Die bekanntesten Werke von Tschechow. Anton Pawlowitsch Tschechow
besten. Er mimte einen Betrunkenen, schwankte, weinte, stellte sich auf die Knie und legte sich sogar auf den Boden. Es war echtes Theaterspiel, und Maria Viktorowna lachte, daß ihr die Tränen kamen. Dann spielte er Klavier und sang mit seiner angenehmen hohen Tenorstimme, und Maria Viktorowna stand neben ihm, wählte ihm die Noten aus und korrigierte, wenn er Fehler machte.
»Ich hörte, Sie singen auch?« fragte ich.
»Auch!« rief der Doktor entsetzt. »Sie ist eine ganz wunderbare Sängerin, eine Künstlerin, und Sie sagen: ›auch‹, was fällt Ihnen ein ...«
»Ich gab mich damit einmal ernsthaft ab,« antwortete sie auf meine Frage, »jetzt hab ich's aber vernachlässigt.«
Auf einem niedrigen Schemel hockend, erzählte sie uns von ihrem Leben in Petersburg, imitierte verschiedene berühmte Sänger und zeigte, wie sie singen; sie zeichnete in einem Album den Doktor und dann mich, sie zeichnete schlecht, aber die Bilder wurden ähnlich. Sie lachte, tollte, machte Grimassen, und das stand ihr viel besser zu Gesicht als alle die Gespräche vom unrecht erworbenen Reichtum, und ich hatte nun den Eindruck, daß sie, als sie mit mir vorhin vom Reichtum und Komfort gesprochen, es gar nicht ernst gemeint, sondern ebenfalls jemanden imitiert habe. Sie war eine ganz hervorragende Schauspielerin für komische Rollen. Ich verglich sie in Gedanken mit allen unsern jungen Mädchen, und selbst die hübsche, solide Anjuta Blagowo hielt den Vergleich mit ihr nicht aus; der Unterschied war ebenso groß wie zwischen einer schönen kultivierten Rose und einer Heckenrose.
Wir aßen zu dritt zu Abend. Der Doktor und Maria Viktorowna tranken Rotwein, Champagner und Kaffee mit Kognak; sie stießen an auf die Freundschaft, den Verstand, den Fortschritt und die Freiheit und wurden nicht berauscht. Sie waren nur rot geworden und lachten oft ohne jeden Grund, so daß ihnen die Tränen die Wangen herunterliefen. Um nicht als langweiliger Mensch zu erscheinen, trank ich auch Rotwein.
»Talentierte, reich begabte Naturen«, sagte die Dolschikowa, »wissen, wie sie zu leben haben, und gehen ihren Weg; mittelmäßige Menschen aber, wie z.B. ich, wissen nichts und können nichts; ihnen bleibt nichts anderes übrig, als irgendeine tiefe allgemeine Bewegung zu finden und mit dem Strome mitzuschwimmen.«
»Kann man denn etwas finden, was es nicht gibt?« fragte der Doktor.
»Es gibt wobl Bewegungen, wir sehen sie nur nicht.«
»Glauben Sie? Alle diese Bewegungen hat die neue Literatur erfunden. In Wirklichkeit gibt es sie bei uns nicht.«
Es entspann sich ein Streit.
»Es gibt bei uns gar keine tiefen allgemeinen Bewegungen,« sagte der Doktor, »und hat auch niemals welche gegeben. Was die neue Literatur nicht alles erfunden hat! Sie hat ja auch den intellektuellen Pionier auf dem Lande erfunden; Sie können aber alle Dörfer absuchen und werden keinen einzigen finden; höchstens einen rohen Kerl in städtischer Kleidung, der kaum des Schreibens mächtig ist. Das Kulturleben hat bei uns noch nicht angefangen. Dieselbe Wildheit, derselbe Sklavensinn wie vor fünfhundert Jahren. Bewegungen, Strömungen, – ja die gibt es wohl, aber sie sind seicht und kläglich und stets mit irgendwelchen Pfenniginteressen verbunden, – kann man denn darin etwas Ernstes sehen? Wenn Sie eine so tiefe Bewegung in der Gesellschaft gefunden zu haben glauben, der Sie folgen werden, um Ihr Leben irgendwelchen Aufgaben im modernen Geschmack, wie der Befreiung der Insekten von Sklaverei oder der Abstinenz vonn Fleischgenuß zu widmen, so gratuliere ich Ihnen, meine Gnädigste! Wir müssen lernen, lernen und lernen, mit den tiefen allgemeinen Bewegungen wollen wir aber noch warten: dazu sind wir noch nicht reif und verstehen auch, aufrichtig gesagt, gar nichts davon.«
»Sie verstehen es nicht, aber ich!« sagte Maria Viktorowna. »Sie sind heute, weiß Gott, wie langweilig!«
»Unsere Sache ist es, zu lernen und möglichst viel Wissen zu sammeln, denn die ernsthaften Strömungen sind nur dort, wo Wissen ist, und im Wissen liegt das Glück der künftigen Menschheit. Ich trinke auf die Wissenschaft!«
»Eines steht fest: man muß das Leben irgendwie anders einrichten,« sagte Maria Viktorowna nach einigem Nachdenken. »Das bisherige Leben ist nichts wert. Wir wollen davon lieber gar nicht reden.«
Als wir von ihr fortgingen, schlug es vom Domturm zwei Uhr.
»Hat sie Ihnen gefallen?« fragte der Doktor. »Sie ist doch sehr nett, nicht wahr?«
Am ersten Weihnachtsfeiertage aßen wir bei Maria Viklorowna zu Mittag und besuchten sie während der Ferien jeden Tag. Außer uns verkehrte niemand bei ihr, und sie hatte recht, wenn sie sagte, daß sie außer mir und dem Doklor keine Bekannten in der Stadt hätte. Wir vertrieben uns die Zeit meistens mit Gesprächen; der Doktor brachte manchmal ein Buch oder eine Zeitschrift mit und las uns etwas vor. Eigentlich war er der erste gebildete Mensch, der mir im Leben begegnete. Ich kann nicht beurteilen, ob er viel wußte, aber er zeigte bei jeder Gelegenheit seine Kenntnisse, die er auch den anderen mitteilen wollte. Wenn er von der Medizin sprach, glich er keinem unserer städtischen Aerzte, sondern machte einen ganz neuen, eigenen Eindruck, und ich glaubte, daß er, wenn er wollte, ein echter Gelehrter werden könnte. Er war wohl der einzige Mensch, der um jene Zeit einen ernsten Einfluß auf mich ausübte. Nach den Gesprächen mit ihm und nach der Lektüre der Bücher, die er mir, zu lesen gab, begann ich allmählich ein Bedürfnis nach einem Wissen zu spüren, welches meinem eintönigen Arbeitsleben einen geistigen Inhalt geben könnte. Mir kam es schon sonderbar vor, daß ich bisher nicht gewußt hatte, daß die ganze Welt aus sechzig einfachen Körpern besteht, daß ich keine Ahnung gehabt hatte, was Firnis ist, was die Farben sind, und ich wunderte mich selbst, wie ich mich ohne diese Kenntnisse habe behelfen können. Der Verkehr mit dem Doktor hob mich auch moralisch. Ich debattierte oft mit ihm, und obwohl ich meistens bei meiner eigenen Meinung blieb, sah ich doch allmählich ein, daß mir nicht alles klar war, und ich bemühte mich, möglichst bestimmte Überzeugungen zu gewinnen, damit auch die Stimme meines Gewissens bestimmt und eindeutig sei. Trotz alledem war aber dieser gebildetste und beste Mensch unserer Stadt von der Vollkommenheit recht weit entfernt. In seinen Manieren, in seiner Angewohnheit, aus jedem Gespräch einen Streit zu machen, in seiner angenehmen Tenorstimme und selbst in seiner Freundlichkeit steckte etwas Ungehobeltes, Grobes, und wenn er seinen Rock auszog und im Seidenhemde blieb, oder wenn er dem Kellner im Gasthause ein Trinkgeld hinwarf, hatte ich jedesmal den Eindruck, daß in ihm trotz aller Kultur noch viel Tatarisches stecke.
Am Dreikönigstag reiste er wieder nach Petersburg. Er war morgens abgefahren, und am Nachmittag kam meine Schwester zu mir. Ohne Pelz und Hut abzulegen, saß sie schweigend und sehr blaß da und starrte auf einen Punkt. Sie fröstelte und tat sich sichtlich einen Zwang an.
»Du hast dich wahrscheinlich erkältet,« sagte ich.
Ihre Augen füllten sich mit Tranen, sie stand auf und ging zu der Karpowna, ohne mir auch nur eie Wort zu sagen, als hätte ich sie beleidigt. Etwas später hörte ich sie mit dem Tone eines bitteren Vorwurfs sagen:
»Kinderfrau, wozu habe ich bis jetzt gelebt? Wozu? Sage mir, habe ich nicht selbst meine Juqend verdorben? In den schönsten Jahren meines Lebens habe ich nichts anderes getan, als Ausgaben aufgeschrieben, Tee eingeschenkt, die Kopeken gezählt, Gäste unterhalten, und das alles hielt ich für das Höchste in der Welt! Kinderfrau, begreife doch, auch ich habe menschliche Bedürfnisse, auch ich möchte Leben, sie haben aber eine Schlüsselbewahrerin aus mir gemacht. Es ist entsetzlich, entsetzlich!«
Und sie schleuderte ihre Schlüssel gegen die Tür, daß sie klirrend in mein Zimmer flogen. Es waren die Schlüssel vom Büfett, vom Küchenschrank, vom Keller und vom Teekasten, die gleichen Schlüssel, die einst meine Mutter stets bei sich getragen hatte.
»Ach du lieber Gott!« entsetzte sich die Alte. »Heilige Märtyrer!«
Vor dem Weggehen kam meine Schwester zu mir ins Zimmer, um die Schlüssel aufzulesen, und sagte mir:
»Entschuldige mich, bitte. Mit mir geht in der letzten Zeit etwas Seltsames vor.«
VIII