Die bekanntesten Werke von Tschechow. Anton Pawlowitsch Tschechow
wäre. Gleich darauf ertönte ein Kanonenschuß. Er rollte durch die Dunkelheit und erstarb irgendwo weit hinter meinem Rücken. Der Bauer zog den Hut und bekreuzigte sich.
»Christ ist erstanden!« sagte er.
Die Schwingungen des ersten Glockenschlages waren noch nicht erstorben, als schon ein zweiter, dann ein dritter ertönte und die Dunkelheit sich mit einem ununterbrochenen zitternden Dröhnen füllte. Neben den roten Feuern leuchteten andere Feuer auf, und alle gerieten in eine unruhige Bewegung.
»Jeron–i–im!« ertönte ein dumpfer, gedehnter Schrei.
»Da schreit wer vom anderen Ufer,« sagte der Bauer. »Also ist die Fähre auch nicht drüben. Unser Jeronim ist eingeschlafen.«
Die Feuer und das samtweiche Glockengeläute lockten hinüber. Ich fing schon an, die Geduld zu verlieren und unruhig zu werden, als in der dunklen Ferne etwas wie die Silhouette eines Galgens auftauchte. Es war die längst ersehnte Fähre. Sie bewegte sich so langsam, daß, wenn ihre Umrisse nicht immer deutlicher hervorträten, man annehmen könnte, sie stehe auf einem Feld oder fahre ans andre Ufer.
»Schneller! Jeronim!« schrie mein Bauer. »Der Herr wartet!«
Die Fähre kam langsam ans Ufer, schwankte und blieb knarrend stehen. Auf ihr stand, sich am Seil festhaltend, ein großgewachsener Mensch in einer Mönchskutte, mit einem konischen Käppchen auf dem Kopfe.
»Warum so lange?« fragte ich, auf die Fähre springend.
»Verzeihen Sie, um Christi willen,« antwortete Jeronim leise. »Ist sonst niemand da?«
»Nein, niemand...«
Jeronim ergriff mit beiden Händen das Seil, krümmte sich zu einem Fragezeichen und hüstelte. Die Fähre knarrte und schwankte. Die Silhouette des Bauern im hohen Hut fing an, sich von mir langsam zu entfernen – die Fähre war also in Bewegung, Jeronim richtete sich bald auf und fing an, mit nur einer Hand zu arbeiten. Wir schwiegen und sahen aufs Ufer, zu dem wir fuhren. Dort begann schon die Illumination, auf die der Bauer wartete. Dicht am Wasser loderten Pechfässer. Ihre Spiegelungen, trübrot, wie der aufgehende Mond, glitten als lange breite Streifen uns entgegen. Die brennenden Fässer beleuchteten ihren eigenen Rauch und die langen Menschenschatten, die sich um das Feuer bewegten; aber seitwärts und hinter ihnen, von wo das samtweiche Läuten tönte, war noch immer die gleiche schwarze Finsternis. Plötzlich flog, die Finsternis durchschneidend, als goldenes Band eine Rakete empor; sie beschrieb einen Bogen, zerschellte gleichsam am Himmel und zerstob knatternd zu Funken. Vom Ufer her tönte ein dumpfer Lärm, der wie ein fernes Hurrageschrei klang.
»Wie schön!« sagte ich.
»Es läßt sich gar nicht sagen, wie schön es ist!« sagte Jeronim und seufzte. »Diese Nacht, Herr! Zu einer anderen Zeit achtet man gar nicht auf so eine Rakete, heute freut man sich aber über jede Dummheit. Woher sind Sie, Herr?«
Ich sagte es ihm.
»So, so... ein freudiger Tag ist heute...« fuhr Jeronim mit schwacher, seufzender Tenorstimme fort, mit der genesende Kranke zu sprechen pflegen. »Himmel und Erde und die Unterwelt freuen sich. Die ganze Kreatur jubelt. Sagen Sie mir nur, lieber Herr: warum kann der Mensch auch bei großer Freude seinen Schmerz nicht vergessen?«
Ich glaubte, daß er mich mit dieser unerwarteten Frage zu einem der unendlichen, frommen Gespräche herausforderte, die die müßigen und sich langweilenden Mönche so lieben. Ich war nicht in der Stimmung, um viel zu sprechen, und fragte bloß:
»Was haben Sie denn für Schmerzen, Bruder?«
»Gewöhnliche Schmerzen, wie alle Menschen, Euer Wohlgeboren, lieber Herr, aber heute haben wir im Kloster einen besonderen Schmerz gehabt: während der Messe mitten in der Bibelvorlesung ist der Hierodiakon Nikolai gestorben...«
»Nun, es ist Gottes Wille!« sagte ich, indem ich mich bemühte, mich dem mönchischen Ton anzupassen. »Alle müssen sterben. Ich meine, Sie müßten sich sogar freuen ... Man sagt doch, daß einer, der vor Ostern oder am Ostertage gestorben ist, ganz sicher ins Himmelreich kommt.«
»Das stimmt.«
Wir verstummten. Die Silhouette des Bauern im hohen Hut hatte sich in den Umrissen des Ufers aufgelöst. Die Pechfässer loderten immer stärker.
»Auch die Schrift und die Überlegung weisen auf die Nichtigkeit der Trauer hin,« unterbrach Jeronim das Schweigen. »Warum trauert aber die Seele und will auf die Vernunft nicht hören? Warum möchte man bitter weinen?«
Jeronim zuckte die Achseln, wandte sich zu mir um und sagte schnell:
»Wenn ich, oder wer anderes stirbt, so wird man es vielleicht gar nicht merken; aber es ist Nikolai! Niemand anderes als Nikolai! Es ist sogar schwer zu glauben, daß er nicht mehr auf der Welt ist! Ich stehe hier auf der Fähre, und es ist mir immer, als würde ich gleich seine Stimme vom anderen Ufer hören. Damit ich mich allein auf der Fähre nicht fürchte, pflegte er immer ans Ufer zu kommen und mich zu rufen. Dazu stand er eigens vom Bette auf. Die gute Seele! Mein Gott, was für eine gute und barmherzige Seele! Manche Mutter ist nicht so, wie dieser Nikolai zu mir war! Herr, rette seine Seele!«
Jeronim ergriff das Seil, wandte sich aber gleich wieder zu mir um.
»Euer Wohlgeboren, und was für ein heller Geist!« sagte er mit singender Stimme. »Was für eine wohltönende und süße Sprache! So süß, wie man jetzt gleich bei der Ostermesse singen wird: ›Oh, deine freundliche und süße Stimme!‹ Außer allen anderen menschlichen Eigenschaften hatte er auch noch eine ungewöhnliche Gabe!« »Was für eine Gabe?« fragte ich.
Der Mönch sah mich an, als wollte er sich überzeugen, ob man mir ein Geheimnis anvertrauen dürfe, und lachte lustig auf.
»Er hatte die Gabe, Akathiste Siehe Anmerkung Seite 130. zu schreiben ... « sagte er. »Ein wahres Wunder, lieber Herr! Sie werden staunen, wenn ich es Ihnen erkläre! Unser Archimandrit stammt aus Moskau, der Vikar hat die Kasaner Geistliche Akademie absolviert, wir haben manchen klugen Hieromonachen und Starez, doch es ist keiner darunter, der zu schreiben verstünde. Aber Nikolai, der einfache Mönch und Hierodiakon, der nirgends studiert hat und dem man es gar nicht ansah, verstand zu schreiben! Ein Wunder! Ein wahres Wunder!«
Jeronim schlug die Hände zusammen und fuhr begeistert fort, ohne sich mehr um das Seil zu kümmern:
»Der Vikar hat große Schwierigkeiten, wenn er eine Predigt verfassen soll; als er die Geschichte des Klosters schrieb, hat er die ganze Bruderschaft müde gehetzt und ist selbst an die zehnmal in die Stadt gefahren. Nikolai schrieb aber Akathiste! Akathiste! Das ist doch etwas ganz anderes als eine Predigt oder eine Geschichte!«
»Ist es denn schwer, Akathiste zu schreiben?« fragte ich.
»Sehr schwer ...« antwortete Jeronim und schüttelte den Kopf. »Hier kann man mit Heiligkeit und Weisheit nichts ausrichten, wenn Gott einem die Gabe versagt hat. Mönche, die es nicht verstehen, meinen, man brauche dabei nur gut das Leben des Heiligen zu kennen, dem der Akathistos gewidmet ist, und sich nach den anderen Akathisten zu richten. Aber das ist falsch, Herr. Wer einen Akathistos schreibt, muß allerdings das Leben des Heiligen sehr genau mit allen Einzelheiten kennen. Er muß sich auch nach den anderen Akathisten richten: wie sie anfangen und wie sie geschrieben sind. Beispielsweise beginnt der erste Abschnitt immer mit dem Worte ›Erwählt‹ oder ›Auserwählt‹ ... Der erste Lobgesang beginnt immer mit einem ›Engel‹. Der Akathistos an den süßesten Jesus beginnt, wenn es Sie interessiert, so: ›Der Engel Schöpfer und der Heerscharen Herr‹; der Akathistos an die Allerheiligste Muttergottes: ›Der Engel ward vom Himmel gesandt‹; an Nikolai den Wundertäter: ›Engel an Gestalt und irdisch als Geschöpf‹ usw. Immer fängt es mit dem Engel an. Natürlich muß man sich danach richten, das Wichtigste ist aber nicht die Lebensgeschichte des Heiligen und nicht die Übereinstimmung mit den anderen, sondern die Schönheit und Süße. Alles muß glatt, kurz und ausführlich sein. In jeder Zeile muß eine Zartheit, Freundlichkeit und Milde liegen, es darf kein einziges hartes, rohes oder unpassendes Wort vorkommen. Man muß es so schreiben, daß der Betende in seinem Herzen frohlocke und meine, daß sein Geist