Die bekanntesten Werke von Tschechow. Anton Pawlowitsch Tschechow
sofort erkennend und mir die Hand gebend. »Ich freue mich, Sie wiederzusehen.«
Sie lächelte und betrachtete etwas neugierig und verdutzt meine Arbeitsbluse, den Eimer mit dem Kleister und die auf dem Fußboden ausgebreiteten Tapeten; ich wurde verlegen, und auch sie fühlte sich wohl geniert.
»Entschuldigen Sie, daß ich Sie so anschaue,« sagte sie. »Man hat mir von Ihnen viel erzählt. Ganz besondere der Doktor Blagowo, – er ist einfach verliebt in Sie! Ich habe auch schon Ihre Schwester kennen gelernt; sie ist ein liebes, sympathisches Mädchen, aber ich konnte sie unmöglich davon überzeugen, daß in Ihrer Wandlung nichts Schreckliches ist. Im Gegenteil, Sie sind jetzt der interessanteste Mensch in dieser Stadt.«
Sie warf wieder einen Blick auf den Eimer mit dem Kleister und auf die Tapeten und fuhr fort:
»Ich habe Doktor Blagowo gebeten, mich mit Ihnen näher bekannt zu machen, er hat es aber offenbar vergessen, oder keine Zeit dazu gehabt. Wie dem auch sei, wir sind ja schon bekannt, und wenn Sie einmal ganz ungezwungen zu mir kommen wollten, wäre ich Ihnen sehr verbunden. Ich möchte so gerne mit Ihnen sprechen! Ich bin ein einfacher Mensch,« sagte sie und gab mir die Hand, »und ich hoffe, Sie werden sich bei mir recht unbefangen fühlen. Mein Vater ist nicht hier, er ist in Petersburg.«
Sie ging, mit dem Kleide rauschend, ins Lesezimmer, ich aber konnte zu Hause lange nicht einschlafen.
Im gleichen traurigen Herbst schickte mir irgendeine gute Seele, die mir anscheinend das Leben erleichtern wollte, bald etwas Tee und Zitronen, bald Gebäck und bald gebratene Rebhühner. Karpowna sagte, daß die Sachen ein Soldat bringe, aber von wem, das wisse sie nicht; der Soldat erkundigte sich aber jedesmal, ob ich gesund sei, ob ich jeden Tag zu Mittag esse und ob ich warme Kleidung habe. Als die Fröste begannen, brachte mir der gleiche Soldat einmal in meiner Abwesenheit ein gestricktes, weiches Halstuch, dem ein zarter Duft entströmte, und ich erriet sofort, wer die gute Fee war. Das Halstuch roch nach Maiglöckchen, dem Lieblingsparfüm Anjuta Blagowos.
Im Winter gab es wieder mehr zu tun, und meine Stimmung wurde lustiger. Rettich war wieder vom Tode auferstanden, und wir arbeiteten zusammen in der Friedhofskirche, wo wir die Heiligenwand vor dem Vergolden zu grundieren hatten. Das war eine ruhige, saubere und angenehme Arbeit. An einem Tage konnte man viel fertigbringen, und die Zeit verging unmerklich schnell. Dabei wurde weder geflucht, noch gelacht, noch laut gesprochen. Der Ort selbst verpflichtete zu einem wohlanständigen Benehmen und zu stillen und ernsten Gedanken. In unsere Arbeit versunken, standen und saßen wir unbeweglich wie die Statuen; es herrschte eine Totenstille, wie sie einer Friedhofskirche entspricht, und wenn irgendein Werkzeug hinfiel, oder die Flamme in einem der Lämpchen knisterte, hallten diese Töne ungemein laut, und wir sahen uns alle um. Manchmal erklang in der Stille ein Summen, wie wenn Bienen schwärmten: Priester segneten vor dem Altare eine Kinderleiche ein, oder der Maler, der in der Kuppel eine von Sternen umgebene Taube malte, fing leise zu pfeifen an und hörte erschrocken sofort wieder auf; oder Rettich antwortete mit einem Seufzer auf seine eigenen Gedanken: »Alles ist möglich! Alles ist möglich!«; oder über unseren Köpfen ertönte ein abgemessenes, dumpfes Glockengeläute, und die Maler machten gleich die Bemerkung, daß es wohl eine reiche Leiche sei, die man zu Grabe trage ....
Die Tage verbrachte ich in dieser Stille, im Dämmer der Kirche, an den langen Abenden aber spielte ich Billard oder ging ins Theater auf die Galerie in meinem neuen Trikotanzug, den ich mir für das verdiente Geld gekauft hatte. Bei den Aschogins hatten schon die Liebhaberaufführungen und Konzerte begonnen; die Dekorationen malte jetzt Rettich allein. Er erzählte mir den Inhalt der Stücke und der lebenden Bilder, die er zu sehen bekam, und ich hörte ihm ganz neidisch zu. Es zog mich sehr zu den Proben, doch ich konnte mich nicht entschließen, zu den Aschogins zu gehen.
Eine Woche vor Weihnachten kam Doktor Blagowo zurück. Wir debattierten wieder viel miteinander und spielten an den Abenden Billard. Beim Spielen zog er sich immer den Rock aus, knöpfte das Hemd auf der Brust auf und gab sich überhaupt jede Mühe, wie ein fürchterlicher Bummler auszusehen. Er trank wenig, machte aber großen Lärm und brachte es fertig, selbst in so gemeinen Lokalen wie in der »Wolga« zwanzig Rubel an einem Abend auszugeben.
Nun kam meine Schwester wieder zu mir; so oft sie sich bei mir trafen, taten sie sehr erstaunt, aber ihrem freudestrahlenden, schuldbewußten Gesicht konnte ich ansehen, daß diese Begegnungen keine zufälligen waren. Eines Abends beim Billardspiel sagte der Doktor zu mir:
»Hören Sie mal, warum besuchen Sie nie die Dolschikow? Sie kennen Maria Viktorowna nicht, sie ist aber klug und sehr nett, eine einfache, gute Seele.«
Ich erzählte ihm, wie der Ingenieur mich im Frühjahr empfangen hatte.
»Unsinn!« lachte er. »Der Ingenieur ist Ingenieur, und sie ist ganz für sich. Nein, wirklich, mein Bester, Sie dürfen sie nicht kränken, besuchen Sie sie doch einmal. Wollen wir z.B. morgen abend zusammen zu ihr gehen. Gut?«
Er überredete mich. Am andern Abend zog ich meinen neuen Trikotanzug an und begab mich in großer Erregung zu der Dolschikow. Der Diener erschien mir jetzt weniger hochmütig und schrecklich, und die Ausstattung weniger prunkvoll als an jenem Morgen, wo ich hier als Bittsteller erschienen war. Maria Viktorowna erwartete mich und begrüßte mich wie einen alten Bekannten mit kräftigem Händedruck. Sie trug ein graues Tuchkleid mit weiten Aermeln und eine Frisur, die man bei uns, als sie ein Jahr später in Mode kam, »Hundeohren« nannte. Die Haare waren von den Schläfen über die Ohren gekämmt; das machte Maria Viktorownas Gesicht etwas breiter, und sie erschien mir diesmal ihrem Vater ähnlich, dessen breites Gesicht mit den roten Backen etwas von einem Spielzeugkutscher hatte. Sie war hübsch und graziös, sah aber nicht sehr jugendlich, etwa dreißigjährig aus, während sie in Wirklichkeit noch keine fünfundzwanzig war.
»Der liebe Doktor, wie bin ich ihm dankbar!« sagte sie, mir einen Stuhl anbietend. »Ohne ihn wären Sie doch nicht gekommen. Ich langweile mich zu Tode! Mein Vater ist fort, hat mich hier allein gelassen, und ich weiß gar nicht, was ich in dieser Stadt anfangen soll.«
Dann fragte sie mich, wo ich jetzt arbeite, wieviel ich verdiene und wo ich wohne.
»Sie leben doch nur davon, was Sie selbst verdienen?« fragte sie mich.
»Ja.«
»Sie glücklicher Mensch!« seufzte sie. »Alles Uebel kommt, glaube ich, vom Müßiggang, von Langweile, von seelischer Leere, und das alles ist unvermeidlich, wenn man gewohnt ist, auf fremde Kosten zu leben. Glauben Sie nur nicht, daß ich mich interessant machen will, ich sage ee Ihnen ganz aufrichtig: es ist furchtbar langweilig und unangenehm, reich zu sein. Schließlich ist auch jeder Reichtum unrecht erworben.«
Sie streifte mit einem kalten, ernsten Blick die Möbel, als wollte sie sie zählen und fuhr fort:
»Im Komfort und den sonstigen Bequemlichkeiten steckt irgendein Zauber: sie ziehen selbst einen willensstarken Menschen allmählich herein. Vater und ich lebten einst ärmlich und einfach, und nun sehen Sie, wie wir jetzt leben. Es ist doch wirklich unerhört,« sie zuckte die Achseln, »wir verleben an die zwanzigtausend Rubel im Jahre! Und das in der Provinz!«
»Den Komfort und die Bequemlichkeiten muß man als ein unvermeidliches Privileg des Kapitals und der Bildung ansehen,« sagte ich, »und ich glaube, daß man diese Bequemlichkeiten mit jeder beliebigen, selbst der schwersten und schmutzigsten Arbeit wohl vereinbaren kann. Ihr Vater ist reich, und doch hat er einst als Maschinist und als einfacher Wagenschmierer gearbeitet.«
Sie lächelte und schüttelte zweifelnd den Kopf.
»Papa ißt zuweilen auch Schwarzbrotbrei mit Kwaß,« sagte sie. »Das ist ja nur eine Laune, eine Spielerei!«
In diesem Augenblick ertönte die Klingel, und sie erhob sich.
»Die Gebildeten und die Reichen müssen ebenso arbeiten wie alle,« fuhr sie fort, »und wenn es schon einen Komfort gibt, so soll er für alle gleich sein. Es darf keine Privilegien geben! Aber lassen wir das Philosophieren. Erzählen Sie mir lieber etwas Lustiges, erzählen Sie von den Malern. Was sind das für Menschen? Sind sie sehr komisch?«
Nun kam der Doktor. Ich begann von den Malern zu erzählen. Mir fehlte