Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch) - Carl  Spitteler


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Die Kellnerinnen indessen starrten Conrad scheu an, als sähen sie ihn zum ersten Male. Eine Weile standen sie wie festgebannt, dann flüchteten sie jählings auseinander, bis sie allmählich neugierig zurückkehrten, um sich heuchlerisch etwas zu schaffen zu machen, wobei sie bald ängstlich nach dem Hause lauerten, bald verstohlen den Blick zu Conrad erhoben. So oft eine bei ihm vorbei mußte, wich sie ihm in einem großen Bogen aus.

      «Jetzt aber beißt die Zähne zusammen, Herr Reber», warnte Cathri aufgeräumt, «Ihr könnt Euch auf ein Donnerwetter gefaßt machen.»

      Zuerst hatte es nicht den Anschein, als ob sich die Weissagung erfüllen sollte, so daß die Kellnerinnen nach und nach Mut schöpften und, ihre Furcht abstreitend, das Erlebnis ins Komische kehrten.

      «Es hat ihm gehört, dem pressiert's ein andermal schneller.»

      Josephine hob die Portiermütze vom Boden, schlug sie vom Staub rein, stülpte sie sich als Siegeszeichen auf den Kopf und parodierte damit herum.

      Da klappte das Wohnstubenfenster auf, und der Kopf des Vaters erschien darin, nach Conrad gerichtet. «Es scheint, du verlangst, daß man dir noch die Rute verabfolge wie einem kleinen Kinde», schrie er.

      Conrad schnellte auf den Absätzen herum. «Es soll das ein einziger Mensch auf der ganzen Welt versuchen», schrie er zurück, mit einer Stimme, die über die Dächer schallte.

      Siehe, da bewegten sich in der Schlafstube der Mutter die Vorhänge. Das wirkte auf ihn wie ein Mirakel, so daß er sich augenblicklich bezwang. Der Vater seinerseits, nachdem er umsonst auf eine Herausforderung gewartet hatte, zog endlich langsam den Kopf wieder einwärts. Das Klappfenster schloß sich geräuschvoll, dann ward alles wieder stumm.

      Cathri aber machte sich an Conrad heran. «Im Ernst, Herr Reber», redete sie ihm zu, «ich wiederhole es zum drittenmal: flieht!»

      «Jetzt nicht mehr», knirschte er. «Jetzt erst recht nicht. Fliehen? Nein, fliehen, das ist nicht meine Art.»

      Helene warf ihm im Vorübergehen heimlich das Wort zu: «Herr Reber, der Kutscher läßt Euch melden, ob Ihr auch wüßtet, daß er die Lissi für den Herrn Regierungsrat Lauterbach anspannen müsse? Aber Ihr möchtet ihn doch ja um Gottes willen nicht verraten, daß er's Euch verraten hat.»

      «Was? Die Lissi?» brauste er auf «Ich glaube, Ihr redet im Fieber. Es hat bisher noch niemand gewagt, über die Lissi ohne meine ausdrückliche Einwilligung zu verfügen.»

      «So schaut selber nach», erwiderte sie gedämpft. «Sie steht vor dem Haus, schüttelt den Kopf und scharrt mit den Füßen.»

      «Das möchte ich denn doch erst mit meinen eigenen Augen bewahrheiten, ehe ich es glaube», rief er mit rollenden Augen und machte sich eilends auf, trotzig und entschlossen.

      Richtig, da stand sein Rößlein leibhaftig zwischen den Landern, vor dem Einspänner, munter und wohlgemut, mit den Füßen scharrend und die Gebißstange kauend, daß der Schaum spritzte, und glotzte ihn unverschämt an, die treulose, als wäre alles richtig und in Ordnung.

      «Benedikt», forschte er strenge, «wer hat Euch geheißen, die Lissi anspannen?»

      «Euer Vater, der ‹Pfauen›-Wirt selber.»

      «Gut. So spannt das Rößlein wieder aus und sattelt es. Ich will ausreiten.»

      «Euer Vater ist mein Meister, und Ihr seid ebenfalls mein Meister. Ich habe nichts als einfach zu gehorchen. Befiehlt man mir anzuspannen, so spanne ich an, befiehlt man mir wieder auszuspannen, so spanne ich wieder aus. Aber wohlverstanden: die Verantwortung übernehme ich nicht, ich berufe mich auf Euch.»

      «Selbstverständlich. Also ich gehe jetzt die Sporen und Reithosen anziehen. Ihr sorgt dafür, daß gesattelt ist, wenn ich zurückkomme.»

      «Das wird bald richtig sein – vorausgesetzt, daß kein Hindernis dazwischentritt.»

      Conrad faßte ihn scharf ins Auge: «Wenn ich etwas befohlen habe», bedeutete er nachdrücklich, «so tritt kein Hindernis dazwischen. Die Lissi ist mein. Ich habe sie gekauft, aus meinen langjährigen Ersparnissen; deshalb habe ich über sie zu verfügen und niemand anders.» Dann liebkoste er einen Augenblick seinen Gaul, gewohnheitshalber, ihm die Nase klemmend. Hierauf begab er sich ins Haus.

      Im Hausgang versperrte ihm der Vater den Weg mit seinem massigen Körper, der zu beiden Seiten beinahe die Wand berührte.

      «Verzeih, Vater», heischte Conrad höflich, doch bestimmt, «sei so gut und laß mich durch.» Damit drückte er sich behutsam an ihm vorüber.

      «Wohin?» schnob ihn der Alte an, als er vorbei war.

      «Ausreiten!»

      «Du reitest nicht aus!» brüllte er ihm nach.

      «Ich reite aus.» Und eilte die Treppe hinauf nach dem zweiten Stock in seine Mansardenkammer, verriegelte die Tür und zog sich gemächlich um, ohne sich im mindesten zu sputen. Knappe Lederhosen, gespornte Wadenstiefel, Samtwams und eine dunkelblaue Halsbinde, die er kunstgerecht zu einer losen Schleife schürzte. Hierauf prüfte er sich oberflächlich im Spiegel, ob er bestehe, ob nichts mangle und nichts gebreche, ringelte sein kleines Schnäuzchen, damit es keck in die Welt schaue, und stolzierte dann mit schallendem Gesang über die Schwelle. Denn der flotte, saubere Reiterstaat hatte ihm Leibesmut und Lebenslust aufgefrischt.

      Vor der Mansardentür empfing ihn seine Schwester mit Schmeicheln und Bitten. «Conrad», flehte sie, «treib's nicht zum Äußersten. Tu's mir zuliebe. Was verschlägt es dir, ob du heute ausreitest oder ein anderes Mal?»

      «Mich wundert's im Gegenteil», entgegnete er hitzig, «daß ich's von jemand anderen als von dir erfahren muß, wenn man mir heimtückisch die Lissi entzieht. Oder hältst du's vielleicht jetzt auch schon mit dem Vater?» Und während er sprach, schob er sie mit schonender Hand hurtig beiseite.

      «Und der Herr Regierungsrat, der auf die Lissi wartet und dem man sie versprochen hat!» wandte sie vorwurfsvoll ein.

      «Versprochen? Es kommt darauf an, wer. Ich nicht. Übrigens tut der Bläß oder der Scheck oder der Kohli genau denselben Dienst. Man braucht nicht aus lauter Bosheit, eigens mir zuleide, gerade die Lissi zu wählen.»

      «Gelt!» versetzte sie beleidigt, «wenn dich Cathri darum gebeten hätte, du hättest gleich nachgegeben!»

      «Und die Handschuhe!» rief sie ihm nach, «die Handschuhe! Du wirst doch nicht ohne Handschuhe ausreiten wollen!»

      Im mittleren Stock zitterte die Mutter unter der Schlafstubentür: «Willst du mich vollends unter die Erde bringen?» hauchte sie.

      «O nein», erwiderte er kalt, indem er vorüberschritt, «bloß selber ein bißchen leben, nachdem ich doch einmal auf der Welt bin, und nicht durch meine Schuld. Das heißt, vorausgesetzt, daß man das überhaupt noch ein Leben nennen kann, wenn man einem jede Lebenslust verleidet, jede Freude verdirbt, jedes Lachen, jede freie Bewegung, jedes harmlose Wort zum Verbrechen stempelt.»

      Auf dem Weg nach dem Telephonstübchen, wo er die Reitpeitsche hangen hatte, hörte er den Vater in der Wohnstube toben. «Ich bring' ihn um. Ich schlage ihn tot wie einen tollen Hund.»

      «Das gäbe eine Beschäftigung für den Staatsanwalt», rief Conrad.

      Ob er schon wußte, daß der Vater das Wort nicht vernehmen konnte, gewährte es ihm doch Genugtuung, es laut zu rufen.

      Wie er nach Behändigung der Reitpeitsche sporenklirrend auf den Platz trat, der Lissi entgegen, welche, vom Kutscher gehalten, gesattelt und gezäumt bereitstand, folgten ihm unbeholfene, schlurfende Schritte, ein Schatten überholte ihn, er hörte einen mühseligen Atem röcheln, und mit einem schnellen Seitenblick erkannte er den Vater, mit einer Geißel bewaffnet, aber verkehrt, den Griff nach oben, die Faust um die Mitte des Stockes geklammert.

      Da musterte er mit absichtlicher Umständlichkeit Zügel und Bügel, untersuchte das Gebiß und prüfte mit untergeschobener Flachhand den Sattelgurt, beobachtete jedoch bei alledem jede Bewegung des Vaters. «Den Sattelriemen eine Nummer fester


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