Die bekanntesten Werke von Tschechow. Anton Pawlowitsch Tschechow
nicht mehr zu den Dolschikows. Am späten Abend, als es sehr dunkel war und in Strömen regnete, ging ich durch die Große Adelsstraße und sah zu den Fenstern hinauf. Bei den Aschogins schlief man schon, und nur eines der äußersten Fenster war noch erleuchtet; die alte Frau Aschogina stickte wohl noch beim Scheine dreier Kerzen und bildete sich ein, mit den Vorurteilen zu kämpfen. Im Hause meines Vaters war alles dunkel, und bei den Dolschikows gegenüber brannte Licht, aber die Blumen und die Vorhänge an den Fenstern ließen nicht hineinsehen. Ich ging im kalten Märzregen immer auf und ab. Ich sah meinen Vater aus dem Klub heimkommen; er klopfte ans Tor, und nach einer Weile erschien in einem der Fenster Licht, und ich sah meine Schwester, die mit der Lampe öffnen ging und im Gehen mit der einen Hand ihr reiches Haar in Ordnung brachte. Mein Vater ging dann im Wohnzimmer auf und ab, erzählte etwas und rieb sich die Hände, meine Schwester saß aber unbeweglich in einem Sessel und schien an etwas zu denken, ohne ihm zuzuhören.
Nun gingen sie schlafen, und das Licht erlosch ... Ich blickte mich nach dem Hause des Ingenieurs um, – auch hier war schon alles dunkel. Im Finstern, vom Regen durchnäßt, fühlte ich mich auf einmal hoffnungslos einsam und verlassen, fühlte, wie nichtig und kleinlich alle meine Sorgen, Wünsche, Gedanken und Worte im Vergleich zu dieser Einsamkeit waren, im Vergleich zu diesem echten Schmerz und den Qualen, die mir noch bevorstanden. Alles, was die lebenden Wesen tun und denken, ist leider lange nicht so bedeutend wie das, was sie leiden. Ohne mir über mein Tun Rechenschaft abzulegen, zog ich aus aller Kraft an der Hausklingel des Ingenieurs, riß den Draht ab und rannte wie ein Schuljunge davon, von der Angst getrieben, daß jemand herauskommen und mich erkennen würde. Als ich am Ende der Straße stehenblieb, um mich zu verschnaufen, hörte ich nur den Regen rauschen, und irgendwo in der Ferne den Nachtwächter auf sein Eisenbrett hämmern.
Eine ganze Woche ging ich nicht zu den Dolschikows. Mein Trikotanzug war schon verkauft. Malerarbeit gab's nicht mehr, ich hungerte wieder und verdiente mir zehn bis zwanzig Kopeken am Tage durch schwere unangenehme Gelegenheitsarbeit. Bis zu den Knien im kalten Schmutz watend, alle meine Kräfte anspannend, wollte ich die Erinnerung niederringen und rächte mich gleichsam für alle die Käse und Konserven, die ich beim Ingenieur genossen hatte; aber sobald ich mich ins Bett legte, fing meine sündige Phantasie an, nur herrliche, verführerische Bilder zu malen, und ich gestand mir mit Erstaunen, daß ich liebte, leidenschaftlich liebte. Ich versank dann in einen festen und gesunden Schlaf, und es war mir, als ob die schwere Arbeit meinen Körper kräftiger und jünger machte.
Eines Abends fing es unnötigerweise zu schneien an, und vom Norden her blies es, als ob der Winter wiederkommen wollte. Als ich ab diesem Abend von meiner Arbeit heimkehrte, traf ich in meinem Zimmer Maria Viktorowna. Sie saß im Pelzmantel, beide Hände im Muff.
»Warum kommen Sie nicht mehr zu mir?« fragte sie und richtete ihre klugen, hellen Augen auf mich. Ich aber war ganz wirr vor Freude und stand vor ihr stramm wie vor meinem Vater, wenn er mich schlagen wollte; sie sah mir ins Gesicht, und ich konnte in ihren Augen lesen, daß ihr der Grund meiner Verwirrung klar war.
»Warum kommen Sie nicht mehr zu mir?« fragte sie wieder. »Da Sie nicht kommen wollen, so bin ich selbst gekommen.«
Sie stand auf und trat ganz dicht an mich heran.
»Verlassen Sie mich nicht,« sagte sie, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ich bin einsam, ganz einsam.«
Sie fing zu weinen an und sagte, das Gesicht im Muff verbergend:
»Ganz einsam! Mein Leben ist schwer, furchtbar schwer, und ich habe auf der ganzen Welt niemand außer Ihnen. Verlassen Sie mich nicht!«
Sie suchte ihr Taschentuch, um die Tränen zu trocknen, und lächelte; eine Weile schwiegen wir; dann umarmte und küßte ich sie, wobei ich mir die Wange an der Nadel blutig ritzte, mit der ihre Pelzmütze befestigt war.
Und wir sprachen dann so miteinander, als ob wir uns schon lange nahe stünden.
X
Nach zwei Tagen schickte sie mich nach Dubetschnja, und ich war unsagbar froh darüber. Als ich zum Bahnhof ging und dann in der Eisenbahn saß, lachte ich ohne jeden Grund, und die Leute schauten mich an wie eine Betrunkenen. Es schneite noch und es gab auch noch Morgenfröste, aber die Straßen waren schon dunkel und über ihnen flogen krächzend die Krähen.
Anfangs wollte ich für uns eine Wohnung im Seitenflügel einrichten, dem Flügel der Frau Tscheprakowa gegenüber; es zeigte sich aber, daß darin seit langer Zeit Tauben und Enten nisteten, so daß es unmöglich war, ihn zu säubern, ohne eine Menge Nester zu zerstören. Ob wir wollten oder nicht, wir mußten uns in den ungemütlichen Zimmern des Hauptgebäudes mit den Jalousien einrichten. Die Bauern nannten dieses Haus ein Palais; es waren über zwanzig Zimmer darin, an Möbeln gab es aber nur das Klavier und einen Kinderstuhl, der auf dem Dachboden lag; wenn Mascha sogar alle ihre Möbel aus der Stadt hergebracht hätte, wäre es uns doch nicht gelungen, diesen kalten und unfreundlichen Eindruck zu beseitigen. Ich wählte drei kleinere Zimmer mit den Fenstern auf den Garten und arbeitete vom frühen Morgen bis spät in die Nacht hinein an ihrer Herrichtung: ich setzte neue Scheiben ein, tapezierte die Wände und flickte die Ritzen und Löcher im Fußboden. Es war eine leichte und angenehme Arbeit. Jeden Augenblick lief ich an den Fluß, um zu sehen, ob der Eisgang noch nicht angefangen hätte, und es kam mir immer vor, als wenn die Stare schon da wären. Nachts dachte ich aber mit einem unsagbar süßen Gefühl, mit einer Freude, die mir den Atem benahm, an Mascha und lauschte dem Getue der Ratten und dem Heulen des Windes; es klang so, als ob auf dem Dachboden der alte Hausgeist hustete.
Der Schnee lag tief; Ende März war noch sehr viel Schnee gefallen, aber er taute unheimlich schnell wie auf den Wink eines Zauberers. Die Frühjahrsgewässer rauschten wild vorüber, und Ende April lärmten schon die Stare und flatterten gelbe Schmetterlinge. Das Wetter war herrlich. Jeden Tag ging ich Mascha entgegen, und es war mir ein Hochgenuß, barfuß auf den trocknenden, noch weichen Boden zu treten. Auf halbem Wege setzte ich mich und sah zur Stadt hinüber; ich konnte mich nie entschließen, ganz nahe heranzukommen. Ihr Anblick machte mich verlegen. Ich fragte mich immer: was werden meine Bekannten zu meiner Liebe sagen? Was wird mein Vater sagen? Besonders verlegen machte mich der Gedanke, daß mein Leben nun kompliziert wurde, daß ich die Fähigkeit, es selbst zu leiten, verlor, und daß es mich wie ein Luftballon Gott weiß wohin entführte. Ich dachte nicht mehr daran, wie ich mir meinen Unterhalt verdienen könnte, wie ich leben sollte; woran ich dachte, das weiß ich nicht mehr.
Mascha kam im Wagen gefahren; ich setzte mich zu ihr, und wir fuhren zusammen froh und frei nach Dubetschnja. Manchmal wartete ich auch bis zum Sonnenuntergang und kehrte unzufrieden, mißgestimmt zurück, weil Mascha nicht gekommen war; vor dem Tore des Gutes oder im Garten erwartete mich aber ein liebes Gesicht – es war Mascha! Und es stellte sich heraus, daß sie diesmal mit der Bahn gekommen und von der Station zu Fuß gegangen war. Diese Freude! In einem ganz einfachen Wollkleide, im Kopftuch, mit einem ganz bescheidenen Sonnenschirm, doch geschnürt, elegant, in teuren ausländischen Stiefelchen, erschien sie mir als eine begabte Schauspielerin, die eine bescheidene Kleinbürgerin spielte. Wir besahen uns unsere Wirtschaft und bestimmten, wie wir die Zimmer einteilen, wo nur Alleen, den Gemüsegarten und die Imkerei anlegen werden. Wir hatten schon eigene Hühner, Enten und Gänse, die wir liebten, weil sie uns gehörten. Wir hatten auch Hafer, Klee, Wiesengras, Buchweizen und Gemüsesamen für die Saat bereit und berechneten ausführlich, wie groß der Ertrag sein konnte, und alles, was Mascha mir sagte, erschien mir ungemein klug und schön. Es war die glücklichste, Zeit meines Lebens.
Bald nach Ostern ließen wir uns in der Dorfkirche von Kurilowka, drei Werst von Duberschnja trauen. Mascha wollte alles möglichst einfach haben; auf ihren Wunsch hatten wir als Brautführer Bauernburschen genommen, bei der Trauung sang nur der Küster, und aus der Kirche fuhren wir in einem kleinen holprigen Landwagen, den sie selbst kutschierte. Aus der Stadt war nur meine Schwester Kleopatra gekommen, der Mascha drei Tage vor der Hochzeit eine Einladung geschickt hatte. Meine Schwester hatte ein weißes Kleid und Handschuhe an. Während der Trauung weinte sie leise vor Rührung und Freude, und