweise für heute, aus Gefälligkeit. Er hätte schon dreimal am Telephon danach gefragt. Man habe es ihm halt doch eigentlich sozusagen versprochen, wenn auch vielleicht mit Unrecht.»
«Wenn man in anständigem Ton mit mir redet, wenn man mich anfrägt, wenn man mich manierlich darum ersucht, so ist das anderlei», erklärte Conrad. «Wer hat Euch geschickt?»
«Euere Schwester, die Jungfer Reber.»
«So nimm das Rößlein, es steht im Stall. Aber er soll gemach fahren, der Regierungsrat, damit er die Lissi nicht in Schweiß jagt.»
«Ich fahre selber.»
«Dann ist's gut.»
Doch Benedikt rührte sich nicht. «Und noch eins läßt Euch Eure Schwester sagen», meldete er, mit dem Lachen kämpfend. «Ob es nämlich durchaus nötig wäre, daß Ihr mit der Jucunde auf dem Sperrsitz säßet, damit Euch ja die ganze Welt bewundere, oder ob Ihr Euch nicht lieber in eine Galerie zurückziehen möchtet.»
«Durchaus nötig ist's nicht», erwiderte er trocken, «aber angenehm. Übrigens hat der Platz den Vorteil, daß er jeden Vorwand nimmt, auszustreuen, wir täten etwas Heimliches im Verborgenen. Sagt das meiner Schwester und einen freundlichen Gruß dazu. – Wie steht's im ‹Pfauen›? Viele Gäste auf der Terrasse, wie es scheint?»
«Es wimmelt! Man vermißt Euch schmerzlich an allen Ecken. Ja, und daß ich es nicht vergesse, Euer Vater hat darum herumgeredet, es würde Euch wahrscheinlich auch nicht das Leben kosten, wenn Ihr heimkämet und ein bißchen bei der Aufsicht behilflich wäret. Er habe bis dato keinen Menschen aufgefressen und hätte es auch heute nicht im Sinne. Es wäre ja Platz genug vorhanden für zwei.»
«Das hat er gesagt? Der Vater? Zu Euch? Das klingt ja beinahe glimpflich, das heißt, ich meine verhältnismäßig, an ihm selber gemessen.»
«Zu mir, so wie ich dastehe. Die Neue, die Bernerin, die Cathri oder wie sie heißt, hat ihn herumgebracht. Eine Viertelstunde lang hat sie ihm zugesetzt und ihm alle Schimpf und Schande ins Gesicht gesagt, daß unsereiner vor Angst sich hätte verkriechen mögen. Aber er hat alles geduldig über sich ergehen lassen wie ein Schulkind, das der Lehrer abkanzelt. Nur so vor sich hin gemökt dann und wann, wenn es allzu grob hagelte. Bis er sich zuletzt zu dem Versprechen herbeiließ, Euch ein gutes Wort zu geben.»
«Und das soll nun vermutlich das gute Wort vorstellen, die Versicherung, mich nicht auffressen zu wollen?»
Benedikt lachte mit breitem Maul. «Ja, er spendiert sie nicht mit dem Scheffelmaß, Euer Vater, die guten Worte! Er ringt's mühsamer zum Vorschein, ein gutes Wort, als der Armenverein einen Dublonen. Man sollte fast meinen, es erstickt ihn.»
Conrad schwieg nachdenklich. Ihm war, als wäre er die längste Zeit von Hause fort und es müßte inzwischen in seiner Abwesenheit eine Unmenge der wichtigsten Dinge vorgefallen sein, von denen er Nachricht wünschte. «Wißt Ihr zufällig etwas von der Mutter, wie es ihr geht? Ist sie immer noch oben, in der Schlafstube?»
«Man hat sie ins Dorf zur Großmutter getan, damit sie aus dem Geschäft herauskomme, wo sie sich doch nur unnütz selber aufregt und andern Leuten hinderlich ist. Die Bernerin, die Cathri, hat darauf gedrungen.»
«Ein gescheiter Einfall das, der von der Cathri. Wenn etwas Vernünftiges geschieht, so hat doch gewiß sie es angeraten.»
Der Kutscher lachte beifällig. «Ja, das ist eine Resolute. An der ist ein Mannsbild verlorengegangen. Soll ich auch sagen, was sie mir aufgetragen hat? Ich übernehme keine Verantwortlichkeit dafür, ich melde einfach, was ein jeder mir aufträgt. Der eine sagt blau, der andere grün. Ihr sollt Euch lustig machen, läßt sie Euch sagen, und nicht zu früh heimkehren. Es gehe geradesogut ohne Euch und sogar noch viel besser. Jetzt müßt Ihr selber wissen, was Ihr zu tun habt. Mich geht das nichts an, ich mische mich nicht hinein. Also wie steht es jetzt eigentlich? was muß ich daheim ausrichten? kommt Ihr oder kommt Ihr nicht?»
«Ich komme, wenn's Zeit ist», erklärte Conrad ausweichend.
«Und ich gehe denn jetzt also und nehme das Rößlein. Ist es recht so?»
«Es ist recht.» – «Nicht zu früh heimkommen», wiederholte er verstimmt bei sich, nachdem der Kutscher abgetreten war. «Ja, ist ihr persönlich denn gar nichts daran gelegen, ob und wann ich heimkehre?» Und verletzt biß er sich auf die Lippen.
Als er wieder ausschaute, begegnete er den mutlosen Blicken der Jucunde. «Und jetzt geht Ihr also wieder heim?» murmelte sie niedergeschlagen.
Er erstaunte. Wer hatte denn von Heimgehen gesprochen? Sie tat ihm leid. «Nein, ich bleibe noch ein wenig», tröstete er.
Sie aber schüttelte traurig den Kopf. «Ihr geht jetzt heim», wiederholte sie trübsinnig. «Ich spüre es. Und kommt dann nie, nie mehr zu mir. Das ist das erste und letzte Mal gewesen.»
«Niemand kann voraus wissen, ob etwas das letzte Mal gewesen ist.»
«Doch, das kann man voraus wissen.