Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler
Plötzlich, wie er neben dem Pintengärtchen anlangte, beim Anblick der roten Kastaniensträuße über der bräunlichen Thujahecke, beizte ihm die großäugige Jucunde, die er hier geschaut hatte, wie gewürzter Speisebrodem in die Vorstellung. Zwar, man mied sonst die Stationswirtschaft, der Jucunde wegen; und er nicht minder als jeder andere, ebenfalls der Jucunde wegen. Doch heute beherrschte ihn einmal der Trotz, so daß er, was sich ihm als verboten aufspielte, um so nachdrücklicher tun mußte.
Er schwenkte also vor die Schenke mit dem bestimmten Vorsatz, jeden, der ihm das später aufmutzen wollte, derb abzufertigen, sprang ab und übergab das Pferd dem beflissen herbeistoffelnden Knecht: «Führt das Tierchen in den Stall», gebot er; «und daß Ihr's keinem andern Menschen ausliefert, wer es auch sei. Verstanden?»
Schmunzelnd trippelte die Neuberin herbei, mit überschwenglichen Freudenbezeugungen ihn bewillkommnend, ein breitspuriges Gerede von unverhoffter Ehre anhebend.
«Und so weiter, trallala!» unterbrach er sie.
«Jucunde!» belferte sie freudig in den Hausgang, «Jucunde, rate einmal, wer uns die Ehre schenkt! – Die wird die Augen aufsperren! Wenn Ihr nur wüßtet, wie sie Euch nachschaut im geheimen, jedesmal, wenn Ihr vorbereitet! Das einfältige Affending, als ob das jemals zusammenpaßte, der stolze Herrensohn aus dem ‹Pfauen› und die verachtete Jucunde von der Station! Jucunde! Jucunde! Wo hast du nur deine Ohren?!» Einstweilen nahm sie das Büblein vom Boden auf, das ihr an der Schürze hing. «Siehst du, das ist jetzt der schöne Herr, der mit dem Rößlein über den Balken sprang. Betrachte ihn genau, denn wer weiß, wie lange es währt, bis du wieder einmal das Glück hast, ihn von so nahem zu sehen. – Er heißt auch Conrad, wie Ihr», fügte sie zu seiner Empfehlung hinzu.
«Ein hübsches Büblein», geruhte er leutselig. «Und was für prächtige Samtaugen es hat! Wem gehört es? Es gleicht fast ein wenig der Jucunde.
Die Wirtin verzog ein Schalksgesicht, verlegen, pfiffig und belustigt. «Es gleicht ihr leider nur allzusehr», platzte sie endlich lachend heraus.
Inzwischen bequemte sich Jucunde selber heran, weich und schwer, mit berufsmäßiger Wohldienermiene. Sobald sie aber den «Pfauen»-Wirtssohn erkannte, blieb sie mit sperroffenem Munde stehen, und zwei große Tränen rollten ihr über die Backen.
«So sei doch manierlich, du alberne Wachtel», schalt die Neuberin. «So grüß doch den Herrn Reber, so führ ihn ins Gärtchen und zeig ihm den Weg.»
Jetzt strahlte Jucunde mit der ganzen Breite ihres gutmütigen Gesichts und schritt voraus ins Gärtchen, beständig sich umschauend, ob er auch wirklich leibhaft folge. Und da ihr immer neue Tränen nachrieselten, wischte sie lachend den Arm über Mund und Nase.
«Ihr müßt nichts für ungut nehmen, Herr Reber», entschuldigte sie sich, «ich bin halt ein gar unglaublich einfältiges Geschöpf. Wollt Ihr im Hüttchen Platz nehmen? oder in der Laube? oder vielleicht dort in der Ecke unter dem Kastanienbaum?» Dabei scheuchte sie händeklatschend ein Huhn weg, das auf einem der Tische lustwandelte.
Er wählte die freie Mitte, wo der Kastanienbaum noch knapp mit seinem Schatten reichte und wo er zugleich den «Pfauen» im Auge hatte, der vom Hügel herunterschaute wie eine Burg von einer Schanze.
«Roten oder Weißen?» fragte Jucunde glückselig. «Roten wahrscheinlich.»
Und da er gleichgültig nickte, eilte sie dienstfertig von hinnen.
Er aber dehnte die Glieder und führte die Augen spazieren: Etliche Gäste, Stück sieben oder acht ungefähr, kauerten gelangweilt im Gärtchen. Neue sickerten herbei, teils vom Gartenpförtchen, teils vom Hausgang. Das Bahngeleise war geräumt. Demnach mußte der zweite Zug mittlerweile gleichfalls ausgefahren sein. Von der Station wallte in dichten Scharen Stadtvolk und Landvolk ameisengleich den Rain hinauf, dem «Pfauen» entgegen, offenbar den beiden Zügen entstiegen. Die Mehrzahl steuerte zur Linken die Kirschenallee hinan, andere quer durch die Wiese, auf dem Fußpfad, vereinzelte wenige auch rechts auf dem Karrenweg längs dem Rebberg. Eine Musikbande war darunter, die Instrumente, sorgsam in grüne Zeugfutterale gehüllt, unter dem Arm.
Wirklich, eine vorteilhaftere Aussicht auf den «Pfauen» ließ sich nicht denken. Wie auf einem Teller lag er vor ihm, majestätisch auf vorragender Höhe, stattlich in seiner weitläufigen Breite: links der Gasthof, in der Mitte die gemauerte Terrasse mit den kugelrunden Akazienbäumchen in Reih und Glied, die freilich um diese Jahreszeit noch gar dürftig belaubt waren, hinter der Terrasse der Tanzsaal, endlich zur Rechten, wo die Terrassenmauer auslief, der Holzschuppen und die Kegelbahn. Den luftigen Zwischenraum kreuzten Schwalben, steigend und fallend wie Steinwürfe, hoch oben in der Himmelskrone schwammen leichte Flockenwölklein.
Allein das alles sah er nur so beiläufig, weil er es schlechterdings nicht übersehen konnte. Etwas anderes suchte sein Blick dort oben, jemand, nach welchem sein Haß begehrte, und da der Blick nicht reichte – denn der Abstand war zu weit –, erreichten ihn seine Gedanken.
Also wirklich schlagen, mit dem Peitschenstock über den Kopf schlagen hatte er ihn wollen, der Unhold!
Bei dieser Erinnerung stieß seine Faust den Tisch heftig von sich, daß er torkelte. Beschämt rückte er ihn wieder zur Stelle. Nein, verbesserte er sich, vergriffen, an dem Vater vergriffen hätte er sich doch nicht; trotz allem; soweit kannte er sich immerhin noch selber. – Freilich, zur Notwehr, im Jähzorn, wenn der Schimpf brannte und die Wunde biß! – Und wofür? Bitte wofür? Was hatte er denn verbrochen? Es sollte doch ein einziger Mensch kommen und ihm sagen, was er Unrechtes getan hatte!
Seine Augen rollten, und seine Finger krampften sich, während er einen Falkenblick nach dem Gasthof schickte. Mit gekniffenen Brauen brütete er dann eine Weile geistesabwesend vor sich hin. «Mörder!» knirschte er unversehens. Und wie berauscht von dem blutigen Klang wiederholte er das Wort immer von neuem, zuerst in längern, dann in kürzeren Pausen. Endlich, beim sechsten Male, sprangen alle Fesseln der Gedanken. Unbedenklich stieß er jetzt mit glühendem Wunsche den Vater in die Grube wie mit einem Dolche. – Darauf seufzte er erleichtert. Welche Erlösung! Kein Zank, kein Verdruß mehr. Herr in Haus und Hof und Feld, geachtet und geehrt, geschätzt und gefürchtet. Niemand, der sich fortan unterstehen wird, ihm einen Verweis zu erteilen. Was ihm belieben wird, wird er befehlen, und was er befehlen wird, wird geschehen!
Und gierig ergriffen nun seine Blicke Besitz von dem väterlichen Eigentum, Stück um Stück, Acker für Acker, Baum für Baum, jubelnd und grimmig, wie der Habicht, der die Faust um die Lerche krallt.
Aber von dem Anschauen des farbenstrotzenden Hügels geriet er allmählich ins Sinnen und vom Sinnen ins Träumen. Ein Bild stieg vor ihm auf. Eine Festhütte unten am Hügel in der Au, worin er die gesamte Mannschaft seiner Batterie freihielt, Offiziere und Gemeine, und zwar großartig, mit einem ausgesuchten Essen, wie man noch keines im Lande erlebte, mit der Konstanzer Musik dazu und Überraschungen für die Offiziere beim Nachtisch und Geschenken für die Soldaten, daß es für jeden einzelnen zeitlebens eine Erinnerung bleiben sollte. Das Bild bestand längere Zeit, deutlich und klar. Dann begann es zu schwanken, und ein anderes trat hervor: An der Stelle, wo gegenwärtig der alte häßliche Tanzsaal sich breitmachte, baute er ein Häuschen, nur ganz bescheiden in Riegelfachwerk, kein «Stil» und Balkone und Badezimmer und Zentralheizung, aber freundlich und wohnlich, mit frohmütigen Zimmern, mindestens drei Meter hoch, und einer geräumigen taghellen Küche, und Wandschränken, soviel nur angingen, und einer breiten, bequemen Laube, damit man im Freien essen kann. Maurer standen auf den Gerüsten, anstellige Welsche aus dem untern Tessin, singend wie die Lerchen, vom Morgen bis zum Abend. Unten hantierten die Maler an den grünen Fensterläden, Wasserdeutsche aus dem Norden in Jägersamt und Schlapphüten – er meinte, er röche die Farbe. Anna guckte ihm über die linke Schulter, der Doktor über die rechte. «Was in aller Welt baust du denn eigentlich da?» knurrte der Doktor in seiner überlegenen Besserwisserei. Denn, seine Wissenschaft in Ehren, und durchaus nicht das mindeste gegen den zukünftigen Schwager, aber sonderlich begabt war er nun einmal nicht, der Doktor, das hätte er selber zugestehen müssen, wenn er nicht ein bißchen zu beschränkt dazu gewesen wäre. Und die Schwester antwortete aus ihren schönen klugen Augen: «Jedenfalls etwas Unpraktisches.»